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Es gibt ein Foto von mir. Meine ältere Cousine hält mich am Tag meiner Taufe auf dem Arm. Ich bin ein kleines Kind in einem langen weißen Satinkleid. Wir sitzen auf einer Couch mit Plastikbezug in New York. Auf diesem Foto ist meine Cousine älter, vielleicht fünf oder sechs. Ich krümme mich in besinnungsloser Babywut und verrenke dabei Arme und Beine.
Ich bin dankbar dafür, dass es so viele Kinderfotos von mir gibt, weil es so vieles gibt, was ich inzwischen vergessen habe.
Es gibt viele Jahre meines Lebens, an die ich keinerlei Erinnerung habe. Jemand aus meiner Familie sagt: »Weißt du noch [hier kann fast jedes wichtige Familienereignis eingesetzt werden]?« Und ich kann mein Gegenüber nur ratlos anschauen, denn ich erinnere mich an absolut nichts. Wir teilen eine Geschichte und doch auch wieder nicht. Das ist in vielerlei Hinsicht die beste Beschreibung der Beziehung zu meiner Familie und zu fast jedem Menschen in meinem Leben. Es gibt das übergeordnete Leben, das wir teilen, und dann die schwierigeren Teile meines Lebens, die wir nicht teilen und von denen sie alle sehr wenig wissen. Woran ich mich erinnere und woran nicht, folgt keiner Logik oder Struktur. Dass ich so viel vergesse, ist seltsam, denn es gibt Momente in meiner Kindheit, an die ich mich so deutlich erinnere, als wären sie gestern passiert.
Ich habe ein gutes Gedächtnis. Ich kann mich noch Jahre später fast wörtlich an Gespräche erinnern, die ich einmal mit Freunden und Freundinnen führte. Ich erinnere mich daran, dass die Haare meiner Lehrerin in der vierten Klasse platinblond waren und dass ich in der dritten Klasse Ärger bekam, weil ich während des Unterrichts aus Langeweile ein Buch las. Ich erinnere mich an die Hochzeit meiner Tante und meines Onkels in Port-au-Prince und dass mein Knie nach einem Mückenstich so dick wurde wie eine Orange. Ich erinnere mich an Gutes. Ich erinnere mich an Schlechtes. Wenn ich muss, kann ich Erinnerungen auslöschen, und das habe ich manchmal, wenn es nötig war, getan.
Ich habe mehrere Fotoalben mit Bildern aus dem Haus meiner Eltern mitgenommen, Alben voller vergilbter Kinderfotos von meinen beiden Brüdern und mir. Die digitale Ära war noch nicht angebrochen, und doch scheint es, als sei fast jeder Augenblick meines Lebens fotografiert und jedes Foto entwickelt und sorgfältig archiviert worden. Auf jedem Album steht eine große Zahl mit einem Kreis darum. In vielen Alben gibt es kurze Bildunterschriften mit Namen und Angaben zu Alter und Orten. Es ist, als hätte meine Mutter gewusst, dass diese Erinnerungen aus einem bestimmten Grund aufbewahrt werden müssen. Sie hat meine Brüder und mich mit eisernem Willen und ihrem ganz eigenen Charme erzogen. Die Leidenschaft ihrer Liebe und ihrer Hingabe ist bemerkenswert, und diese Leidenschaft wird stärker, je älter wir werden. Als ich klein war, legte meine Mutter diese Alben mit größter Sorgfalt an. Immer wenn eines vollgeklebt war, kaufte sie das nächste und klebte es ebenfalls voll.
Meine Mutter hat die Leerstellen meiner Kindheit auszufüllen versucht, auch wenn ihr nicht bewusst war, dass sie es tat. Sie erinnert sich an alles, jedenfalls kommt es mir so vor oder jedenfalls war es so, bis ich mit dreizehn auf ein Internat kam, und dann gab es niemanden mehr, der meine Erinnerungen für mich aufbewahrte.
Meine Mom fotografiert auch heute noch alles Mögliche und hat über zwanzigtausend Fotos auf Flickr, Bilder von ihrem Leben und von unserem Leben und den Menschen und Orten unseres Lebens. Bei der Verteidigung meiner Doktorarbeit war sie da, natürlich mit ihrer Kamera, vor Stolz ließ sie mich nicht aus den Augen, schoss alle paar Minuten ein Bild, um jede Sekunde dieses wichtigen Ereignisses festzuhalten. Bei einer Lesung aus meinem ersten Buch in New York war sie auch wieder da, mit ihrer Kamera, fotografierte, dokumentierte ein anderes wichtiges Ereignis.
Viele Leute bemerken, dass ich selbst ständig alles fotografiere. Ich sage ihnen, dass ich das tue, um all das Schöne, das ich sehe und erfahren darf, nicht zu vergessen, um es nicht vergessen zu können. Ich erkläre ihnen nicht, dass mir Erinnerungen heute wichtiger sind, weil mein Leben anders geworden ist. Tatsächlich ist es mehr als das. Ich bin in so vielerlei Hinsicht die Tochter meiner Mutter, dass selbst unendlich viele Worte nicht ausreichen würden, um unsere Ähnlichkeit zu beschreiben.
Der Einband meines Babyalbums ist weiß mit glitzernden Punkten. »Es ist ein Mädchen!«, prangt in großen Buchstaben darauf. Auf der ersten Seite stehen die Namen meiner Eltern, mein Geburtsdatum, meine Größe und mein Gewicht sind verzeichnet, meine Haar- und Augenfarbe. Es gibt zwei schwarze Abdrücke meiner kleinen Füße, darüber steht: »Ein Gay-Mädchen«. Ich kam morgens um 7 Uhr 48 auf die Welt, weshalb ich, da bin ich mir sicher, kein Morgenmensch bin. Unter der Überschrift »Aufregende Momente im Leben unserer Kleinen« sind alle vorgedruckten Linien ausgefüllt mit meinen ersten winzigen Erfolgen. Offensichtlich kannte ich mit zweieinhalb schon alle Buchstaben des Alphabets und konnte mit drei die Uhr lesen. Stolz schrieb meine Mutter: »Mit fünf liest sie schon fast alles.« Genau so steht es dort geschrieben, in ihrer schönen, akkuraten Handschrift, obwohl man sich heute in meiner Familie erzählt, dass ich schon anderthalb Jahre früher mit meinem Dad zusammen die Zeitung studierte.
In den ersten fünf Jahren meines Lebens dokumentierte meine Mutter regelmäßig meine Größe und mein Gewicht. Ich hatte einen großen dreieckigen Kopf, was bei einem erstgeborenen Kind gelegentlich vorkommt. Meine Mutter sagt, dass sie Stunden damit verbrachte, meinen Neugeborenen-kopf in eine rundere Form zu streicheln. Im Omaha World-Herald stand am 28. Oktober 1974, dreizehn Tage nach meinem Geburtstag, eine Geburtsanzeige, die sich ebenfalls in dem Album befindet, neben der Geburtsurkunde und der kleinen Karte, die mein Bettchen im Krankenhaus zierte. Meine Mutter war fünfundzwanzig und mein Vater siebenundzwanzig, sie waren so jung, wenn auch für diese Zeit, in der viele andere viel früher Familien gründeten, nicht besonders jung. Auf der Geburtsurkunde ist mein Vorname richtig geschrieben, mit einem n, und das Papier ist rosa. Ein differenziertes kulturelles Geschlechterverständnis gab es damals nicht – Mädchen waren rosa und Jungen blau, und damit war der Fall erledigt.
Auf dem allerersten Bild von meiner Mutter und mir hält sie mich auf dem Arm, und ihr tiefschwarzes Haar fällt in einem dicken Pferdeschwanz über ihren Rücken. Sie sieht ungeheuer jung und wunderschön aus. Ich bin drei Tage alt. Eigentlich ist es nicht das erste Bild von uns beiden. Es gibt noch ein Foto meiner Mom mit riesigem Babybauch. Sie trägt einen schicken blauen Minirock und hohe Schuhe mit klobigen Absätzen. Ihr Haar trägt sie offen und wild. An ein Auto gelehnt schaut sie den Fotografen, meinen Vater, mit einem so innigen Blick an, dass ich weglaufen will, um ihr vertrautes Zusammensein nicht zu stören. Sie hat dieses Foto in das Album geklebt, obwohl sie zu den diskretesten Menschen gehört, die ich kenne. Sie wollte, dass ich dieses wunderschöne Bild sehe, damit ich weiß, dass sie und mein Vater sich immer geliebt haben.
Diese Fotos sind schon so alt, dass die Seiten des Albums an ihnen zusammenkleben. Wenn man sie entfernen würde, würden sie kaputtgehen.
Jedes Bild, auf dem ich als Kleinkind mit meinen Eltern zu sehen bin, zeigt sie mit einem Lächeln, als wäre ich das Zentrum ihrer Welt. Das war ich. Das bin ich. Eine Sache, die ich ganz sicher über mich weiß, ist, alles, was gut und stark an mir ist, beginnt mit meinen Eltern, absolut alles. Fast jedes Foto von mir als kleines Kind zeigt mich mit einem so ansteckenden Lächeln, dass ich heute noch zurücklächeln muss, wenn ich sie betrachte. Es gibt solche und andere glückliche Babys. Ich war ein glückliches Baby. Das ist nicht zu bestreiten.
Babys sind süß, aber eigentlich zu nichts zu gebrauchen, sagt meine beste Freundin. Sie können nicht besonders viel alleine tun. Man muss sie für ihre Nutzlosigkeit lieben. Auf den Bildern, auf denen ich allein zu sehen bin, sitze ich gestützt von einer Stuhllehne oder ein paar Kissen. Auf einem Bild sitze ich auf einer hässlich gemusterten roten Couch. Ich bin allein und schreie mir offenbar die Seele aus dem Leib. Es gibt mehr als ein Bild von mir, wie ich mir die Seele aus dem Leib schreie. Bilder von schreienden Babys sind lustig, wenn man weiß, es sind Bilder von glücklichen Babys, die einfach einen kindischen Wutanfall haben. Ich betrachte diese Babyfotos und denke: Ich sehe aus wie meine Nichte, aber eigentlich sieht meine kleine Nichte so aus wie ich. Familie ist etwas Großes, dagegen kommt man nicht an. Man ist für immer miteinander verbunden, durch Augen und Lippen und Blut und unsere blutigen Herzen. Als ich drei war, wurde mein Bruder Joel geboren. Es gibt Fotos von ihm, wie er neben mir sitzt oder steht, braun und rundlich, mit dichtem schwarzem Haar.
Als erwachsene Frau habe ich mir diese Alben oft angeschaut. Ich versuchte, mich zu erinnern. Zuerst fahndete ich nach Bildern, die ich einem eigenen Kind zeigen könnte, um ihm zu sagen: »Da kommst du her.« Wenn ich dieses Kind hätte, sollte es wissen, dass seine Familie weiß, wie man liebt, wie unvollkommen auch immer. Es sollte wissen, dass ihre Mutter immer geliebt worden ist, und es sollte wissen, dass deshalb auch es selbst immer geliebt werden wird. Es ist wichtig, einem Kind zu zeigen, dass man es liebt, auf jegliche Art und Weise. Und das ist etwas, was ich ihm geben kann, ganz egal, wie dieses Kind in mein Leben treten wird. Später begann ich, die Fotos hinsichtlich der Menschen, die ich darauf sah,...