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E-Book

I am not animal

Die Schande von Calais

AutorHammed Khamis
VerlagFrohmann Verlag
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl124 Seiten
ISBN9783944195766
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis4,99 EUR
Ein YouTube-Video über den »Dschungel«, das autonome Camp für Geflüchtete in Calais, lässt Hammed Khamis nicht mehr los. Mit dem unbestimmten Wunsch zu helfen macht sich der Streetworker aus Berlin-Wedding mit 175 EUR in der Tasche auf den Weg nach Frankreich. Weil er Arabisch spricht und die entsprechenden >Looks< hat, findet er unmittelbar Zugang zu den Menschen vor Ort, teilt auch deren schlechte Erfahrungen mit Ordnungshütern und besorgten Bürgern. Nach Berlin kehrt er barfuß zurück. Khamis' berührendes Buch hat sich während des Produktionsprozesses von einem tagesaktuellen in ein historisches Zeugnis verwandelt. Das Lager wurde im Januar 2016 von der französischen Polizei geräumt: Europa hat das Dschungelcamp verlassen. An der kulturellen Vermittlungskraft des Buches ändert dies nichts. Die Reihe >An einem Tisch< wird herausgegeben von Asal Dardan, Christiane Frohmann und Michaela Maria Müller.

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Leseprobe

Tag 3: Falsche Freunde


 

Irgendwie geht mein Auto kaputt. Ich weiß noch nicht einmal, was genau daran nicht in Ordnung ist. Aber zum Glück passiert das in Essen und nicht auf dem Weg nach Frankreich. Und dann will mir der Typ von Western Union die Überweisung für den Reis, den ich in Calais an die Geflüchteten verteilen soll, nicht rausgeben, weil mein Name falsch geschrieben ist. Diese Fahrt scheint wie verflucht. Und nun hat auch noch die Sängerin, die mich mit ihrem Auto mitnehmen wollte, seit drei Stunden ihr Handy aus. Ich stehe vor der Wohnung meines Freundes in Essen und bin kurz vorm Kotzen. Wenn die nicht in der nächsten Stunde hier eintrudelt, dann fahr ich mit dem Zug los oder ich trampe.

Alle meine Freunde haben mich gefragt, was ich dort in diesem Camp in Calais eigentlich will. Die Medien haben doch schon darüber berichtet. Für manche ist das eine berechtigte Frage; für mich aber ist das unglaublich dumm. Jeder Autor hat seinen eigenen Weg, etwas darzustellen. Warum soll ich das nicht auch tun? Außerdem kann ich mein Wort nicht brechen. Ich habe gesagt, dass ich da hinfahren werde, also fahre ich auch da hin.

Mein Handy klingelt und die Sängerin ist dran. In gebrochenem Deutsch sagt sie mir, dass sie am Bahnhof in Essen sei. Schnell eile ich dorthin, um keine Zeit zu verlieren. Drei Stunden fahren wir auf der Autobahn Richtung Westen und es passiert irgendwie nichts. Noch vierzig Kilometer bis Calais. Dann sehe ich ganz hinten am Horizont eine Gruppe von fünf Menschen auf der Autobahn laufen. Das müssen die ersten Geflüchteten sein. Es geht los. An einer Raststätte bestätigt sich meine Vermutung. Ich steige kurz aus, grüße die Jungs und mache ein paar Fotos. Die Sängerin und ich haben noch kein Hotel. Wir verabschieden uns von den anderen, um noch bei Licht anzukommen, und versprechen, dass wir uns wiedersehen.

Das mit dem Licht hat schon mal nicht geklappt. Also schlafen wir jetzt im Auto, auf einem Parkplatz direkt am Meer. Bevor ich mich hinlege, laufe ich noch einmal ans Wasser, um in mich zu gehen. Calais ist wunderschön. Es wirkt sehr friedlich. Hier sieht es nicht wilder aus als in Stuttgart. Alles schön ordentlich geschnitten und kein Müll auf der Straße. Die Meeresluft tut mir gut. Was auch immer morgen losgehen wird, ich bin bereit. Eins aber ist mir klar. Planen kann man hier nichts. Es kommt ja doch immer anders.

 

Am nächsten Morgen in einem Restaurant offenbart mir meine Begleiterin beim Frühstück, dass sie sich das Ganze ein wenig anders gedacht habe.

 

Das mit den Flüchtlingen habe ich mir anders vorgestellt. Hotel, Strand und Kostenübernahme und so.

 

Sie will diskutieren. Auf so eine Scheiße habe ich jetzt aber keinen Bock. Also nehme ich meinen Koffer und meinen Rucksack aus ihrem Auto und verabschiede mich, während ich in Richtung Westen auf die Landstraße zugehe. Zum Glück habe ich das Benzin hierher bezahlt, denke ich noch kurz. Aber egal. Keine Diskussionen. Ich darf mein Ziel nicht aus den Augen verlieren. Apropos Ziel: Wo bin ich hier eigentlich? Erst einmal loslaufen. Und bloß nicht nach hinten gucken. Auch bloß nicht in die Geldbörse gucken. Denn darin sind nun nur noch 175 Euro, abzüglich der Tankkosten von Essen bis hierher.

 

Auf der Landstraße laufen alle drei- bis vierhundert Meter kleine Gruppen von Geflüchteten in Richtung eines großen Parkplatzes. Ich schließe mich an. Mal sehen, was ich dort in Erfahrung bringen kann. Auf dem Parkplatz neben der Autobahn lerne ich eine Gruppe Sudanesen kennen. Sudanesen sprechen immer Arabisch, und sie sind immer sehr freundlich. Einer der Geflüchteten ist so müde, dass er sich auf den bloßen Teer zum Schlafen gelegt hat. Ich spreche einen dünnen Mann in einem Filzmantel an, der mir entgegen lacht. Sein Name ist Anwar Ali. Er ist wie fast alle auf dem Parkplatz hier aus dem Sudan.

 

 

 

 

Anwar erklärt mir, dass er heute in der Dämmerung versuchen wird, über die Autobahn und die Zäune zum Tunnel durchzukommen. Dort will er dann auf einen Zug springen. Das kann ich mir irgendwie nicht bildlich vorstellen. Also bitte ich Anwar, mich dorthin zu bringen und mir zu zeigen, wie er das anstellen will. Anwar schaut auf meinen Koffer und lacht. Er fragt, ob ich das alles mitnehmen will. Jetzt erst wird mir klar, dass Anwar mich ebenfalls für einen Geflüchteten hält. Während wir meinen Koffer in einem naheliegenden Gebüsch verstecken, erkläre ich Anwar, dass ich deutscher Staatsbürger bin und meine Flucht glücklicherweise vor meiner Geburt von meinen Eltern erledigt worden war.

Nach gefühlten drei Kilometern und über mehrere Autobahnen und Weideflächen hinweg erreiche ich mit Anwar einen Kontrollposten in der Nähe des Tunnels. Der Polizeibeamte erklärt mir, dass ich weiter kann, mein Begleiter aber zurückgehen müsse. Es gäbe hier eine Zone um den Tunnel herum, wo sich Geflüchtete nicht aufhalten dürften. Der Beamte erklärt mir aber auch, dass die Geflüchteten nicht versuchen, in den Tunnel zu rennen, sondern eher auf einen der fahrenden Güterzüge springen, um in der Sicherheit der Nacht nach England zu gelangen.

Ein Sudanese hat es geschafft, zu Fuß in den Tunnel zu gelangen. Er war schlau. Nein, er ist schlau. Denn er lebt noch. Er hat die ganzen fünfzig Kilometer zu Fuß hinter sich gebracht und ist am Ende in Großbritannien verhaftet worden. Der sitzt jetzt ein. Aber abschieben können sie ihn nicht. In seinem Land herrscht Krieg.

Als der Beamte sieht, dass ich lächle, lässt er seine strenge Miene sein und holt eine Schachtel Zigaretten aus der Hemdtasche. Er bietet mir sogar eine an. Bevor ich meine Kamera zücken kann, stürmt einer seiner Kollegen aus dem Polizeibus, der etwa zwanzig Meter von uns entfernt steht. Dieser Beamte ist nicht so freundlich wie der erste. Mit den Worten Go away, go away! markiert er mal eben den Sheriff. Zu Hause bei seiner Frau würde er sich so einen Ton wohl nicht erlauben dürfen.

Ich konnte solche Typen noch nie leiden. Deswegen kann ich mir nicht verkneifen, ihm zum Abschied noch einen Spruch mit auf den Weg zu geben. Ich frage ihn, ob er der Beamte sei, der die Geflüchteten immer mit der Einliterflasche Pfefferspray besprüht. Ich hätte das im Fernsehen gesehen und sei mir ziemlich sicher, dass er es sein müsse. Jetzt gucken mich beide Polizisten ziemlich böse an. Ich habe zwar noch keinen Schlafplatz, aber eine Zelle entspricht nicht meinen Vorstellungen. Also halte ich die Klappe und drehe mich um, um wegzugehen.

Anwar hat zwar kein Wort verstanden, aber er lacht mich an und schaut dabei auf meine Zigarette. Diese rauchen wir jetzt auf dem Rückweg zusammen. Auf dem Weg zu meinem Koffer im Gebüsch erzählt mir mein neuer Freund alle Versionen gescheiterter Einreiseversuche. Von unzähligen Beinbrüchen über den Tod in einer Stromleitung des Zugs bis hin zu einer von einem LKW überfahrenen Frau gibt es hier viele Beispiele, wie Menschen ihr Leben lassen, um ans Ziel zu kommen. Ich versuche, Anwar von seinem Vorhaben abzubringen. Aber er bleibt stur. Wenn er es an der Patrouille vorbeischafft, dann wird er springen.

 

Entweder England oder den Tod. Wir sind doch eh tot, wenn die uns in den Sudan abschieben.

 

Ich kenne Anwar noch nicht gut. Aber ich denke, dass er ehrlicher ist als die meisten Personen, die ich in der letzten Woche getroffen habe. Anwar will sich nicht auf Kosten anderer Menschen profilieren oder ein tolles Foto in Calais machen, wie ich es will. Nein, Anwar will einfach nur frei sein. Und dafür ist er bereit, alles zu riskieren. Ich schenke Anwar ein T-Shirt und verabschiede mich in Richtung Innenstadt.

Das sind jetzt sieben oder acht Kilometer bis nach Calais. Ich will unbedingt ein Hotel in der Nähe des Zentrums. Da finde ich sicher schnell Anhang. Vielleicht Journalisten mit Auto oder dergleichen? Aber bevor ich danach suche, finde ich erst etwas anderes. Die Gastfreundschaft der Einwohner von Calais. Oder besser gesagt, ich finde sie nicht.

Irgendwo in der Stadt scheint ein Straßenfest oder eine Kirmes zu sein. Überall laufen Familien mit Kind und Kegel umher. Alle gucken mich an, als wäre ich ein Alien und hätte grüne Haut. Das gefällt mir nicht. Erst als ich das...

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