Heimat, damals
Geschichte unserer Leben I
Ute kam im Februar zur Welt, als die Tage spürbar länger wurden. Langsames Auftauen. Das war im Jahr 1943, es war Krieg, und sie begann zu atmen.
Sie hat sich ihre Zeit nicht ausgesucht, sie hat sich bedient: die unbekümmerten Jahre nicht gezählt, die traurigen mit sich mitgeschleppt. Manche Ereignisse haben ihr so viel Glück beschert, dass sie bis heute davon zehrt. Erfreulicherweise. Denn erst jetzt, im Alter, stellt sich heraus, dass Ute an ihrer Jahreszeit hängt, dass sie eben ein Februarkind ist, eine tatkräftige Person, die dennoch das Frühjahr braucht, die Aussicht auf Licht und Wärme, und dass sie diese Aussicht wohl nicht mehr bekommt.
Ihr Vater starb, da war sie gerade drei Jahre alt. Sie wuchs bei der Großmutter in Görlitz auf. Die Stadt in der niederschlesischen Oberlausitz wurde den Krieg nicht los. Auf der Flucht vor der Roten Armee hatte die Wehrmacht die Brücken über der Neiße gesprengt, der Fluss schoss durch sein breites Bett. Nun wurde er Staatsgrenze; Vertreibung, Verlust, Wehmut – Görlitz war nur noch die Hälfte seiner selbst, die andre Hälfte hieß von jetzt an Zgorelec und gehörte zu Polen. Viele Häuser aus der Spätgotik, dem Barock und der Renaissance, 1944 und 1945 schwer beschädigt, hielten sich aufrecht an den Gassen, durch die Ute zur Chorprobe in den Rathaussaal lief. Einmal produzierte der Görlitzer Kinderchor eine Rundfunkaufnahme:
Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer.
Unsre Heimat sind auch all die Bäume im Wald.
Unsre Heimat ist das Gras auf der Wiese, das Korn auf dem Feld
Und die Vögel in der Luft, und die Tiere der Erde
Und die Fische im Fluss sind die Heimat.
Die zarte, aber reißfeste Solostimme war die von Ute. «Und wir lieben die Heimat, die schöne», sang sie im Radio, «und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört.»
Dann schickte man sie fort. Ende der fünfziger Jahre. Bald würde es eine weitere Staatsgrenze geben, eine Mauer; Ute sollte die sowjetische Besatzungszone verlassen und zur Mutter nach Westberlin gehen. Sie war vierzehn. Ihr Schulabschluss würde im Westen nicht anerkannt werden. Sie jammerte, flehte, wollte bleiben, studieren, Architektin werden, und überhaupt: Ute und die Großmutter liebten einander über alles. Kaum in Westberlin angekommen, machte die Enkelin darum kehrt und nahm den Weg zurück. Die Zonengrenze war kein Fluss, ein paar Schritte hätten genügt, aber das Leben war drauf und dran, Ute beizubringen, das Kraft und Entschlossenheit allein nicht immer ausreichen. Zwei Volkspolizisten, ein Mädchen, nicht Zeit genug für Gefühle und Argumente. Bei der zweiten Flucht nahm sie das Fahrrad und nur eine leichte Aktentasche als Gepäck, trat kräftig in die Pedale, aber auch diesmal kam sie nicht an den Grenzhütern vorbei.
Das waren sie für Ute, die sechziger Jahre, in denen, was hier erzählt werden wird, seinen Anfang nahm. Sie musste sich mit einer neuen Heimat begnügen. Schon wieder lebte sie in einer geteilten Stadt. Beendete die Schule und suchte, noch nicht einmal volljährig, was alle Erwachsenen brauchen: einen Lebensunterhalt. Sie fand einen Platz bei Siemens am Fließband, man nannte das «im Akkord arbeiten». Mit Musik, mit Singen hatte es nichts zu tun.
Mona brach Anfang Juni 1967, mit zwanzig, zum ersten Mal nach Westberlin auf. Sie nahm in Mainz einen billigen Propellerflug für fünfundsechzig Mark und stieg in Tempelhof aus. Die Stadt umarmte sie nicht, stand auf gerissene Weise steif, hatte Haltung, war irgendwie politisch. Offenbar scherte sich niemand um das ordnungsgemäße Arrangement von Äußerlichkeiten. Die Leute waren anders, vom Kragen bis zu den Schuhen, und Mona spürte, dass sie eines Tages hier bei ihnen leben würde.
Gleich am Abend der Anreise geriet sie in eine Demonstration. Sie verließ den Gehweg, ihre Füße setzten auf, Neugierde schob sie weiter voran über den Asphalt, obwohl ringsum gekreischt und geschrien wurde, und sie begriff: Das ist Straßenkrieg. Menschen rannten an ihr vorbei und rempelten sie an, sie wich der berittenen Polizei aus, stand zum ersten Mal in ihrem Leben einem Wasserwerfer gegenüber. «Sofort auflösen!», röhrte es aus einem Lautsprecher.
Sie blieb stehen. In einem Schaufenster ihr Spiegelbild, dahinter ein Polizist zu Pferde, der mit dem Knüppel ausholte. Wie ein Stromschlag zuckte die Angst durch ihren Körper, sie schnellte herum und sank auf die Knie: «Bitte nicht! Ich bin nur auf Besuch!» Erst später sollte sie erfahren, dass soeben, an diesem Abend, ein paar Straßen entfernt der Student Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen worden war. «Dann verschwinde!», schrie der bedrohliche Mann auf dem Pferd. «Hau sofort ab!» Und sie rannte.
An dem Tag, an dem Mona noch einmal mit dem Schrecken davonkam, war Martin schon seit drei Jahren in der Ausbildung bei der Berliner Polizei. Sein Vater, Oberkommissar in Berlin, war während der Studentenrevolte ständig im Einsatz; und nun gab es einen Toten. Es musste dringend anders ablaufen, wenn Staat und Bürger mit ungleichen Meinungen aufeinandertrafen, doch die paramilitärisch organisierte Polizei hatte keine Erfahrung mit Deeskalation; und es gab auch keine Ideen.
Es gab Martins Vater. Am Protesttag gegen den Vietnamkrieg im Oktober 1967 stand der direkt vor den Studenten, die den Kurfürstendamm blockierten. Ebenfalls ohne Plan, aber denkwürdig klar im Kopf, gebrauchte er das Mikrophon des Einsatzwagens auf ungewöhnliche Weise. Für den Fall, dass die Straße nicht geräumt werde, kündigte er «die Vorführung von Wasserspielen» an, empfahl, «Bademäntel und Badehosen bereitzuhalten»; er verwickelte die Stimme der Staatsmacht in einen lustigen Schlagabtausch mit den Studenten, gab die Spielergebnisse der Bundesliga bekannt und entschuldigte sich dafür, die Lottozahlen nicht parat zu haben. Im Archiv der Berliner Polizeigeschichte heißt es, Martins Vater habe eine dreistündige Unterhaltungsshow gegeben.
Der Sohn hat von ihm einiges mitbekommen. Martin fällt gern schwere Entscheidungen; er weiß, wie und wann man besser ein Spaßvogel ist; er kann sich Mikrophone zunutze machen. Vor allem jedoch ist vieles, was in seinem Leben geschah, durch unsichtbare, aber reißfeste Bänder mit den Zuständen und Ereignissen im Berlin der sechziger Jahre verbunden.
Im Sommer 1967 tanzte Elke auf ihrer eigenen Verlobung: auf einer bunten Party im Garten ihrer Eltern unweit der Bahnlinie am Südkreuz in der General-Pape-Straße. Zehn Monate später heiratete sie Martin. Weil sie noch nicht ganz einundzwanzig war, mussten ihre Eltern zustimmen: Das war kein Problem – nicht weil Elke schon jahrelang, schon seit der Schule, mit dem zwei Jahre älteren Martin zusammen war, nicht weil sie es ernst meinte, sondern weil es bei aller Liebe drum ging, es recht zu machen: weil Liebe ohne Ehe nicht ordnungsgemäß war.
Ein paar Jahre zuvor war das Paar in den Skiurlaub gefahren. Bayerisch Eisenstein direkt an der tschechischen Grenze, eine kleine Pension, der Kuppelparagraph; dem Wirt war es nicht erlaubt, sie in ein und demselben Zimmer unterzubringen. Deshalb hatte Martin sie als Ehepaar angemeldet und mit Elke geübt, beim Grüßen seinen Nachnamen zu nennen. In der Pension hatte sie zum «Guten Tag!» sogar noch ein Lächeln aufgesetzt und dann, gut erzogen, wie sie war, nicht seinen, sondern ihren Namen genannt. Im Abenddunkel bremste ein Polizeiauto vorm Haus. Elke stand starr am Fenster des Doppelzimmers, das der Wirt ihnen – schwerhörig oder mutig, jedenfalls gesetzeswidrig – überlassen hatte. Vor ihrem Mund bewegte sich die Gardine: «Martin, jetzt werden wir alle geholt!»
Ein halbes Jahrhundert später sind Elke und Martin immer noch zusammen. Sie fahren jeden Donnerstag zur Chorprobe und überlegen, ob sie «Forever Young» fürs Repertoire vorschlagen sollten. Bob Dylan. Der hat jahrelang ohne feste Adresse in Manhattan gehaust, bis er Anfang der Sechziger durch einen Plattenvertrag zu Geld kam und sich eine Wohnung in Greenwich Village nahm, doch seine Freunde hinderten ihn daran, mit dem minderjährigen Mädchen einzuziehen, das er liebte, weil das ein Vergehen war, das zur Anklage reichte.
May you grow up to be righteous,
May you grow up to be true,
May you always know the truth
And see the lights surrounding you.
Das sang Dylan ein paar Jahre später.
May you always be courageous,
Stand upright and be strong,
May you stay forever young!
Marianne landete Ende der sechziger Jahre in der Sozialamtskanzlei des Karlsruher Rathauses. Der Vater hatte eine Ausbildung zur Bürofachgehilfin besorgt. Sie war mit klassischer Musik aufgewachsen, mit Bach, Brahms, Beethoven und Chopin, mit einer großen Sammlung Schellackplatten; und mit Liebe. Die Eltern hatten dran festgehalten, dass ihre Tochter genau so viel wert war wie andere Kinder: wie die, bei denen die Zensuren stimmten. In der Schule jedoch hatte der Lehrer andere Tatsachen geschaffen. Rechts hatten seine Besten gesessen, denen in der Mitte hatte er hin und wieder das Wort erteilt, links war Marianne untergekommen. «Mit euch rede ich nicht», hatte er in ihre Richtung gehöhnt, «ihr seid die Schwachstromabteilung.»
Nun lernte sie an der Schreibmaschine, bekam jeden Monat dreihundertsechzig Mark Lohn, nach zwei Jahren hatte sie einen Beruf und packte die Koffer für Berlin. Sie war nicht auf der Flucht, sondern reiste zum Angestelltenaustausch mit dem Senat und nahm die Gewissheit mit,...