EINLEITUNG
Mensch–Hund: Eine wundersam unentbehrliche Beziehung
Hunde bewirken wahre Wunder als Gefährten im Zusammenleben mit Kindern, Alten, aber auch mit Erwachsenen in der Rushhour ihres Lebens. Das meinen nicht nur die überzeugten Hundemenschen, das belegen in beeindruckender Weise auch die wissenschaftlichen Ergebnisse der letzten Jahre.
Wie kann „nur“ ein Tier für so viele Menschen derart wichtig sein? Ich bin überzeugt, dass das an unserer langen gemeinsamen Geschichte liegt. Seit mehr als 30 000 Jahren leben so gut wie alle Menschen in mehr oder weniger engem Kontakt zu Hunden. Will man Menschen verstehen, wäre es seltsam, die Beziehung zum Hund nicht mitzudenken und mitzuforschen – manche unter unseren Kolleginnen und Kollegen halten Hunde sogar in vielerlei Aspekten für geeigneter, das menschliche Sozialverhalten zu verstehen, als zum Beispiel die viel näher mit uns verwandten Schimpansen.
Umgekehrt können Hunde nicht verstanden werden, ohne den Menschen mitzudenken. Nicht dass sie es nicht wert wären, um ihrer selbst willen erforscht zu werden. Aber eigentlich ist es nicht zielführend, denn ohne den Menschen gäbe es sie nicht. Und so könnte das hoch konzentrierte Destillat aus diesem Buch lauten: Als domestizierte Wölfe haben sich Hunde derart eng an das Zusammenleben mit uns Menschen angepasst, dass sie als soziale Hybridwesen und Mittler irgendwo zwischen uns und den anderen Tieren stehen. Das ist ein Schluss, der nicht etwa dem vorurteilsbehafteten Hirn eines sentimentalen Hundefreundes entspringt, sondern der von den neuesten wissenschaftlichen Erkenntnissen untermauert wird.
Wobei die Wissenschaft Hunde in ihrer Beziehung zum Menschen erst spät als Forschungsgegenstand entdeckt hat. Zwar werden Hunde schon länger im Dienste der Wissenschaft eingesetzt, zum Beispiel als Laborhunde, um neue chirurgische Verfahren zu testen, bevor diese am Menschen angewandt werden. Doch die Verhaltens-, Evolutions- und Kognitionsforschung machte lange einen weiten Bogen um privat gehaltene Hunde: Was könne man von einem domestizierten Tier schon lernen? Und all diese Hundebesitzer und -besitzerinnen in ihren anstrengenden Spielarten, all die vielen unterschiedlichen Bedingungen, unter denen Hunde mit ihren Menschen leben … Das sei nicht untersuchbar, da nicht standardisierbar. So dachten noch vor zwei Jahrzehnten die meisten meiner Kolleginnen und Kollegen.
Doch dieses Bild hat sich gründlich gewandelt. Ab 1990 machten vor allem Vilmos Csányi, Adam Miklósi, Josef Topál und deren Team an der Eötvös-Universität in Budapest auch privat gehaltene Hunde in der Forschung salonfähig. Den knappen Mitteln geschuldet, erkannten sie in Kumpanhunden eine günstige Ressource zur Beantwortung höchst spannender wissenschaftlicher Fragen, auch was das Sozialleben des Menschen betrifft. Das ungarische „Family Dog Project“ wurde zum Vorreiter einer Forschung, die sich rasch um die ganze Welt ausbreitete und die gerade in den letzten paar Jahren noch deutlich an Fahrt aufgenommen hat. Von all den Gruppen, die sich weltweit mit Hunden beschäftigen, gehören zweifellos die in Budapest und wir in Wien zu den produktivsten. Darum wird hier auch immer wieder von ihren und unseren Ergebnissen zu lesen sein.
Dieses Buch konzentriert sich auf die sozialen und geistigen Fähigkeiten der Hunde und darauf, wie wir Menschen von ihnen profitieren können – und hoffentlich sie von uns. Geistige und soziale Fähigkeiten sind nur aus dem evolutionären Zusammenhang heraus zu erklären. Nicht nur bei Menschen und Wölfen müssen die Ökologie und das Sozialsystem mitgedacht werden, sondern auch bei Hunden. Deren relevanter „ökologischer“ Kontext ist der Mensch und seine Kulturumgebung.
Beginnen möchte ich Kapitel 1 mit einer ganz persönlichen Schilderung jener Ereignisse in meinem Leben und meiner Forschung, die mich immer mehr in das Thema Hund– Mensch hineinzogen haben. Außerdem werde ich von den vielfältig positiven Wirkungen von Hunden auf die geistige und körperliche Gesundheit von Menschen aller Altersstufen berichten.
In Beziehung zu Hunden fühlen sich Menschen nicht nur subjektiv wohler als Leute ohne Hund, sie sind auch tatsächlich aktiver, sozial besser vernetzt und gesünder, wie umfassende und weltweite Studien zeigen. Wachsen Kinder mit einem Hundegefährten auf, bedeutet das Vorteile für ihre körperlichen, geistigen, emotionalen und sozialen Fähigkeiten, für ihr Selbstbewusstsein und ihre Verantwortung für andere. Kinder und Hunde, Menschen und Hunde, gehören deshalb zusammen.
Besonders stark und auf vielfältige Weise profitieren Personen in herausfordernden Lebenssituationen von einem Leben mit Hund: vom Kleinkind in schwierigen Familienverhältnissen über Kranke bis hin zu allein lebenden Alten. Zu den Vierbeinern fassen auch jene Kinder und Erwachsene Vertrauen, denen in früher Kindheit keine optimale Zuwendung zuteilwurde. Hunde erleichtern es, emotionale Beziehungen zu anderen Leuten zu entwickeln und mit dem Unbill des Lebens zurechtzukommen. Darum werden Hunde auch immer häufiger als Assistenten im Rahmen unterschiedlichster Therapien eingesetzt.
Das Leben mit Hund schützt zudem wirksam gegen Altersdepression. Eigentlich eine sensationelle Nachricht, denn Altersdepressionen machen unselbstständig und töten. Fehlen nachhaltig Antrieb, soziale Kontakte, Regelmäßigkeit und Sinn, wird es gefährlich. Eine balancierte Emotionalität hingegen gilt als wichtigste Basis für ein langes und gesundes Leben.
Hunde sind ausgezeichnete „soziale Schmiermittel“. Für ein altes Ehepaar bildet ihr Hund den Fokus der gemeinsamen Fürsorge, und über den Hund bleiben Menschen mit anderen in ihrem Umfeld verbunden.
Hunde geben genau die Zuwendung, die besonders alte Menschen dringender brauchen als ein Stück Brot – bedingungslos, nicht von Äußerlichkeiten, von Schönheit oder geistiger Brillanz abhängig. „Aschenputteleffekt“ wird das genannt. Und wenn Aschenputtel ein wenig vergesslich wird, ist das dem Hund auch egal.
Beinahe könnten in Sozialberufen tätige Menschen auf den sozialen Wunderwuzzi Hund eifersüchtig werden. Denn die positiven Effekte von Hunden als Sozialgefährten sind so gut belegt, dass etwa im amerikanischen Rechtssystem Eltern wegen sozialer Deprivation geklagt werden können, wenn sie ihrem Kind zugemutet haben, ohne Hund aufzuwachsen.
In Kapitel 2 widme ich mich der Frage, warum Hunde für uns in einer aus den Fugen geratenden Welt so wichtig sind, um die Bodenhaftung nicht zu verlieren. Offensichtlich sind Hunde für den modernen Menschen ja nicht so sehr Arbeits-, als vor allem Sozialkumpane. Entsprechend wird es in diesem Buch auch eher um Hunde gehen, die „zu nichts nütze“ sind: Die nicht täglich Menschen aus Trümmern oder Lawinen retten oder Verbrecher fangen, sondern die einfach nur „da“ sind.
Warum Hunde heute so wichtig sind, mag viele Gründe haben. Einer ist aber sicher, dass wir uns im Spiegel von Hunden auch als Menschen deutlicher erkennen. Viele Leute gefallen sich in ihrer Rolle als ach so rationaler moderner Mensch. Aber es braucht nicht viel, um den Kern des Menschseins freizulegen: eine immer noch tiefe Verwurzelung in der Natur, in den Emotionen und letztlich auch in der Spiritualität. Menschen sind prinzipiell auf der Suche, meist nach sich selbst, immer aber nach dem Glück. Noch nie lebten so viele Menschen gleichzeitig, noch nie waren wir anthropozentrischer, also stärker auf uns Menschen konzentriert als heute. In dieser komplexen, oft Angst machenden Zeit übernehmen Hunde immer öfter die Rolle eines „emotionalen Blindenhunds“ oder eines „sozialen Pfadfinders“.
In Kapitel 3 werden wir sehen, wie sich Hunde im Laufe der Zeit an ein Zusammenleben mit uns Menschen angepasst haben: Welche Fähigkeiten sie entwickelt, welche sie im Laufe der Hundwerdung im Vergleich zum Wolf verloren haben. Aus den vielen kleinen Puzzlesteinen der Forschung möchte ich hier ein möglichst klares Bild der gegenwärtigen Erkenntnisse zu Wölfen und Hunden zeichnen. Hier wird auch viel von unserer Forschung in Ernstbrunn mit handaufgezogenen Wölfen und Mischlingshunden die Rede sein.
In Kapitel 4 geht es auch um die Gründe, warum Menschen mit Hunden nicht nur leben wollen, sondern dies auch können, teilen wir doch zumindest innerhalb der Säugetiere einen erheblichen Teil jener Strukturen und Mechanismen in Gehirn und Physiologie miteinander, die uns das innerartliche Sozialsein mit Menschen ermöglichen. Hunde sind also nicht irgendwelche an uns angepasste „Aliens“. Sozial und emotional ticken sie weitgehend so wie wir.
Es ist sogar vorstellbar, dass in einer Art Koevolution Hunde Beiträge zur menschlichen Sozialentwicklung geliefert haben. Der Nachweis ist schwierig, denn seit 35 000 Jahren gibt es keine Menschen ohne Hunde, es fehlt also eine „Kontrollgruppe“. Menschen sind ob der langen gemeinsamen Geschichte ohne Hunde aber zumindest unvollständig....