Titelblatt von ›System der Wissenschaft‹
Das Buch
Schwierigkeiten, Anliegen und Entstehung
Der aus Rußland stammende französische Philosoph Alexandre Kojève (1902 - 68) war der festen Überzeugung, daß in Jena, der Stadt, in der die Phänomenologie des Geistes abgefaßt wurde, das Ende der Geschichte begonnen habe. Mit dem Ende der Geschichte war für Kojève auch die menschliche Rede zu Ende. So soll er, einigermaßen glaubhaft überliefert, nach einer Vorlesung auf Hegels Phänomenologie gedeutet und seinen Studenten beteuert haben, hier stünde alles drinnen, mehr gäbe es nicht zu sagen. Daraufhin zog er sich von seiner Vorlesungstätigkeit zurück und schwieg.
Die Schwierigkeiten
Eine ganz andere Erfahrung mit Hegel machte 130 Jahre früher der Baron Boris d'Uxkull aus Estland, ein Garderittmeister im Dienste Rußlands. Dieser kam 1817 nach Heidelberg, um von dem berühmten Hegel eine etwas »tiefere Erfrischung seines Geistes« zu erhoffen, wie uns der Hegel-Biograph Karl Rosenkranz berichtet. Der bildungshungrige Baron ging zum nächsten Buchhändler und kaufte sich Hegels bislang veröffentlichte Schriften. Am Abend setzte er sich bequem in eine Sofaecke, schlug das erste Buch auf und wollte es »durchlesen«. Ob es wirklich diese Stelle war oder eine andere, ist uninteressant. Auf jeden Fall las er Sätze von diesem Kaliber:
Die lebendige Substanz ist ferner das Sein, welches in Wahrheit Subjekt oder, was dasselbe heißt, welches in Wahrheit wirklich ist, nur insofern sie die Bewegung des Sichselbstsetzens oder die Vermittlung des Sichanderswerdens mit sich selbst ist. Sie ist als Subjekt die reine einfache Negativität, eben dadurch die Entzweiung des Einfachen; oder die entgegengesetzte Verdopplung …
Seufzend gab er zu: »Allein je mehr ich las, und je aufmerksamer ich beim Lesen zu werden mich bemühete, je weniger verstand ich das Gelesene, so daß ich, nachdem ich mich ein paar Stunden mit einem Satze abgequält hatte, ohne etwas davon verstehen zu können, das Buch verstimmt weglegte …« Der unglückliche Boris d'Uxkull, der in seiner Ehrlichkeit zugab, auch seine Heft-Nachschriften mit den Hegel-Vorlesungen nicht verstanden zu haben, bekommt vom Meister ein paar Hilfestellungen und darf ihn später auf einigen Spaziergängen begleiten.
Da der Leser nicht mehr das Glück hat, von Hegel begleitet zu werden, wird diese Aufgabe unser ›Hegel für Anfänger‹ übernehmen. Unser Ausflug wird sicher nicht so gefährlich werden wie die Irrfahrt des Odysseus (D. Fr. Strauß), aber es kann uns in der Tat ebenso ergehen wie dem armen Baron d'Uxkull. Wenn schon ein Hegel-Kenner wie H. Althaus warnt, daß der Versuch einer Interpretation uns sehr bald auflaufen läßt wie ein Schiff auf felsiger Klippe, sollte uns das zwar nicht abschrecken, aber doch nachdenklich stimmen. Das Wagnis Geist einzugehen, ist ein schön klingender Satz, der einem recht schnell verleidet wird.
Nehmen wir »Vorrede« und »Einleitung«. Normalerweise helfen Einleitungen, ein Buch zu verstehen. Hegels Einleitungen in die Phänomenologie sind indes so komprimiert, daß bereits sie abschreckend sind. So grotesk es klingt, aber es ist einfacher, erst das Ganze zu lesen, um die beiden Einleitungen verstehen zu können.
Mancher Dozent preist sich glücklich, in einem Semester die »Vorrede« abhandeln zu können. Meist bleiben die Seminare darin stecken oder begnügen sich mit der kürzeren Einleitung. Was aber ist mit den 500 Seiten, die darauf erst folgen?
So zieht die Phänomenologie entlegen ihre Straße (Bloch), und es wird auf der Wanderung oft dunkel werden.
Deshalb begleiten wir den Leser und begeben uns mit ihm auf die entlegene Straße.
Das Anliegen
Phänomenologie des Geistes, so ist zu lesen, ist die »Darstellung des erscheinenden Wissens«. Der Autor muß gestehen, daß er als Student bei dem erstmaligen Hören dieses Stichwortes weniger an Hegels Buch gedacht hat, als vielmehr an den kleinen Fritz, der vor den strengen Augen des Lehrers an der Tafel steht und mit zitternder Kreide die Rechenaufgabe zu lösen versucht. Und trotzdem ist der Unterschied zwischen Fritzchen und Hegel gar nicht so groß: So wie Fritz sein Wissen erscheinen lassen und den Augen und Ohren des Lehrers darstellen will, versucht Hegel das Wissen von dem, was allem zu Grunde liegt, in die sichtbare Erscheinung zu überführen und darzustellen.
Den letzten Halbsatz wollen wir umformulieren, um den Gedanken voranzutreiben: Das Wesen der Dinge, die uns bekannt sind, ist ja nicht nur in den Dingen verschlossen, sondern hat eine Erscheinung, einen Schein. Wir sollten uns ab jetzt daran gewöhnen, das Wort Schein ohne jeden negativen Beigeschmack wahrzunehmen!
Einer, der ehrlicherweise zugegeben hatte, Hegels Phänomenologie nie verstanden zu haben, hat doch von dem Anliegen etwas gespürt, das der ganzen Philosophie zu eigen ist, wenn er schreibt:
Der Schein, was ist er, dem das Wesen fehlt?
Das Wesen, wär’ es, wenn es nicht erschiene?
Der Mann, der Hegel nie verstanden hatte, aber diese Zeilen schreiben konnte, war Goethe.
Wesen und Schein sind nicht nur Begriffe der Philosophie. Der Alltag ist voll von der Wechselwirkung beider. Beispiel: Güte, Nachsicht, Sorge und Strenge können als Wesen einer Mutter erscheinen. Auch das Wesen der Liebe hat mancherlei Erscheinungen: es kann als Vertrauen, Gefühlsrausch, Zuneigung, Zärtlichkeit oder Begierde erscheinen, wobei jeder für sich prüfen kann, ob die Erscheinung, ob der Schein dem Wesen mehr oder weniger entspricht.
Den Grundgedanken dieser Beispiele können wir ausweiten.
Nicht nur dem Sein als Mutter oder dem Sein der Liebe liegt ein Wesen zu Grunde, sondern auch dem gesamten Sein, und vor allem dem Wissen davon.
Alles Sein hat ein Wesen, und wir können nur von ihm wissen, wenn wir den Schein, die Erscheinung des Wesens betrachten.
Dies macht Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes: Das Buch untersucht das Wissen vom Wesen der Dinge. Zuerst erscheint es als sinnliches Wissen, dann als Wahrnehmung, dann als Verstand bis hin zur Vernunft. – In einem zweiten Teil werden die Erscheinungen der Vernunft untersucht, die sich zum Geist aufschwingt, bis das Wissen zu seinem Ziel kommt: dem absoluten Wissen. Aber das Ziel liegt noch weit.
Die Entstehung
Die vielen Spekulationen über die Entstehungsgeschichte der Phänomenologie sind interessant, aber widersprüchlich. Fangen wir mit den Tatsachen an.
Fest steht, daß Hegel im Mai 1805 zum ersten Mal erwähnt, daß er an einer Phänomenologie des Geistes schreibt. Zu dieser Zeit, der große Kant ist gerade ein Jahr tot, ist er Professor in Jena. Im Februar 1806 wird ein Teil zu seinem Verleger nach Bamberg geschickt, der Verfasser möchte eine Abschlagszahlung. In der Nacht zum 14. Oktober 1806 schreibt er die letzten Seiten. Daß dies unter dem Kanonendonner der Schlacht von Jena und Auerstedt vonstatten geht, ist erwiesen. Allerdings fehlt die ca. 50-seitige »Vorrede«. Sie wird später geschrieben und wird eine Einführung in die Gesamtphilosophie Hegels werden.
Schließlich erscheint die Phänomenologie im Handel (mit Vorrede), es ist Frühjahr 1807. In dieser Zeit spekuliert er mit einer 2. Auflage, da er selbst dem Werk letzte Klarheit abspricht. In einem Brief drückt er den Wunsch aus, »das Schiff hier und da noch vom Ballaste säubern und flotter machen zu können«.
Jetzt beginnen die Rätsel. Noch Mitte 1829 hält er eine Umarbeitung für geboten, dagegen meint er im Herbst 1831, seine »frühe Arbeit« sei nicht umzuarbeiten. Trotzdem geht er zwei Wochen vor seinem Tod noch zum Berliner Buchhändler Duncker, um einen Vertrag über eine Neuausgabe abzuschließen (Althaus).
Es gibt weitere Rätsel: Ohne seine Phänomenologie je zu verleugnen, legt er sie in Heidelberg und Berlin nie seinen Vorlesungen zugrunde, obwohl sie – nach David Friedrich Strauß – das A und O der Hegelschen Werke ist. Auch verwegene Theorien sind zu lesen: Hegel habe seit der Enzyklopädie die Phänomenologie des Geistes als »unhaltbares Werk aufgeben müssen.« So einer seiner ersten Schüler, C.F. Bachmann.
Ein weiteres Rätsel gibt das...