1. Das Busenattentat 1969 – Die Schamvernichtungskampagne der Achtundsechziger – Rückblick auf die alte Moral
Für den Wandel des Schamverhaltens in neuerer Zeit ist der 22. April 1969 ein bezeichnendes Datum. An diesem Tag, so berichten mehrere Zeugen, stürmten drei junge Frauen auf das Podium im Hörsaal VI der Frankfurter Universität, als sich der Philosoph Theodor W. Adorno eben anschickte, seine Vorlesung zu halten. Plötzlich sah er sich von den Studentinnen umringt, die ihre Jacken öffneten und ihn mit ihren nackten Brüsten bedrängten. Adorno wehrte sich mit erhobener Aktentasche und floh aus dem Saal. Nicht lange danach, im Sommer desselben Jahres, erlag er einem Infarkt. Obwohl zwischen seinem Tod und der Attacke gelegentlich ein Zusammenhang hergestellt wurde, sind sich die Biographen darin einig, dass das eine mit dem anderen im Wesentlichen nichts zu tun hatte.
Dem sogenannten Busenattentat waren politische Konflikte zwischen Adorno und den linken Studenten vorausgegangen, Konflikte, die auf einem grundlegenden Missverständnis beruhten. Es bestand in der Hauptsache darin, dass der Philosoph Adorno als Ideen- oder Stichwortgeber der eben aufgebrandeten studentischen Revolte galt, und zwar nicht nur in den Augen einer konservativen Öffentlichkeit, sondern auch der Studenten selber. Daran war richtig, dass einige seiner damals weithin gelesenen, wenn auch nicht immer vollständig begriffenen Texte (etwa die Dialektik der Aufklärung) den Verblendungszusammenhang des Spätkapitalismus zu ihrem zentralen Gegenstand hatten. Adornos berühmtes Diktum «Es gibt kein richtiges Leben im falschen»[1] geriet zur Parole eines fundamentalen Nichteinverstandenseins. Aber keine These Adornos, und diese erst recht nicht, wäre als Handlungsanleitung tauglich gewesen, und ihn als Neomarxisten zu bezeichnen, der einer neuen Linken programmatisch den Weg ebnete, war vollkommen irrig.
Infolgedessen war es wenige Monate vorher zur Besetzung des Frankfurter Instituts für Sozialforschung gekommen. Dessen Hausherr Adorno hatte die Polizei gerufen und die Studenten entfernen lassen. Jetzt, am 22. April, verteilte die «Basisgruppe Soziologie» Flugblätter, auf denen zu lesen stand: «Adorno als Institution ist tot!» Hans-Klaus Jungheinrich, Redakteur der Frankfurter Rundschau, schrieb dazu: «Das können die politischen Bewußtseinsveränderer Adorno nicht verzeihen: Er gab ihnen das kritische Vokabular zur dialektischen Gesellschaftsanalyse, ließ sie aber im – für sie – entscheidenden Augenblick allein: als es darum ging, Theorie in Praxis zu übersetzen.»[2] Dass die biographischen, die philosophischen Voraussetzungen, unter denen Adorno lebte und dachte, diesen Schritt unmöglich machten, erwähnte Jungheinrich zu Recht.
Das «Busenattentat» war also die Rache durch einen Akt öffentlicher Demütigung. Dass die «aggressive Entblößung der Brüste» schon immer eine weibliche und nicht selten wirkungsvolle Waffe gewesen ist, zeigt Hans Peter Duerr in seinem Buch über Obszönität und Gewalt.[3] Selbst heute noch, da öffentliche Nacktheit kaum mehr skandalös ist, erregen Oben-ohne-Aktionen die mediale Aufmerksamkeit, was sich die 2008 in Kiew gegründete feministische Gruppe Femen zunutze macht. Die jungen Frauen demonstrieren mit nackten Brüsten gegen Sextourismus und Zuhälterei sowie gegen Männer wie Silvio Berlusconi oder Dominique Strauss-Kahn, um deren Frauenbild bloßzustellen.
Um die besondere Provokation der Aktion von 1969 zu verstehen, muss man sich die Zeitumstände vor Augen halten. Dass Frauen Hosen trugen, nicht Kleider oder Röcke, war damals noch ungewöhnlich. Eine vorwiegend mittelständische junge Generation demonstrierte ihren Widerstand gegen die Generation der Älteren zunächst einfach dadurch, dass sie sich anders kleidete, andere Filme sah, andere Musik hörte, andere Bücher las. Man ignorierte Stefan Andres und Ernst Jünger zugunsten von Jean-Paul Sartre und Albert Camus, man verachtete Vivaldi, Beethoven oder Bach und verbrachte die Nächte in Jazzkneipen, man spottete über Heinz Rühmann und liebte Jean-Paul Belmondo, man ignorierte Dauerwelle und Bügelfalte, Kostüm und Hut, man trug lange Haare, Jeans und kurze Röcke. Die bürgerliche Öffentlichkeit, die es im alten Sinne noch gab, war aufs äußerste empört.
Sicherlich würde ein solches «Busenattentat» auch heute eine gewisse Aufmerksamkeit erregen, doch würde man es lustig finden und hätte ähnliche Bilder vor Augen: nackte Radfahrer, die für bessere Radwege demonstrieren; oder Wanderer, die es fortschrittlich finden, nackt zu wandern; oder Tausende, die sich zum Zweck einer künstlerischen Aktion öffentlich entkleiden – wie bei den massenhaften Arrangements des amerikanischen Fotografen Spencer Tunick. Folglich würde heute ein Professor, dem Studentinnen ihre Brüste zeigen, um beispielsweise gegen sein als sexistisch empfundenes Gebaren zu demonstrieren, amüsiert, vielleicht auch empört reagieren, aber er sähe sich nicht in derselben Weise gedemütigt wie damals Adorno.
Das ist der eine Unterschied. Und der andere: Studenten, die heute eine ähnliche Aktion planten, würden nicht versäumen, sie ordentlich publik zu machen, indem sie die Medien rechtzeitig informierten. Die Bilder oder Filme eines solchen Vorgangs, und wären sie nur per Phone aufgenommen und ins Netz gestellt, gäben ihren Forderungen überhaupt erst den nötigen Nachdruck.
Das «Busenattentat» vom 22. April 1969 war in der Hinsicht miserabel vorbereitet. Es gab keine öffentliche Ankündigung, Presseleute waren nicht eingeladen, Filmkameras nicht vorhanden, Mobiltelefone hatte man noch nicht. Der Berichterstatter der Frankfurter Rundschau, der offenbar aus eigenem Interesse der Vorlesung beiwohnte, erwähnt lediglich das Flugblatt und die Sprechchöre der Basisgruppe, die Attacke der Studentinnen hingegen nicht. Offenbar saß er zu weit hinten. Ich selber saß weiter vorne, sah das Getümmel auf dem Podium, nahm aber die Entblößung nur indirekt wahr, alles ging sehr schnell vonstatten, man könnte fast sagen: schamhaft. Im Übrigen bilde ich mir ein, es sei ausnahmsweise der Hörsaal V gewesen, in dem die Ereignisse stattfanden, doch meine Zeitzeugenschaft ist weitgehend unbrauchbar, weil sich Erlebtes und Gehörtes in meiner Erinnerung untrennbar vermischen.
Ein einziges Foto ist von dem Vorgang überliefert. Für die Journalistin Tanja Stelzer wurde es zum Anlass einer aufwendigen Recherche im Berliner Tagesspiegel.[4] Es gelang ihr, zwei der drei Studentinnen ausfindig zu machen und mit ihnen zu reden. Für unseren Zusammenhang ist interessant, dass die demonstrierte Schamlosigkeit offensichtlich von heftigen Schamgefühlen begleitet war. Einmal, weil an der Aktion ursprünglich mehrere Frauen teilnehmen wollten, von denen sich am Ende nur noch drei trauten. Zum andern, weil alle, die das Happening ins Werk setzten, hinterher Stillschweigen bewahrten: die Studentinnen, indem sie versuchten, anonym zu bleiben; die Initiatoren und Zeugen, indem sie sich weigerten, gegenüber Tanja Stelzer die Namen zu nennen; der Fotograf, indem er die Veröffentlichung des Fotos untersagte. Alle Beteiligten empfanden offenbar, dass sie mit der Aktion die Grenze des Erlaubten und Anständigen überschritten hatten.
Die frühere Studentin A sagt noch 2003, 34 Jahre danach, zur Journalistin Stelzer, sie wolle auf keinen Fall erkennbar sein, so sehr schäme sie sich noch heute. Sie finde, das Busenattentat beschmutze das Bild von Adorno. Ihre frühere Mitstreiterin Hannah Weitemeier gibt zwar relativierend zu bedenken, ein weiblicher Körper sei schließlich keine Waffe, fügt aber hinzu, bereut habe sie die Aktion sofort, «wir fanden uns danach gar nicht so toll». Sie gesteht, sie sei viel zu naiv gewesen. Über die Biographie Adornos (der als Jude vor den Nazis fliehen musste) habe sie nichts gewusst. Heute verstehe sie, «dass Angst etwas ganz anderes für ihn war, gerade wegen seiner Herkunft». Und am Ende des Gesprächs sagt sie: «Wäre ich tot und würde Adorno begegnen, ich würde ihn bitten, dass er mir vergibt.»[5]
Man erkennt an diesen späten Reuebekundungen, dass die damals inszenierte Schamlosigkeit auf erhebliche innere Widerstände stieß. Insofern und nur deshalb bezeichnet dieser 22. April 1969 einen symbolischen Augenblick. Sicherlich hat er den Verhaltenswandel, der später ubiquitär werden sollte, nicht ausgelöst. Aber er war Ausdruck dessen, was man als Schamvernichtungskampagne der Achtundsechziger beschreiben kann. Ihr Ziel bestand darin, alle Schamgefühle und Intimitätsbedürfnisse als Relikte einer bürgerlichen Kultur zu begreifen, die es zu überwinden galt. Mit ihrer verlogenen Doppelmoral, die Sexualität ganz allgemein tabuisierte, Homosexualität und voreheliche Beziehungen unter Strafe stellte, heimlich aber Seitensprung, Missbrauch und Vergewaltigung praktizierte, hatte diese bürgerliche Kultur, so glaubte man, das Recht verwirkt, die freie, natürliche Entfaltung der Individuen noch länger zu behindern: durch leere Rituale, strafbewehrte Verhaltensregeln, sinnlose Kleidungsvorschriften.
Scham (so die nunmehr herrschende Ansicht, im genauen Gegensatz zur bis dahin üblichen) war kein anthropologisches Faktum, war keineswegs angeboren, sondern anerzogen, Produkt einer repressiven Moral. Der Psychoanalytiker Wilhelm Reich hatte 1933 in seiner Massenpsychologie des Faschismus die These vertreten, das patriarchalisch-autoritäre Familienmodell führe zu...