Geleitwort
Es gibt nur ganz wenige Hörgeschädigtenpädagogen aus dem deutschsprachigen Mitteleuropa, deren Namen man in aller Welt kennt und mit Hochachtung nennt. Ich denke hier zB. an Samuel HEINICKE (1727-1790) im 18. Jahrhundert und an Friedrich Moritz HILL (1805-1874) im 19. Jahrhundert. In unseren Tagen zählt die Verfasserin dieses Buches, die aus Oesterreich stammende und schon seit mehreren Jahrzehnten in der Schweiz lebende und lehrende Frühpädagogin Susanna SCHMID-GIOVANNINI zu dieser kleinen Gruppe international anerkannter deutschsprachiger Hörgeschädigtenpädagogen. Ich sehe es darum als eine Auszeichnung an, für dieses neue, von ihr verfasste Buch "Hören und Sprechen - Anleitungen für die auditiv-verbale Erziehung hörgeschädigter Kinder" ein kurzes Geleitwort schreiben zu dürfen.
Susanna SCHMID-GIOVANNINI gilt neben Helen BEEBE (+) und Doreen POLLACK in den USA, Irene EWING (+) und Morag CLARK in Grossbritannien, Yvonne CSANYI in Ungarn, Emilia LEONGARD in Russland und neben anderen hier nicht genannten Vertreterinnen einer beharrlich, konsequent und erfolgreich durchgeführten frühen Hör-Spracherziehung für hörgeschädigte Kinder als eine der grossen Frauengestalten der international und interdisziplinär arbeitenden Hörgeschädigtenpädagogik der Gegenwart.
Susanna SCHMID-GIOVANNINI, eine gebürtige Wienerin, begann ihre segensreiche Arbeit für hörgeschädigte Vorschulkinder wenige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Als junge Primarlehrerin übernahm sie damals die Leitung der Gruppe hörgeschädigter Kinder im neugegründeten Sonderkindergarten "Schweizer Spende" im Auer-Welsbach-Park. Dieser Kindergarten war, und das war vor nunmehr schon rund 40 Jahren ungewöhnlich, nicht nur ein Tagessonderkindergarten, aus dem jedes Kind täglich in sein Elternhaus zurückkehrte, sondern er war erstmals auch räumlich und organisatorisch völlig unabhängig von einer Gehörlosen- bzw. Schwerhörigenschule. Für die hörgeschädigten Kinder hatte dies den unschätzbaren Vorteil, dass sie in einer absolut gebärdenfreien Umgebung aufwachsen konnten. Dies führte bei vielen dieser Kinder zu einer in diesem umfang bisher von deutschsprachigen Fachleuten der Hörgeschädigtenpädagogik für nahezu unmöglich angesehenen schnellen und umfassenden Muttersprachentwicklung. Die Lautsprachbeherrschung dieser Kinder war schon nach kurzer Zeit so gross, dass sich ihre Eltern mit Recht weigerten, diese durch eine Beschulung in der Gehörlosenschule gefährden und beeinträchtigen zu lassen. Die Wiener Schulbehörde hatte Einsicht und genehmigte 1959 erstmals die Schaffung eines nur aus gehörlosen Kindern dieses Sonderkindergartens gebildeten Klassenverbandes in einer Volksschule.
Diese in gebärdenfreier Umgebung geführte erste Aussenklasse des Wiener Taubstummen-Instituts blieb keine Eintagsfliege. Sie führte zu einer über Jahrzehnte andauernden Tradition und war ein Signal für die bald auch anderswo nach erfolgreicher Früh- und Vorschulerziehung auf konsequent lautsprachlicher Grundlage angestrebte schulische Integration hörgeschädigter Kinder.
Prof. Alfred WILLER, der 1959 freiwillig die Leitung dieser ersten Aussenklasse übernommen hatte, hat deren Ausgangssituation wenige Jahre später einmal wie folgt beschrieben:
"Die Kinder dieser Klasse - die durchschnittlich zwei Jahre in diesem Kindergarten vorgeschult worden waren, jedoch noch keine Haus-Spracherziehung genossen hatten - waren mit unseren üblichen Schulanfängern in keiner Weise zu vergleichen. Sie besassen einen grossen Wortschatz und eine Reihe von Sprachformen, die spontan und richtig gebraucht wurden. Die Artikulation war verständlich ... . Die Kinder konnten ausgezeichnet ablesen. Ihre Sprechfreudigkeit war gross. ... Die Leistungen resultieren ... aus der Früherziehung, der hörenden Kindesumwelt und dem Fehlen einer Gebärdensprache."
Private Gründe bewogen Susanna SCHMID-GIOVANNINI Ende der sechziger Jahre, ihren Arbeitsplatz in die Schweiz zu verlegen. Mehrere Jahre war sie dort am Kantonsspital Luzern als Therapeutin für die Frühberatung der Eltern hörgeschädigter Kleinkinder und für die erste Anbahnung der Hör-Spracherziehung dieser Kinder zuständig. Daneben betreute sie mehrmals wöchentlich eine Gruppe hörgeschädigter Kindergartenkinder in Hohenrain bei Hochdorf im Kanton Luzern. Die dortige Kantonale Sonderschule hatte ihr für die Betreuung dieser Kinder, die weiterhin bei ihren Eltern wohnten, einen Raum in ihrem Internatsgebäude zur Verfügung gestellt. Mit anderen Worten: auch diese Kindergartengruppe war somit, nach wiener Vorbild, ausserhalb der Gehörlosenschule in einer sprechenden und völlig gebärdenfreien Umgebung untergebracht. Und keines der darin betreuten hörgeschädigten Kinder war ein Heimkind.
Als die in dieser Kindergartengruppe von Susanna SCHMID-GIOVANNINI geförderten hochgradig hörgeschädigten Kinder das Schulpflichtalter erreichten, stellten mir die Eltern eines dieser Kinder ihre gehörlose Tochter in Heidelberg zur Begutachtung vor. Diese Eltern wussten, dass ich alle Schulen für Gehörlose und für Schwerhörige in der deutschsprachigen Schweiz aus eigenem Augenschein kannte. So fragte mich der Vater dieses Kindes, nachdem es von mir eingehend untersucht worden war, welche dieser Schulen ich wohl mit gutem Gewissen für die Beschulung seiner gehörlosen Tochter empfehlen könnte. Ohne lange zu überlegen, antwortete ich: "Die Schule, die für Ihre Tochter geeignet ist, die muss erst noch gegründet werden." Und sie wurde gegründet! Es war dies die in ein Schulhaus für guthörende Kinder integrierte "Stiftung Schule für hörgeschädigte Kinder Meggen". Zu ihrer Leiterin wurde von den Eltern dieser ersten darin aufgenommenen Klasse ehemaliger Kindergartenkinder aus Hohenrain Susanna SCHMID-GIOVANNINI bestellt.
Ich habe die schulische und sprachliche Entwicklung der ersten in der Primarschule in Meggen von Susanna SCHMID-GIOVANNINI unterrichteten Klasse hochgradig hörgeschädigter Kinder über Jahre hinweg mit grossem Interesse verfolgt und von Studierenden der Hörgeschädigtenpädagogik an der Pädagogischen Hochschule Heidelberg in mehreren Untersuchungen mit der einer Gruppe hörender Kinder aus einer Parallelklasse, mit der sie jede Woche an einem Schultag gemeinsamen Unterricht gehabt hat, vergleichen lassen. Die Ergebnisse dieser Untersuchung wurden von mir u.a. in dem Buch "Hörgeschädigte Kinder in Regelschulen - Ergebnisse von Untersuchungen und Erhebungen in der Bundesrepublik Deutschland und in der Schweiz" (1985) veröffentlicht.
Ueber keine Klasse hochgradig hörgeschädigter Kinder aus dem deutschen Sprachbereich liegt heute der Fachwelt so viel an Information vor, wie über die erste Klasse der "Stiftung Schule für hörgeschädigte Kinder Meggen". Zusammengefasst sei hier lediglich festgehalten, dass die in der erwähnten Klasse in Meggen beschulten hörgeschädigten Kinder zu Beginn ihres siebten Schuljahres in ihren sprachlichen Leistungen ungefähr den durchschnittlichen Stand hörender Hauptschüler einer sechsten Klasse erreicht hatten.
Dass diese Informationen ermittelt, mit den Daten hörender Kinder verglichen und analysiert worden sind, das verdanken alle an einer gemeinsamen Unterrichtung hörender und hörgeschädigter Kinder interessierten Personenkreise in erster Linie der Skepsis einiger führender deutscher Hörgeschädigtenpädagogen, welche die Leistungen dieser hörgeschädigten Kinder für unmöglich erklärt hatten. Ohne deren öffentlich geäusserte Skepsis wäre die vergleichende Untersuchung vielleicht überhaupt nicht durchgeführt worden. Darum bin ich diesen Fachleuten noch heute zu aufrichtigem Dank verpflichtet.
Die Schule in Meggen begann mit Klassen hochgradig hörgeschädigter Kinder in einem Schulhaus für hörende Kinder. In den Folgejahren konnten viele hörgeschädigte Kinder, die schon sehr früh mit sorgfältig ausgewählten und gut angepassten individuellen Hörgeräten versorgt worden waren und deren Eltern die ihnen von Susanna SCHMID-GIOVANNINI erteilten Anleitungen zur frühen Hör-Spracherziehung zielstrebig in die Tat umgesetzt hatten, bei Erreichen des schulpflichtigen Alters ohne den Umweg über eine Sonderschule sofort in ihren Wohngemeinden in die Primarschule eintreten. Um sicherzustellen, dass sie dort mit guthörenden Kindern schulisch Schritt halten konnten, wurde von Susanna SCHMID-GIOVANNINI an der Schule in Meggen ein ambulanter hörpädagogischer Dienst eingerichtet. Die Zahl der von den in diesem Dienst tätigen Wanderlehrern betreuten, voll in Regelschulen integrierten hörgeschädigten Schüler übertraf schon nach wenigen Jahren die Zahl der...