HUMANISMUS RELOADED:
DAS NEUE BILD DES MENSCHEN
Vor einigen Jahren fand ich in einer Tageszeitung eine kurze Notiz, die von den Erlebnissen eines US-Amerikaners erzählte, der sich und der Welt beweisen wollte, dass der Mensch von Grund auf »gut« sei. Er hatte sich vorgenommen, Hunderte von Kilometern zu marschieren – nur mit dem Notwendigsten ausgerüstet, in der Hoffnung, dass er auf Artgenossen träfe, die ihm bereitwillig unter die Arme greifen würden. Da die lokalen Medien recht ausführlich über das hoffnungsvolle Anliegen des guten Mannes berichteten, wurde ihm beim Start ein fröhlich jubelndes Publikum beschert.
Kaum aber hatte er die Stadtgrenze erreicht, erlebte er sein blaues Wunder. Es begann damit, dass ein Wagen neben ihm anhielt. Die beiden Insassen fragten ihn, ob er der Mann sei, der beweisen wolle, dass die Menschheit gut sei. Der ahnungslose Menschenfreund bejahte die Frage und womöglich hoffte er insgeheim, ein paar aufmunternde Worte oder vielleicht sogar eine kleine Weggabe zu erhalten. Doch weit gefehlt! Die beiden Männer sprangen aus dem Wagen, schlugen unseren Helden nach Leibeskräften zusammen, beraubten ihn all seiner Habseligkeiten und warfen ihn anschließend – als letzten Gipfel der Boshaftigkeit – über die Brücke in den mehrere Meter darunter liegenden Fluss. Glücklicherweise kam der amerikanische Menschenfreund letztlich doch noch mit einem »blauen Auge« davon: Passanten entdeckten ihn wenig später, leisteten Erste Hilfe und brachten ihn in ein Krankenhaus, wo er sich allmählich von den Strapazen seines gescheiterten Experiments erholte.
Wie lautet die »Moral von der Geschicht’«? Sollen wir davon ausgehen, dass der Mensch im Kern eine »Bestie« ist, der man nicht ungestraft über den Weg trauen darf? Nun, eine solche Interpretation wäre zweifellos verkürzt, denn sie ignoriert die Hilfeleistungen, die dem verletzten Menschenfreund eben auch zuteilwurden. Lernen kann man aus der Anekdote jedoch, dass man mit einem »blauäugigen« Humanismus, der die Realitäten verkennt, nicht allzu weit kommen wird.
Denn die Natur ist kein Wunschkonzert. Der Mensch wird nicht gut, freundlich, hilfsbereit (wahlweise auch gottesfürchtig, asketisch, monogam), nur weil wir dies von ihm erhoffen. Gehen wir von falschen anthropologischen Voraussetzungen aus, werden unsere Pläne zwangsläufig scheitern. Wir benötigen daher eine realistische Sicht auf den Menschen – auch wenn uns das Spiegelbild, das uns die Forscher vor die Nase halten, nicht immer gefallen mag.
Da jede Weltanschauung ein eigenes Bild vom Menschen zeichnet, ist kaum ein Gebiet der Wissenschaft ideologisch so hart umkämpft wie das der Anthropologie (Lehre vom Menschen). Umso wichtiger ist es, dass wir uns darum bemühen, der Frage nach dem Wesen des Menschen möglichst vorurteilsfrei zu begegnen. Auf jeden Fall sollten wir uns davor hüten, wissenschaftliche Prinzipien bloß deshalb aufzugeben, weil wir selbst Gegenstand der Untersuchung sind.
Ein solcher vorurteilsfreier Blick fällt nicht nur religiösen Menschen schwer. Auch nichtreligiöse Humanisten haben ihre liebe Not damit, all die narzisstischen Kränkungen zu verkraften, die die wissenschaftliche Forschung der menschlichen Selbstverliebtheit zugefügt hat. Eine besondere Herausforderung stellt dabei die Aufhebung der »sakrosankten Trennlinie« dar, die der klassische Humanismus zwischen Mensch und Tier gezogen hatte. Schon Cicero (106–43), der Urvater des Humanismus, hatte die besondere »Würde« des Menschen in scharfer Abgrenzung zum Tier begründet. Doch ebendiese Abgrenzung wurde durch die evolutionsbiologische Forschung zunehmend obsolet.[1]
Der nackte Affe
»Ehemals suchte man zum Gefühl der Herrlichkeit des Menschen zu kommen, indem man auf seine göttliche Abkunft hinzeigte: dies ist jetzt ein verbotener Weg geworden, denn an seiner Tür steht der Affe.«[2] Mit diesen Worten versuchte Friedrich Nietzsche 1881 den dramatischen Perspektivwandel zu beschreiben, der durch die Veröffentlichung der Evolutionstheorie ausgelöst wurde. Über Jahrhunderte hinweg hatte sich der Mensch über das Tierreich erhaben gefühlt und daraus seine eigene Würde, Selbstachtung, Identität abgeleitet. Nun aber musste er sich selbst ins Tierreich einordnen. Die einstige Krone der Schöpfung entpuppte sich als ungeplante, zufällig entstandene Tierart, die sich von anderen Arten nicht grundlegend unterscheidet. Eine maßlose Enttäuschung, mit der sich viele bis heute nicht abfinden können.
Daher ist es nicht verwunderlich, dass noch immer Abermillionen von Menschen die Tatsache leugnen, dass wir von Affen abstammen. Der eigentliche Sachverhalt ist allerdings noch ein gutes Stück pikanter: Es ist nämlich nicht bloß so, dass unsere Vorfahren Affen waren, im biologischen Sinne sind wir Affen geblieben! Sogar die gängige Unterscheidung innerhalb der Menschenaffen-Familie (zwischen den Menschen einerseits und den Großen Menschenaffen andererseits) entbehrt jeder biologischen Grundlage: Schließlich sind wir Menschen mit den Schimpansen und Bonobos enger verwandt als diese mit den Gorillas.
Wenn man also die Familie der Großen Menschenaffen unbedingt in Unterfamilien aufteilen möchte, so müssten Menschen, Schimpansen und Bonobos zum einen Teil, Gorillas und Orang-Utans zum anderen Teil der Verwandtschaft gezählt werden. Schon allein dadurch wird die klassische Trennung zwischen Mensch und Tier hinfällig. Bildlich gesprochen sind Mensch und Schimpanse/Bonobo Geschwister, Gorillas gemeinsame Cousins, Orang-Utans Großcousins.[3] Wie eng die Verwandtschaftsbeziehung zwischen Mensch und Schimpanse tatsächlich ist (und wie absurd unsere hochnäsige Abgrenzung von »den« Tieren), mag das folgende Gedankenexperiment verdeutlichen:[4]
Stellen Sie sich vor, Sie reichen Ihrer Mutter die linke Hand, die wiederum ihrer eigenen Mutter die linke Hand gibt, die das Gleiche bei ihrer Mutter macht und so weiter und so fort. Auf diese Weise entsteht eine Menschenkette, vergleichbar mit jenen, die einst von Friedens- oder Umwelt-Aktivisten gegen die Stationierung von Raketen oder den Bau von Atomkraftwerken gebildet wurden – nur, dass diese spezielle Menschenkette ausschließlich aus Ihren weiblichen Vorfahren besteht. Gehen wir nun davon aus, dass jedes Individuum in dieser Kette genau einen Meter Platz für sich beansprucht und der durchschnittliche Abstand zwischen den Generationen 20 Jahre beträgt: Wie lange müssten Sie wohl die Reihe Ihrer Ur-Ur…-Großmütter entlanggehen, um auf jene bemerkenswerte Dame zu stoßen (nennen wir sie »Oma Chimpman«), die zugleich auch die Ur-Ur…-Großmutter der heutigen Schimpansen ist? Die Antwort ist verblüffend: Es sind bloß rund 300 Kilometer – etwa die Entfernung von München nach Würzburg oder von Hamburg nach Berlin.
Wohlgemerkt: Eine Kette von Vorfahren, die aneinandergereiht von München nach Würzburg und wieder zurück nach München führt[5] – das ist alles, was Sie von heutigen Schimpansen trennt! Das ist nicht sonderlich viel, sollte man meinen. Und doch bilden sich viele von uns ein, dass da irgendwo auf der Strecke zwischen Würzburg und München etwas Unglaubliches passiert sei: Irgendwer oder irgendwas soll irgendwann (man weiß nicht, wie, man weiß nicht, warum) eine »unsterbliche Seele«, einen »autonomen Geist«, einen »freien Willen« in eine dieser affenartigen Lebensformen eingehaucht haben.
»Ist ja ein Ding!«, denken Sie sich – und machen sich auf den Weg, um den Sachverhalt zu überprüfen. Sie gehen also Ihre mütterliche Ahnenreihe entlang, betrachten aufmerksam Generation für Generation, all die Mütter und Töchter, Großmütter und Enkelinnen, von denen Sie abstammen. Aber sosehr Sie sich auch bemühen, Sie werden in Ihrer Abstammungslinie keine plötzlichen Veränderungen finden, keinen Moment, in dem aus einem unbeseelten Wesen ein beseeltes würde. Sicher: Wenn ein Taxifahrer Sie alle dreißig Kilometer absetzen würde, würden Sie klare Unterschiede erkennen – nicht aber, wenn Sie den Weg Generation für Generation abgehen. Die Großmütter gleichen stets den Müttern, den Töchtern, den Enkelinnen und so weiter. Kurzum: Sie werden auf Ihrem Marsch entlang Ihrer Abstammungslinie exakt das feststellen, was Evolutionsbiologen seit Langem darlegen, nämlich: dass die Natur keine Sprünge macht. (Diese Erfahrung würden Sie selbstverständlich auch machen, wenn Sie die Kette Ihrer Ahnen noch ein gutes Stück weiter gehen würden, um schließlich auch noch auf Mama Reptil, Großmama Lurch und Urgroßmutter Fisch zu treffen, aber wir wollen das Gedankenspiel hier nicht überstrapazieren.)
Fakt ist: Die Unterschiede zwischen den Lebewesen in einer evolutionären Kette sind nur gradueller, nicht prinzipieller Art. Das, was uns als Menschen auszeichnet, ist nicht plötzlich vom Himmel gefallen, sondern das Ergebnis eines kontinuierlichen Prozesses kleinster Veränderungen. Oma Chimpman, die Ur-Ur-…Großmutter der heutigen Schimpansen und Menschen, unterschied sich zwar in vielem von uns, jedoch müssen wir annehmen, dass sie nicht nur genetisch im höchsten Maße mit uns verwandt war, sondern auch alle grundlegenden Emotionen und viele Verhaltensweisen mit uns teilte.
Als sich die Abstammungslinien von Mensch und Schimpanse vor etwa fünf...