1 Anatomie und Biomechanik
1.1 Chirurgische Anatomie der Hüfte
A. Prescher
1.1.1 Einleitung
Das Hüftgelenk, die Articulatio coxae, ist ein großes, wichtiges Gelenk des menschlichen Körpers, das von seiner Geometrie als typische Articulatio sphaeroidea mit 3 Freiheitsgraden der Rotation und 3 Hauptbewegungsachsen angesehen werden kann:
Da die Gelenkpfanne den Gelenkkopf bis über den Äquator umfasst, liegt jedoch eine Sonderform des Kugelgelenks vor, das Nussgelenk (Enarthrosis s. Articulatio cotylica). Das menschliche Hüftgelenk weist dadurch eine sehr starke Knochenführung auf. Im Hüftgelenk artikuliert das Caput femoris mit dem Azetabulum des Os coxae. Topografisch liegt das Hüftgelenk in der Regio coxae, die in 3 Unterregionen unterteilt wird ▶ [22]:
Leistenbeuge (Regio subinguinalis),
mediale Hüftregion (Regio obturatoria),
Gesäßgegend (Regio glutaealis).
1.1.2 Oberflächenanatomie
Die prominente Regio glutaealis wird kranial durch die Crista iliaca begrenzt, dorsal durch die Crena ani, ventral durch den Vorderrand des M. tensor fasciae latae und kaudal durch die Gesäßfurche, den Sulcus glutaeus. Der Sulcus glutaeus entsteht durch eine straffe Anheftung der Haut an den Sitzhalfter. Während der Spielbeinphase verstreicht der Sulcus glutaeus und erscheint dann wieder in der Standbeinphase. Zentral wird die Region durch die Sitzbacke dominiert, die beim Menschen ihre prominenteste Ausbildung erfahren hat. Anatomische Grundlage ist der M. glutaeus maximus und die gute Ausbildung des subkutanen Fettpolsters.
Wichtige, tastbare knöcherne Landmarken in der Regio coxae sind:
Spina iliaca anterior superior
Spina iliaca posterior superior
Crista iliaca, Tuber ischiadicum
Tuberculum innominatum (am weitesten nach lateral vorspringender Teil des Trochanter major)
Tuberculum pubicum.
Hilfslinien
Roser-Nelaton-Linie: Bei regelrechtem Hüftgelenk liegen Spina iliaca anterior superior, Spitze des Trochanter major und Tuber ischiadicum auf einer Linie.
Bryant-Dreieck: rechtwinkeliges, gleichschenkeliges Dreieck, dessen Hypotenuse von der V8erbindungslinie der Spitze des Trochanter major zur Spina iliaca anterior superior gebildet wird.
1.1.3 Anatomie der Articulatio coxae
1.1.3.1 Proximales Femurende
Das proximale Femurende ( ▶ Abb. 1.1a, ▶ Abb. 1.1b) ist durch das kugelige Caput femoris charakterisiert. Ziemlich zentral auf dem Kaput befindet sich die Fovea capitis femoris für den Ansatz des Lig. capitis femoris. Der Femurkopf geht nach lateral tailliert in das ventrodorsal abgeplattete Collum femoris über, das sich dann winkelig in den eigentlichen Femurschaft fortsetzt. Das proximale Femurende weist 2 typische Apophysen auf:
Trochanter major,
Trochanter minor.
Der mächtige Trochanter major dient wichtigen Muskeln als Ansatz und bildet somit einen funktionell außerordentlich bedeutsamen Hebel. Seine Spitze ist leicht nach innen gebogen und überragt die Fossa trochanterica. Von Bedeutung ist, dass diese Spitze am Patienten in der Regel nicht tastbar ist, da sie von mächtigen Muskeln überdeckt wird. Tastbar ist nur der am weitesten nach lateral vorspringende Punkt des Trochanters, der als Tuberculum innominatum bezeichnet wird.
Der posteromedial am unteren Ende der Crista intertrochanterica gelegene Trochanter minor dient als Insertionspunkt für die mächtige Sehne des M. iliopsoas.
Die beiden Trochanteren werden durch die über die Vorderseite des proximalen Femurendes verlaufende, schwach modellierte Linea intertrochanterica verbunden. An dieser Knochenlinie inseriert die Gelenkkapsel mit dem Lig. iliofemorale (Bertini). Auf der Rückseite kann die prominente Crista intertrochanterica gesehen werden. Etwas kaudal liegt die Tuberositas glutaea für die Insertion des M. glutaeus maximus. In manchen Fälle ist hier ein zusätzlicher Knochenhöcker, der Trochanter tertius, ausgebildet ( ▶ Abb. 1.1c).
Die Winkelbildung zwischen Collum femoris und eigentlichem Femurschaft, der sog. CCD-Winkel (Centrum-Collum-Diaphysenwinkel) beträgt beim Adulten normalerweise ca. 120–130°. Beim jungen Kinde werden hier noch 130° gemessen. Am alten Menschen kann es zu einer weiteren Abnahme des Winkels kommen. Liegt der Winkel unter 120°, wird von einer Coxa vara gesprochen, liegt er über 130°, von einer Coxa valga. Diese unterschiedlichen Ausprägungen des CCD-Winkels haben durchaus Folgen für die Belastung des Gelenkkopfs. Im Normalfall beträgt die Belastung der kranialen Gelenkkopffläche ~22 kp/cm². Bei der Coxa valga, wo die tragende Fläche deutlich abgenommen hat, werden jedoch ~27,5 kp/cm² gemessen. Durch diese hohe Belastung kann die Coxa valga somit zu einer präarthrotischen Deformität werden. Dies ist jedoch nicht zwangsläufig der Fall, da ein trotz Coxa valga genügend vom Pfannenerker überdachter Kopf wieder regelrechte Belastungsverhältnisse zeigen kann ▶ [21]. Bei der Coxa vara hingegen wird die tragende Fläche vergrößert, sodass die Belastung abnimmt. Sie beträgt ~16,5 kp/cm². Bei der Coxa vara werden jedoch die Hebelverhältnisse am proximalen Femurende ungünstiger, sodass das Biegemoment zunimmt und häufiger Schenkelhalsfrakturen resultieren ▶ [28]. Das Collum femoris weist weiterhin eine Antetorsion (Verdrehung des Collum femoris gegenüber der Querachse der Femurkondylen nach vorne) von ca. 12° auf.
Im Inneren des proximalen Femurendes ( ▶ Abb. 1.1d) haben wir einen ausgesprochenen Trajektorienbau. Es werden Zugtrabekel und Drucktrabekel unterschieden. Zwischen diesen beiden Gebieten findet sich eine trabekelarme Zone, das im Röntgenbild gut sichtbare Ward-Dreieck ▶ [38].
Proximales Femurende.
Abb. 1.1
Abb. 1.1a Von ventral.
1: Caput femoris
2: Collum femoris
3: Trochanter major
4: Tuberculum innominatum
5: Linea intertrochanterica
6: Trochanter minor
7: Walmsley’s ridge
Abb. 1.1b Von dorsal.
1: Trochanter major
2: Tuberculum innominatum
3: Crista intertrochanterica
4: Trochanter minor
5: Fossa trochanterica
6: Tuberositas glutaea
7: Linea pectinea
8: Collum femoris
Abb. 1.1c Von dorsal
1: Trochanter tertius
2: perifoveolärer Osteophyt als Zeichen einer beginnenden Arthrosis deformans
Abb. 1.1d Frontalschnitt durch proximales Femurende in Diaphanoskopie.
1: Zugtrabekel
2: Ward-Dreieck
3: Drucktrabekel
4: verdickte, mediale Kompakta, oft fälschlich auch als Calcar femorale bezeichnet.
Friedrich Merkel machte 1873 auf eine weitere Binnenstruktur des proximalen Femurendes aufmerksam, die als Schenkelsporn (Calcar femorale) bezeichnet wird. Es handelt sich um eine Knochenlamelle ( ▶ Abb. 1.2), die mit dem Erwerb des aufrechten Ganges erscheint und in der Gegend des Trochanter minor in das Lumen der Markhöhle vorspringt. Dieser Merkel-Schenkelsporn (Calcar femorale) ist in der Lauenstein-Projektion und in CT-Aufnahmen erkennbar ▶ [1], verliert sich aber bei sehr alten Personen. Die biomechanische Bedeutung dieser Struktur ist nicht...