PROLOG
Der Riese
Er war schon immer groß in der historischen Inszenierung. So sucht er bei seinem Abgang ein letztes Mal alles zu illuminieren, was er lebenslang anstrebte und, so glaubt er, auch erreichte. Was soll’s da, daß eine satte Mehrheit seiner lieben Deutschen ihn soeben abgewählt hat! Der Große Zapfenstreich des Bonner Wachbataillons beginnt in der Dämmerung des 17. Oktober 1998. Diese martialische Zeremonie kommt nur beim Schein der Fackeln voll zur Wirkung, und an regnerischen Oktobertagen ist es um sechs Uhr abends schon ziemlich dunkel. Dutzende von Fernsehteams stehen bereit, alles in Millionen Wohnstuben zu übertragen: den von Scheinwerfern hell angestrahlten Kaiserdom zu Speyer, die Kompanien der Bundeswehr, die rund zwanzigtausend aus der ganzen Pfalz herbeigeströmten Zuschauer, die Bäume, von denen der Regen tropft, und immer wieder den Riesen im dunklen Mantel hoch auf dem Podium. So will er in Erinnerung bleiben, für alle Zeiten auf die elektronischen Speicher gebannt.
Seit langem dient ihm dieses Monument einer großen Vergangenheit zur Veranschaulichung seines tiefsten Wollens. Während der sechzehn Jahre als Bundeskanzler pflegte er Staatsgäste, die er besonders beeindrucken wollte, hierher zu führen: Mitterrand, Gorbatschow, Boris Jelzin, selbst den Herrscher über China, die kommende Supermacht. Alle waren sie beeindruckt, wenn er sie unter den Klängen der Orgel-Toccata in d-Moll von Johann Sebastian Bach durch das imposante Kirchenschiff und zur größten je im Abendland erbauten Krypta führte, die der gewaltige Salier-Kaiser Konrad II. für sein Geschlecht errichtet hatte.
Auch Margaret Thatcher war im Frühjahr des denkwürdigen Jahres 1989 einer Führung gewürdigt worden. Er hatte sie zu überzeugen versucht, daß er wirklich kein krachlederner Teutone sei, sondern ein »guter Europäer«, ohne jedoch so recht zu begreifen, daß er ihr gerade deshalb besonders zuwider war. War der Kaiserdom zu Speyer nicht ein grandioses Symbol abendländischer Einheit? Erinnerte dieses im Katastrophenjahr 1689 von den Truppen Ludwigs XIV. teilweise zerstörte Monument nicht zugleich an die Jahrhunderte deutsch-französischer Kriege, die dank Adenauers Europapolitik, aber auch seiner eigenen, nun ein für allemal Vergangenheit sein würden? Überlegungen dieser Art hatte er Charles Powell, dem Privatsekretär der Premierministerin, in der Krypta des Doms zugeraunt. Doch als das der Lady beim Rückflug berichtet wurde, hatte sie nur ihre Pumps abgestreift, die Beine auf den Sitz gelegt und spöttisch bemerkt: »Charles, dieser Mann ist soooo deutsch.«1 Derlei Spott von der euroskeptischen Britin ist der Riese aber hinlänglich gewohnt und pflegt darüber mit sarkastischer Ironie hinwegzugehen.
Jedenfalls gewann der Kaiserdom zu Speyer in den beiden letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts, in denen er selbst mit ausladender Kraft regierte, wieder eine politische Symbolik wie zuvor niemals mehr seit den Salier-Kaisern. Ganz natürlich, wenn auch nicht ganz bescheiden nannte er den Dom seine »Hauskirche«, wie das die Majestäten in jenen Jahrhunderten zu tun pflegten, als das Heilige Römische Reich so sichtlich die Zentralmacht Europas gebildet hatte.
Der Riese, der sich hier mit großer Gebärde wie ein scheidender Kaiser verabschiedet, hat bescheiden begonnen. Doch von Anfang an kreisten seine Gedanken und Träume um den Kaiserdom. Die ersten Wanderungen vom heimischen Ludwigshafen zum Speyrer Kaiserdom unternahm er als Kind in Gesellschaft seiner Eltern. Sie waren tüchtige Kleinbürger, nicht mehr, aber auch nicht weniger, gute Katholiken und gute Deutsche, die noch keinen Gegensatz sahen zwischen der Bewunderung für dieses steingewordene Denkmal des Glaubens und dem patriotischen Stolz auf die deutsche Kaiserherrlichkeit. Als dann die Oberrealschule in der Leuschnerstraße wegen der Bombardierungen Ludwighafens geschlossen wird, fährt der junge Riese jeden Mittag mit den Klassenkameraden und den Lehrern per Bahn nach Speyer ins Gymnasium am Dom, wo nun der Unterricht erteilt wird, wenn er nicht wegen der Luftangriffe ausfällt, was häufig geschieht.
Das war im Jahr 1944, als das Dritte Reich vom Zenit seiner Erfolge rasch in den Abgrund taumelte. Schule und Hitlerjugend sind damals noch gehalten, das Werk der Ottonen, der Staufer-Kaiser und des rheinischen Geschlechts der Salier zu preisen. Der Führer, so lautete die Botschaft, ist weiterhin auf dem Weg, in die Fußspuren der deutschen Kaiser zu treten, »denn heute gehört uns Deutschland und morgen die ganze Welt«.2 Die Salier als ferne Vorläufer des »Tausendjährigen Reiches«, der Kaiserdom zu Speyer als Chiffre imperialer Größe – diese Vorstellung ist ihm nicht unvertraut. Ob auch er selbst daran geglaubt hat, verschließt er tief in seinem Herzen. Er ist eben noch ein Kind, ein Kriegskind aus der Stadt Ludwigshafen, auf die bis Kriegsende bei 124 Luftangriffen 40000 Sprengbomben und 800000 Brandbomben fallen. Später wird er in seinen Memoiren schreiben: Die Angst, »die wir damals empfunden haben«, sei ein »dominierendes Gefühl« seines Lebens geworden.3 Wenn die Feuerwehr der Lage nicht mehr alleine Herr wurde, zog man das Jungvolk hinzu, das dann beim Löschen von Bränden und beim Ausgraben der Verschütteten und der Leichen zu helfen hatte. Angst war dabei nicht das einzige Gefühl, das die Jungen erfaßte. Todesangst und Grauen wechselten mit Aufwallungen von Haß und Patriotismus, verbunden mit der Erfahrung, daß in solchen Lagen vor allem zweierlei alles zu ertragen hilft: das Zusammengehörigkeitsgefühl in der Familie und die Kameradschaft der Gleichaltrigen.
Manche der Jüngeren haben sich später über die volkspädagogische Ernsthaftigkeit gewundert, mit der er, nachdem ihm die Herrschaft über sein Land zugefallen war, regelmäßig, ohne das je zu vergessen, die runden Gedenktage an Kriegsbeginn und Kriegsende – 1. September 1939, 8. Mai 1945 – wieder und wieder zu großen Besinnungsereignissen machen wollte. Der Krieg und die propagandistische Verführung durch das NS-Regime bilden eine Urerfahrung seiner Generation. Auch Riesen vergessen die Traumata der jungen Jahre nicht.
Auf eigenartige Weise erinnert in dieser Stunde das Zeremoniell des Großen Zapfenstreichs an diese frühen Anfänge. Die Militärtransporte zum Westwall, die im Deutschen Jungvolk gezeigten Wochenschauen und Filme gehörten damals ebenso zum Alltag wie der im Radio verlesene und in den Zeitungen abgedruckte Wehrmachtbericht. Der Vater, ursprünglich Berufssoldat, hatte im Rang eines Hauptmanns am Polen- und dann am Frankreichfeldzug teilgenommen. Der Bruder Walter hatte sich zu den Fallschirmjägern gemeldet und kam im November 1944 bei einem Tieffliegerangriff ums Leben. Damals hatte sich das Bild vom Krieg und von der Wehrmacht schon längst mit Trauer, Sorge und Hoffnungslosigkeit verbunden. Aber in einem Winkel seines Herzens ist der Riese über die Jahrzehnte hinweg eine Art Soldatenkind geblieben, obwohl er selbst nie gedient hat, somit den »weißen Jahrgängen« angehört. Als allerhöchster Kriegsherr wollte er deshalb später die Bundeswehr nicht wie die Wehrmacht als Kampfmaschine begreifen, sondern als Bürgerarmee, deren Aufgabe die Abschreckung sei. Den vielerorts vorherrschenden Pazifismus betrachtete er hingegen als Fehlentwicklung und erzählte stolz allen, die es wissen oder auch nicht wissen wollten, daß seine Söhne bei der Bundeswehr Soldaten waren und nicht etwa zu den Kriegsdienstverweigerern gehören. Und so läßt er sich jetzt von dem ihm dargebrachten Großen Zapfenstreich tief anrühren: »Es ist eine der außergewöhnlichsten Stunden meines Lebens, die mich tief bewegt«, vermerkt er im Tagebuch.4
Bei Kriegsende ist alles gewissermaßen in ein neues Koordinatensystem gerückt worden: die Wehrmacht, das Deutsche Reich, auch der Speyrer Dom. In den Kaiserdomen, die eben noch als Chiffren einer imperialen Sendung des Großdeutschen Reiches begriffen worden waren, sieht man nun wieder die steingewordenen Zeugnisse des wenigstens im Glauben einigen abendländischen Europa. Aus den westlichen Provinzen des zerbrochenen Reiches wurde die Bundesrepublik, und die desillusionierten Kriegskinder wuchsen zu dem heran, was man später »die Generation der Bundesrepublik« genannt hat – eine Generation, für die jetzt der demokratische Rechtsstaat, der Frieden, die Einigung Europas und der Abscheu vor totalitären Regimes genauso natürlich werden, wie vielen von ihnen zuvor Nationalismus, Machtpolitik und der Glaube an die deutsche Sendung natürlich erschienen waren. Der Riese, der jetzt, am 17. Oktober 1998, an den Kaiserdom zu Speyer zurückgekehrt ist, hat sich immer mehr als Verkörperung dieser Generation der Bundesrepublik verstanden.
Ein halbes Jahrhundert der Kämpfe und des Aufstiegs liegen hinter ihm. Frech, ungestüm, noch nicht ganz ausgegoren, aber voll einzigartiger physischer und psychischer Energie hatte er sich 1946 in die Politik gestürzt und rasch reüssiert. Sein bester Wahlkampf, in dem die geschickten PR-Strategen des Jahres 1976 den 1,93 Meter großen, wuchtigen Pfälzer Ministerpräsidenten als »schwarzen Riesen« ins öffentliche Bewußtsein rückten, ist jetzt ebenso Vergangenheit wie die sechzehn Jahre seiner Kanzlerschaft, in denen ihm die friedliche Wiedervereinigung Deutschlands geglückt ist und er die Staaten Europas mit der ihm eigenen Mischung aus Umsicht und Ungestüm auf den Weg zu einem europäischen Bundesstaat gestoßen hat. Das Kriegskind aus kleinen Verhältnissen ist zum Staatsmann geworden, der mit den Großen dieser Welt von gleich zu gleich verkehrt. So hält er es nicht für ganz unangemessen,...