Kapitel 1:
Das Gegenteil von dem, was man anstrebt
Schon als kleine Kinder lernen die meisten von uns, dass wir uns anstrengen müssen, wenn wir Erfolg haben wollen. Ob es um gute Noten in der Schule geht, darum, ein Fußballspiel zu gewinnen, oder vielleicht ums Abnehmen: Um etwas zu erreichen, müssen wir Arbeit investieren. Meistens gilt das gesunde Prinzip »ohne Fleiß kein Preis«.
Wie viel Fleiß aber müssen Sie wirklich zeigen? Die meisten Menschen glauben, dass es einen positiven Zusammenhang zwischen der Menge an Mühe, die sie für etwas aufwenden, und der Wahrscheinlichkeit gibt, dass sie Erfolg damit haben. Je mehr Mühe man sich gibt, desto wahrscheinlicher soll also der Erfolg sein. Aber stimmt das auch?
Nein. Denn es gibt da etwas, das als das Gesetz des sinkenden Grenzertrags bezeichnet wird. Lassen Sie mich das mit Beispielen aus der Welt des Sports erklären. Wenn Sie professionell Fußball spielen oder einen Marathon laufen wollen, müssen Sie trainieren. Sie müssen wirklich mehrere Male pro Woche mit dem Ball üben oder Ihre Laufschuhe anziehen, damit Ihre Muskeln stark genug werden. Doch die ersten 100 Stunden Training werden viel mehr Wirkung haben als die nächsten 100, und immer so weiter. Vielleicht kennen Sie diesen Effekt schon, weil er zugleich erklären könnte, warum es oft so viel Spaß macht, etwas Neues zu lernen: Am Anfang ist die Lernkurve ziemlich steil und beginnt dann erst langsam, flacher zu werden. Dies ist die Theorie des sinkenden Grenzertrags in der Praxis.
Außerdem ist es so: Wenn Sie bereits eine bestimmte Menge Mühe in etwas gesteckt haben, kann jede zusätzliche Mühe paradoxerweise genau das Gegenteil von dem bringen, was Sie anstreben. Wenn Sie zum Beispiel zu viel trainieren und keine regelmäßigen Pausen einlegen, kann das von Nachteil für Sie sein. Die Folge kann sein, dass das Gegenteil Ihres Ziels (zum Beispiel, einen kompletten Marathon zu schaffen) eintritt: Eine Verletzung könnte dafür sorgen, dass Sie bei dem Lauf oder einem Spiel erst gar nicht antreten können. Zu viel von einer Sache, selbst von einer guten, kann negative Folgen haben.
Oder nehmen wir die Menge an Salz, die Sie für die Zubereitung eines Essens verwenden. Ein wenig Salz kann den Geschmack verbessern, zu viel aber ruiniert ihn. Auch Vitamine sind gesund, werden aber schädlich, wenn man sie in zu großen Mengen zu sich nimmt. Und ein kleiner Rat für Junggesellen, die verzweifelt nach einer Partnerin suchen: Ja, sie sollten den ersten Schritt machen, um jemanden kennenzulernen, der Ihnen gefällt. Aber zu viel Aufmerksamkeit könnte die gegenteilige Wirkung haben und sie (oder ihn!) verschrecken. Abnehmen? Das kann sich nach einem guten Plan anhören, wenn Sie ein paar überschüssige Kilos loswerden müssen – aber eine übertriebene Diät kann in Magersucht enden. Ähnlich sieht es aus, wenn Sie vor Ihren Prüfungen übertrieben intensiv lernen und dann vollkommen erschöpft sind, wenn es losgeht.1 Es ist fast unnötig zu sagen: Eine gute Nachtruhe vor einer Prüfung ist viel besser für Sie, als wenn sie die ganze Nacht hindurch lernen. Zu viel von etwas bringt oft mehr Schaden als Nutzen.
Im Leben sollten Sie deshalb stets versuchen, das Optimum zwischen zu viel und zu wenig zu finden. Um herauszubekommen, wo diese »goldene Mitte« liegt, brauchen Sie Lebenserfahrung. Der griechische Philosoph Aristoteles hat intensiv darüber geschrieben: Sie ist der wünschenswerte Kompromiss zwischen den zwei Extremen Übertreiben und Untertreiben. Die goldene Mitte liegt nicht genau in der Mitte von beidem, denn das hängt von den jeweiligen Umständen ab. Auch der chinesische Philosoph Konfuzius hat den Mittelweg gelehrt, und in Buddhismus, Judentum, Christentum und im Islam finden sich ebenfalls Erwähnungen der goldenen Mitte.
Und warum diese goldene Mitte? Warum führe ich diese alten Philosophen an? Warum konzentriere ich mich so auf die Tatsache, dass zu viel von etwas das Gegenteil der erwünschten Wirkung haben kann? Nun, ich möchte Sie mit dem Konzept eines Paradoxes vertraut machen. Als ein Paradox bezeichnet man alle Aussagen, Konzepte, etc., die in einem Widerspruch zu sich selbst stehen. Wahrscheinlich sind Sie mit dem Wort schon vertraut, denn in der Alltagssprache benutzen wir es, um Dinge wie Erstaunen oder Unglauben über etwas auszudrücken, das ungewöhnlich oder überraschend ist. Auch in der Welt der Geldanlage gibt es Paradoxe. Auf das vielleicht größte Paradox in der Anlagewelt bin ich sogar schon als Student gestoßen: Aktien mit niedrigem Risiko liefern hohe Renditen, während Aktien mit hohem Risiko niedrige Renditen erbringen. Das ist eine ziemlich überraschende und bemerkenswerte Erkenntnis.
Lassen Sie mich erklären, was daran bemerkenswert ist. Denken Sie einfach an die folgende »Anlegerweisheit«: Je mehr Risiko Sie eingehen, desto höher werden Ihre Renditen sein. Die meisten Aktienanleger, ob professionelle Vermögensverwalter wie Anlageberater und Hedgefonds-Manager oder »do it yourself«-Privatanleger, glauben an dieses Konzept von mehr Risiko, mehr Rendite. Aber stimmt es wirklich?
Viele dieser Anleger »greifen nach den Sternen«, wenn es darum geht, Geld für ihre Anlageportfolios zu verwalten. Sie wollen nicht weniger, als das nächste potenzielle Star-Unternehmen wie Apple, Google oder Tesla finden. Investitionen in solche aufregenden Aktien sind riskant, denn Sie können Ihr eingesetztes Geld verlieren, wenn sich der potenzielle neue Star als doch nicht so leuchtend erweist und vielleicht sogar pleitegeht.
Was aber ist, wenn Sie es wirklich schaffen, rechtzeitig das nächste Google oder Tesla zu finden, und sich der Kurs der Aktie vervierfacht? Na klar, dann würden Sie den ganzen Weg zur Bank über lachen – sie wüssten, dass Sie den Jackpot geknackt und sich einen Stern vom Himmel geholt haben. Und wie sieht es mit den weniger spannenden Aktien aus? Nun, viele Anleger sind der Meinung, dass sie mit langweiligen Papieren nicht sehr weit kommen werden. Schließlich heißt es doch, das niedriges Risiko auch niedrige Renditen bedeutet, oder? Kennen Sie irgendjemanden, der schnell reich geworden ist, indem er in eine langsam steigende Aktie mit niedrigem Risiko investiert hat?
Wenn ich Ihnen also sage, dass Aktien mit niedrigem Risiko Sie reich machen, während sie mit risikoreichen Aktien arm werden können, verstehe ich völlig, dass Sie zuerst in etwa so reagieren: »Was hat der Typ, der das behauptet, geraucht?« Ich bin gar nicht böse, wenn Sie so denken – immerhin bin ich in den Niederlanden geboren, aufgewachsen und lebe immer noch dort. Diese Aussage ist für jeden, der mit der allgemeinen Anlageweisheit »mehr Risiko bedeutet mehr Rendite« vertraut ist, kontraintuitiv. Wenn Sie also ein Buch über Geldanlage kaufen und in seinem ersten Kapitel das genaue Gegenteil dieser weithin akzeptierten Annahme lesen, ist durchaus nachvollziehbar, dass Sie die Glaubwürdigkeit seines Autors anzweifeln.
Und um ehrlich zu sein: Ich war selbst ein wenig verwirrt, als ich von diesem Anlageparadox erfuhr. Ich war damals noch im Grundstudium und stieß auf einen wissenschaftlichen Aufsatz, der zum ersten Mal das Paradox von Risiko und Rendite beschrieb. Später im Doktorandenstudium hatte ich reichlich Zeit, um diese faszinierende Studie aus den frühen 1970er Jahren noch einmal zu lesen und zu verdauen. Bei dieser Beschäftigung, die ich in den folgenden Kapiteln kurz beschreiben werde, konnte ich weitere Daten finden, die bestätigten, dass risikoarme Aktien risikoreiche schlagen. Nachdem ich meinen Doktortitel bekommen hatte, beschloss ich, diese gut getestete Theorie in der Praxis anzuwenden. Würde eine auf dem Paradox basierende Anlagestrategie wirklich auch in der realen Welt funktionieren?
Und ob sie das tat! Nach meinen Jahren an der Universität fing ich bei einer internationalen Anlagegesellschaft an, die Geld für institutionelle Anleger (wie Versicherungen, Stiftungen oder Pensionsfonds) und Privatanleger verwaltet. Robeco ist eine besonnen agierende Anlagefirma, die viele intelligente Forscher beschäftigt und deren Research-Wurzeln bis in die 1920er Jahre zurückreichen. Zwar hatte ich anfangs nicht vor, dort einen neuen Fonds aufzulegen, doch zwei Jahre nach meinem Einstieg bei Robeco taten wir genau das: Wir brachten einen Aktienfonds mit niedrigem Risiko auf den Markt.
Was mir in meinen ersten Monaten bei Robeco auffiel, war, wie das Konzept von Risiko in der Anlagebranche auf den Kopf gestellt wurde. An der Universität hatte ich mich viele Jahre über mit Risiko beschäftigt. Doch in der Branche verstand man darunter nicht etwa das direkte Verlieren von Geld, sondern eine schlechtere Wertentwicklung als bei einem Vergleichsindex (einer sogenannten Benchmark). Ich begann, zu verstehen, dass dieser Blick auf das Risiko falsch ist, dass er aber zugleich die Erklärung für das Anlageparadox sein könnte. Außerdem bekam ich das Gefühl, dass wir etwas dagegen unternehmen und unsere bestehenden und potenziellen Kunden von dieser Fehlwahrnehmung von Risiko überzeugen sollten. Und natürlich erklärten wir ihnen auch, wie sie davon profitieren könnten. Wir schafften es, viele Anleger zu überzeugen, und aus dem anfangs kleinen Fonds wurde eine Strategie mit mehr als 15 Milliarden Dollar an verwaltetem Vermögen von Anlegern aus aller Welt.
Vielleicht fragen Sie sich, warum ich mich entschieden habe, auch Ihnen von diesem Anlageparadox zu berichten. Schließlich könnte ich mich auch einfach darauf konzentrieren, den Fonds zu verwalten, und in meiner...