VORWORT
EINE KULTUR DES HELFENS
Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.
Denn das allein unterscheidet ihn von allen Wesen, die wir kennen.
Johann Wolfgang von Goethe
Deutschland im Sommer 2015: Das Land war plötzlich nicht mehr wiederzuerkennen. Als die Flüchtlinge zu Hunderttausenden ins Land kamen, waren sie plötzlich da, die hilfreichen Menschen. An Bahnhöfen streiften sich Studenten gelbe Warnwesten über, um völlig entkräftete Menschen aufzulesen und zu Sammelplätzen zu geleiten. Passanten brachten spontan Lebensmittel oder kauften auf Bitten der Helfer dringend benötigte Windeln in einem nahen Supermarkt. Schulen im ganzen Land sammelten Kleider und Kinderspielzeug, Betriebe und Vereine organisierten Unterstützung. In Turnhallen, Theatern und schließlich sogar in Jugendherbergen fanden die Gestrandeten Zuflucht, während überall eilig Wohncontainer und Zelte aufgebaut wurden, um den Menschen zumindest ein provisorisches Dach über dem Kopf bieten zu können. Unerwartet viele Deutsche demonstrierten, dass sie helfen wollten und helfen konnten. Deutschland schien in diesen Tagen ein anderes, ein neues Gesicht zu zeigen – die »Willkommenskultur« war geboren und wurde zu einem neuen, festen Begriff in der politischen Kultur.
Hatte sich Deutschland verändert? Als die Flüchtlinge in immer größerer Zahl kamen, machten auch fremdenfeindliche Zwischenfälle und Demonstrationen Schlagzeilen. Geplante und sogar bereits genutzte Unterkünfte für Flüchtlinge wurden angezündet, manchmal entkamen Menschen nur mit knapper Not dem Tod. Tausende selbsternannte »Retter« eines imaginären »Abendlandes« zogen abends durch deutsche Städte und agitierten gegen die Zuwanderer und die Politik der Bundesregierung. Ihre Wortwahl und ihre Methoden waren abschreckend, der symbolische Galgen für den SPD-Vorsitzenden und Vizekanzler Sigmar Gabriel ist bis heute unvergessen. Unterdessen erreichte die Zahl rechtsextremistischer Straftaten einen neuen Höhepunkt. Das war die hässliche Seite des Jahres 2015, die auch das Gegenteil der Willkommenskultur offenbarte.
Aber die Veränderungen, die durch die kollektive Hilfsbereitschaft vorangetrieben worden waren, ließen sich nicht mehr rückgängig machen. Innerhalb kurzer Zeit hatten sich, zumeist ohne festen organisatorischen Charakter und zuweilen nur vorübergehend, lokale Hilfsstrukturen gebildet, die zusammengenommen die Grundlage für eine neue Kultur des Helfens bildeten. Alle Beteiligten machten damals eine neue Erfahrung: Zu Helfern gewordene »normale« Menschen lernten Tag für Tag, dass sie Not rasch lindern konnten und dass sie manchmal sogar schneller, konkreter und effektiver helfen konnten als der Staat. Und die etablierten Strukturen des Sozialstaates nahmen ebenso wie die großen Hilfsorganisationen dieses unerwartete zivilgesellschaftliche Angebot des Zupackens nach anfänglicher Irritation gern an, nicht zuletzt weil die staatlichen Stellen vom Ausmaß der Herausforderung erstaunlich rasch überfordert wurden.
Gemeinsam versuchten fortan professionelle und ehrenamtliche Helfer, auch unkonventionelle Wege zu gehen – oft mit Erfolg. Das machte wiederum Mut, sich auch weiterhin für die Gestrandeten zu engagieren. Es ging hierbei nicht um abstrakte Flüchtlingspolitik, über die man schon im Sommer 2015, mehr noch aber dann in der Folgezeit, heftig stritt. Vielmehr wurde abseits politischer oder ideologischer Debatten schlicht praktisch geholfen. Und dies in einem ganz essenziellen Maß: Kinder mussten erst einmal Nahrung und Kleidung erhalten, Familien brauchten für den Herbst und den Winter wenigstens eine vorläufige Bleibe. Es war ein Helfen in einem ganz ursprünglichen Sinn gefordert: Hilfe zum Überleben. Das war eine neue Herausforderung für die Deutschen, die sich in dieser Situation großzügig mit ihrer Hilfsbereitschaft zeigten.
Der Impuls zum Helfen wurde auch nicht dadurch geschmälert, dass man die engagierten Zeitgenossen zuweilen belächelte oder sie gar als »Gutmenschen« bezeichnete, was ausdrücklich als Kritik an ihrem Engagement und ihren Motiven gemeint war. Eine große Tageszeitung schrieb sogar von einem »Helfersyndrom im Endstadium«, an dem die Menschen in diesem Land angeblich litten. Auch das sollte die aktuell geleistete Hilfe als etwas potenziell Pathologisches denunzieren. Dazu passte auch, dass das Nachrichtenmagazin Der Spiegel im September 2015 die Bundeskanzlerin, verfremdet als die einst bei den Ärmsten in Kalkutta tätige Ordensschwester Mutter Teresa, als »Mutter Angela« aufs Titelbild hob. Auch das war keineswegs als Auszeichnung zu verstehen: Angela Merkel, so die Vermutung sogar im Kreis ihrer eigenen Partei, sei vor lauter Barmherzigkeit der Sinn für die Realität abhandengekommen. Ist die Kanzlerin also ein guter, aber reichlich naiver Mensch?
Solcher Spott über die Regierungschefin lenkt zugleich den Blick auf eine Dimension des Helfens, die in den tagespolitischen Auseinandersetzungen vergessen wird: So wie Mutter Teresa für Millionen immer noch eine Ikone der christlichen Nächstenliebe ist, so gibt es auch andere Vorbilder des Helfens, die wir nicht nur kennen, sondern die noch immer eine hohe Wertschätzung als moralische Vorbilder genießen. Allen voran der barmherzige Samariter aus dem Neuen Testament, aber auch Persönlichkeiten wie Florence Nightingale oder Friedrich von Bodelschwingh, Albert Schweitzer, Karlheinz Böhm oder der 2016 verstorbene Rupert Neudeck, dessen Einsatz zur Rettung von Bootsflüchtlingen plötzlich wieder so aktuell wurde. Prominente Helfer waren und sind unverzichtbar für die kulturelle Prägung unseres Landes, weil sie in besonderem Maß für eine – vermeintliche – Selbstverständlichkeit stehen: Wenn ein Mensch in Not gerät, wird ihm ein anderer zu Hilfe eilen. Wir gehen unausgesprochen alle davon aus, dass es eine intakte Kultur des Helfens in unserer Gesellschaft gibt.
Was sind das für Menschen, die anderen zu Hilfe eilen? Sicher, das sind zunächst einmal die professionellen Retter in der Not: Feuerwehrleute und Rettungssanitäter, Katastrophenschützer und Notfallseelsorger; im Alltag sind es Ärzte und das Pflegepersonal in Krankenhäusern und Altenheimen, von »helfenden Berufen« ist in diesem Zusammenhang die Rede. Warum ergreifen Menschen einen solchen Beruf? Und was treibt die vielen Ehrenamtlichen im Lande an, die bei der Freiwilligen Feuerwehr ihren Dienst tun, bei einer »Tafel« Lebensmittel an bedürftige Mitmenschen ausgeben, eine kirchliche Kleiderkammer organisieren oder nach ihrem Feierabend noch das Radio des örtlichen Krankenhauses betreiben? So höchst unterschiedlich ihre Motive sein mögen, so prägen sie doch alle zusammen, die Hauptamtlichen wie die Ehrenamtlichen, das gesellschaftliche Klima, denn die Kultur des Helfens ist auch ein Gradmesser für den Zustand der Menschlichkeit in einem Land.
Zugleich ist es einsichtig, dass jede Kultur des Helfens ihre eigene Geschichte hat. Zu dieser Geschichte gehört, dass unsere heutige Hilfsbereitschaft auch das Ergebnis früherer Bemühungen und Erfahrungen auf diesem Gebiet ist, aber auch, dass früher anders geholfen wurde als heute. Hilfe für Kranke sah in Zeiten der Pest anders aus als in Zeiten von Ebola. Die Sorge um Verwundete war im Dreißigjährigen Krieg eine andere als in heutigen Kriegen. Im Mittelalter musste selbst der König nach dem Kirchgang einem Bettler ein Almosen geben (lassen) – täte dies heute der Bundespräsident, würde er sich selbst wie den Bettler der Lächerlichkeit preisgeben oder gar hochmütig und herablassend wirken. Es gab früher Menschen, die nicht nur Aussätzige pflegten, sondern sie auch noch demonstrativ in der Öffentlichkeit küssten. Und gleichzeitig gab es immer schon Menschen, die deutlich zögerlicher waren und aus Angst, Scheu, Unfähigkeit oder Egoismus anderen ihre Hilfe versagten.
Auch der Staat trat erst in jüngerer Zeit als Sozialstaat auf; es dauerte lange, bis die Sorge um Arme, Arbeitslose, Kranke und Alte zur Aufgabe der Allgemeinheit erhoben und von ihr finanziert wurde. In Deutschland war die Einführung der Sozialversicherung unter Reichskanzler Otto von Bismarck eine solche Wegmarke. Der Staat übernahm fortan und in wachsendem Maß die Verantwortung als institutioneller Helfer. Lange war dies selbstverständlich, heute nicht mehr: Längst haben die Kritik am modernen Sozialstaat sowie tatsächliche oder vermeintliche finanzielle Zwänge dazu beigetragen, den Staat aus der Helferrolle zurückzudrängen. Auch das wird nicht ohne Folgen für die Kultur des Helfens im Land bleiben.
Eine Geschichte des Helfens kommt nicht umhin, auch die unterlassene Hilfe in den Blick zu nehmen, die der Gesetzgeber heute ausdrücklich unter Strafe gestellt hat. Es gab und gibt immer auch Menschen, die in Notsituationen anderen nicht helfen. Sind das dann immer zwangsläufig Egoisten? Schlechte Menschen? Verfügen sie über eine dissoziale Persönlichkeit, wie Psychologen das nennen und diese der prosozialen Persönlichkeit gegenüberstellen? Oder haben sie möglicherweise einfach nur eine andere Vorstellung von sinnvoller Hilfe als der große Rest der Gesellschaft? Und vergessen wir nicht das katastrophale Versagen aller Hilfesysteme während des »Dritten Reiches«: Ohne nennenswerten Protest wurden Millionen Menschen entrechtet, ausgegrenzt, verfolgt und ermordet. Kaum jemand kam ihnen zu Hilfe. Das Helfen wurde tendenziell zu einem Akt des Widerstandes gegen die Diktatur: Wer den Ausgegrenzten und Verfolgten half, wurde selbst zum politischen Feind erklärt. Auch dies ist ein Kapitel in der Geschichte des Helfens.
Schließlich wird immer auch Kritik und Zweifel am Helfen laut: an bestimmten Formen von Unterstützung und Zuwendung, an den...