Vorwort
Im August 2014 brachte Helmut Schmidt das Gespräch mit dem Verfasser dieses Buches auf ein Thema, das ihn seit vielen Jahren beschäftigte: warum eigentlich kein Historiker sich so richtig für das interessiere, was er nach seinem Ausscheiden aus dem Amt des Bundeskanzlers 1982 alles gemacht habe. Das sei doch eine Menge, und manches davon halte er für nicht ganz unwichtig. Einige Jahre zuvor war der zweite Band der grundlegenden Biographie von Hartmut Soell erschienen. Das 2000-Seiten-Werk endete mehr oder weniger mit dem Sturz im Oktober 1982, und das wollte Schmidt so nicht hinnehmen. »Als hätte ich danach kein Leben mehr«, klagte er ein ums andere Mal.
Ich würde mich erkundigen, welchen Historiker der jüngeren Generation man mit einer solchen Aufgabe betrauen könnte, sagte ich und fuhr am Abend zurück nach Berlin. Man braucht zwei Stunden. Wie oft ich diese Strecke seit Mitte der achtziger Jahre gefahren bin, um Helmut Schmidt für einen oder zwei Tage in Hamburg zu besuchen, weiß ich nicht, aber an diese Fahrt erinnere ich mich genau. Als ich zu Hause ankam, stand mein Entschluss fest, das Buch, das Schmidt sich wünschte, selber zu schreiben.
28 Jahre hatte ich das Privileg, mit ihm zusammenarbeiten zu dürfen. Von seinem ersten Erinnerungsband Menschen und Mächte 1987 bis zu seinem letzten Buch Was ich noch sagen wollte, das ein halbes Jahr vor seinem Tod erschien, habe ich fast alle seine Buchveröffentlichungen betreut. Mit seinen Interessen, seinen Vorlieben, seinen Abneigungen war ich einigermaßen vertraut und wusste in etwa einzuschätzen, worauf es ihm ankam. Kenntnisse, die sich andere erst mühsam hätten erarbeiten müssen, brachte ich also mit. Die nötige Distanz, die eine kritische Biographie verlangt, würde sich mit der Zeit schon einstellen, hoffte ich.
Vier Wochen später trug ich Schmidt meine Kühnheit vor. Es sei mir ja wohl klar, auf wie viel Arbeit ich mich da einließe, meinte Schmidt, ob ich mir wirklich zumuten wolle, Jahre im Archiv zu sitzen. »Als Freund rate ich Ihnen ab.« Schmidts Privatarchiv, das seit einigen Jahren in einem funktionalen Neubau neben seinem Haus in Hamburg-Langenhorn untergebracht ist, kannte ich gut, bei der Vorbereitung vieler seiner Bücher hatte ich dort recherchiert. Ich machte mir keine Illusionen, was den Arbeitsaufwand anging, war aber davon überzeugt, dass es sich lohnen würde.
Auf der Frankfurter Buchmesse Anfang Oktober besprach ich das Projekt mit dem Leiter der Siedler Verlags. Schmidts »Hausverlag« schien mir die passende Adresse: Der Bundeskanzler a. D. hatte dort seine wichtigsten Bücher publiziert und den Verlagsgründer Wolf Jobst Siedler immer als »seinen« Verleger bezeichnet; ich selbst hatte Schmidt 1987 als Cheflektor des Verlages kennengelernt. Mein Angebot wurde angenommen. Als ich am 11. November 2014 wieder in Hamburg war, kam Schmidt gleich zur Sache und fragte, ob ich mir das Ganze noch einmal überlegt hätte. Ich würde es mir zutrauen, antwortete ich. Er selber hatte inzwischen offenbar auch eine Entscheidung getroffen. »Dann ist das hiermit also verabredet«, sagte er.
Im Dezember ging es noch um Korrekturen an Schmidts letztem Buch. Dann nahmen unsere Gespräche unmerklich einen anderen Charakter an. Ich fragte jetzt nicht mehr als hilfreicher Lektor und Zuarbeiter, sondern als Biograph, der keine Behauptung ungeprüft übernehmen durfte und Vorsicht walten lassen musste insbesondere gegenüber allen Versuchen nachträglicher Umdeutung durch den Protagonisten selbst. Der Autor muss sich seinen Helden vom Leib halten, hat der Caesar-Biograph Christian Meier einmal gesagt, und um wie viel mehr galt das für einen noch lebenden.
Alle drei bis vier Wochen fuhr ich für einige Tage nach Langenhorn, um mich durch die Akten zu fressen, und saß jedes Mal auch ein paar Stunden mit Helmut Schmidt zusammen. Viele meiner sehr detaillierten Fragen konnte er nicht beantworten, weil ihm die Zusammenhänge nicht mehr präsent waren, anderes schien ihn nicht zu interessieren. Ich sei auf einer falschen Spur, sagte er dann, die Dokumente, die ich gefunden hätte, seien völlig unerheblich. Ich verteidigte mich, erläuterte, warum sie in meinen Augen wichtig seien – und merkte zu spät, dass er mich gerade examinierte und von mir lediglich hören wollte, ob ich seine Rolle auch angemessen beurteilte.
Während Schmidt auf diese Weise seine Neugier zu stillen und zugleich Einfluss auf den Biographen zu nehmen suchte, war es mein Ehrgeiz, die Stereotypen aufzubrechen, mit denen er seit Jahr und Tag bestimmte Themen abhandelte. Vielleicht würde ich ihm hier und da sogar etwas Neues entlocken können. Schmidt blieb bis zum Schluss auf der Hut. Wenn er sich gelegentlich dazu verleiten ließ, von seinen üblichen Argumentationsmustern abzuweichen, überkam ihn schnell das Gefühl, zu viel von sich preiszugeben. Dann brach er ab und griff zu dem Satz, den er für solche Fälle immer parat hatte: »Das ist mir alles viel zu privat.«
Bücher zu veröffentlichen war für Helmut Schmidt seit vielen Jahren zu einem Lebenselixier geworden. 2008 hatte er im Alter von neunzig Jahren mit Außer Dienst eines der erfolgreichsten politischen Bücher in Deutschland vorgelegt. Seither war Jahr für Jahr entweder ein Gesprächsband oder ein Sammelwerk erschienen, und jedes Mal steckte er viel Kraft und Sorgfalt in die Vorbereitung. Kaum war im Frühjahr 2015 sein Nocturne Was ich noch sagen wollte erschienen, fragte er, was man denn als Nächstes in Angriff nehmen könnte. Zu konkreten Verabredungen reichte es nicht mehr. So wurde die Biographie der späten Jahre, die er mir übertragen hatte, in gewisser Weise zu seinem letzten Projekt. Wann das Buch denn erscheinen soll, wollte er wissen. Zeitnah zum Tod – so stehe es im Verlagsvertrag, sagte ich –, spätestens jedoch zum 100. Geburtstag. Da grinste er schelmisch: »Es könnte sein, dass ich hundert werde.«
Aus Schmidts Privatarchiv zog ich erst einmal schamlos alle Papiere heraus, die sich später möglicherweise in irgendeinem Zusammenhang als nützlich erweisen konnten. Parallel dazu suchte ich gezielt in anderen Archiven – umfassend in den Nachlässen Bucerius und Dönhoff – und arbeitete mich durch die Literatur, die wissenschaftliche ebenso wie die Memoirenliteratur. Die Recherchen und das Schreiben des Textes hatte ich von Anfang an parallel organisiert: Sobald ich das Quellenmaterial für ein geplantes Kapitel einigermaßen vollständig erschlossen hatte, begann ich zu schreiben. Auf diese Weise entging ich zum einen der Gefahr, irgendwann im Material zu ertrinken, und konnte zum anderen die Fragestellung für die jeweils nächsten Kapitel fortwährend präzisieren und aktualisieren. Die Gespräche mit Schmidt verstand ich als ein nützliches Regulativ dieses Arbeitsprozesses. Machte ich ihn darauf aufmerksam, dass seine Interpretation eines Vorgangs allzu sehr von dem abwich, was sich aus den Quellen ergab, ermahnte er mich, es mit dem Grundsatz quod non est in actis non est in mundo nicht zu übertreiben, schließlich sei er im Unterschied zu mir meistens dabei gewesen.
Helmut Schmidt hatte mir exklusiven Zugang zu seinen sämtlichen Archivalien gewährt; ich durfte sehen, was ich sehen wollte, konnte alles kopieren und war keinen Auflagen unterworfen. Das Vertrauen, das er mir auf diese Weise zum Ausdruck brachte, wollte ich rechtfertigen – ohne dabei meine Unabhängigkeit als Autor aufs Spiel zu setzen. »Machen Sie ihn bloß nicht zu einem Heiligen«, hatte mir eine seiner Verehrerinnen als guten Rat mit auf den Weg gegeben. Im Verlauf der Arbeit verschob sich jedoch das Legitimationsproblem. Immer öfter stand ich vor der Frage: Wie kritisch durfte ich eigentlich sein? Schmidt hatte stets Wert gelegt auf Gründlichkeit und ein hohes Maß an Objektivität, und er vertrug die Wahrheit. Dennoch wurde mir irgendwann klar, dass die Veröffentlichung meines Buches sein Verhältnis zu mir zweifellos beschädigen und ich nichts dagegen würde unternehmen können. Die Vorstellung, den Mann, den ich verehrte, zu verletzen, belastete mich.
Als Helmut Schmidt am 10. November 2015 starb – fast auf den Tag genau ein Jahr nach unserer Verabredung –, wusste ich, dass die Verantwortung für das Buch von jetzt an ausschließlich bei mir lag. Wer keine Rücksicht zu nehmen braucht, hat auch keine Ausrede mehr. Ich hatte nicht wirklich damit gerechnet, dass Schmidt das Erscheinen meiner Biographie erleben würde, mir aber auch keine Gedanken darüber gemacht, welche konkreten Auswirkungen sein Tod auf den Schreibprozess haben könnte. Als ich eine Woche nach der Trauerfeier im Hamburger Michel wieder in Langenhorn saß, wurde mir klar, dass ich von nun an auf mich allein gestellt war. Dabei machte ich eine merkwürdige Beobachtung: Weil ich am Nachmittag nicht mehr durch den Garten einfach rübergehen und ihn noch einmal befragen konnte, las ich gleichsam für ihn mit, so jedenfalls schien es mir, und diese Vorstellung wirkte auf mich befreiend. Als ich Anfang Dezember mit dem Schreiben von Teil II begann, ging mir manches leichter von der Hand.
Zum Schluss zwei Bemerkungen zur Auswahl des Materials und zur Komposition des Stoffes. Helmut Schmidt hat sich gleich zu Beginn seiner politischen Laufbahn ein Archiv angelegt und die Akten über all die Jahre stets sorgfältig geführt. Dabei wurden vier Überlieferungsreihen unterschieden: private Korrespondenz (ab 1983 etwa zehn bis 15 Ordner pro Jahr), eigene Arbeiten (Aufsätze, Reden, Interviews), Reiseordner sowie die Ordner Pressecho. Ab 1983 kamen neue Ordnerreihen hinzu, insbesondere interne und externe Korrespondenz der Wochenzeitung Die Zeit, deren Herausgeber Schmidt war,...