Der Bundestrojaner
«Was haben Sie gemacht?»
«Nix!»
Diese Antwort kommt immer als Erstes. Häufig so schnell, da habe ich das Wort «gemacht» noch gar nicht ausgesprochen. Die Kunden klingen dann wieder wie Schüler, die vom Lehrer beim Rauchen erwischt wurden und so tun, als wäre nichts gewesen, während ihnen die Wölkchen aus Nase und Ohren puffen.
Sogar Herr Grütering benimmt sich so, mein Stammkunde am anderen Ende der Leitung. Dass er die Schulbank gedrückt hat, ist sicher locker vierzig Jahre her. Heute gilt der tüchtige Hüne als einer der erfolgreichsten Familienunternehmer des Münsterlandes. Sein kleines Imperium für Brennholz und Heizöl führt er mit eisernem Regiment. Vor dem Rechner allerdings, da ist er wieder der sich verteidigende Neuntklässler.
«Ehrlich», sagt er, «ich hab nix gemacht!»
Mein Kollege Wulf trottet von der Werkstatt zum Empfang und zieht sich einen Kaffee an unserem Vollautomaten, dem ganzen Stolz des Büros. Wulfs Sorte ist bereits voreingestellt, aber er dreht trotzdem ein wenig am Regler. Im Graphik-Display der Maschine erscheinen die verschiedenen Getränke und Tassengrößen. Wulf schmunzelt. Er muss gar nicht hören, was der alte Grütering gerade sagt. Er weiß es auch so.
«Herr Grütering», sage ich, «wissen Sie noch, was Sie mir mal über Ihr Geschäft erklärt haben?»
Grütering stutzt.
«Über den Erfolg», helfe ich ihm auf die Sprünge.
«Ach so», erinnert sich der alte Grütering, und es knirscht, als er sich daheim in seinem alten Bürostuhl aufrichtet. «Ja, sicher, mein Junge. Erfolg ist das Ergebnis von Handlungen, nicht von frommen Wünschen. Deswegen heißt es auch Händler und nicht Wünscher.»
«Genau», stachele ich ihn an, «es ist wie in der Physik, haben Sie gesagt, wissen Sie noch?»
«Ursache und Wirkung!», ruft er.
«Sehen Sie», atme ich erleichtert aus, tatsächlich wie ein Lehrer, der seinem Schüler die binomische Formel aus der Nase zieht. «Und genauso ist das auch bei Computern. Die gehen nicht von alleine kaputt. Ursache und Wirkung.»
«Hm», brummt der alte Grütering, kurz und heftig. Es klingt, als sei ein Motorboot ohne Poller vor den Steg gefahren.
«Also, überlegen Sie noch mal. Was haben Sie gemacht?»
Grütering überlegt.
Er hat mich verstanden.
GOLDENE REGEL IM UMGANG MIT KUNDEN:
Hole den Kunden immer dort ab, wo er steht. Sprich in den Bildern und Gleichnissen seiner Lebenswelt.
In seinem braun vertäfelten Büro ruckt Herr Grütering seinen mächtigen Leib zurecht. Ich kenne den Kellerraum, weil ich dem Mann dort damals seinen Arbeitsplatz eingerichtet habe. Der riesige Landmarkt mit dem Holzverkauf und der Tankstelle, an der man mit dem Lkw oder dem Trecker sowohl Heizöl als auch Diesel tanken kann, liegt nur eine Wiese weit von seinem rustikalen Wohnhaus entfernt. Sein Büro hat er bis heute nicht in den Betrieb verlegt.
«Und?», hake ich behutsam nach. «Wissen Sie jetzt, was Sie gemacht haben?»
Der alte Grütering schnauft.
Räuspert sich …
… und sagt?
«Nix!»
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Jede Wirkung hat eine Ursache. Definitiv. Glauben Sie es mir. Lassen Sie den Gedanken zu. Sie müssen nicht aus Prinzip dagegen sein. Sie sind nicht mehr in der Schule. Ihr IT-Berater ist Ihr Dienstleister, nicht Ihr Lehrer. Sie sind Kunde und König, nicht Schüler und Prüfling. Lehnen Sie sich daher bei Computerproblemen zurück, atmen Sie tief durch und erinnern Sie sich daran, was Sie gemacht haben, bevor der Fehler auftrat. Es wird auch keine Strafarbeiten geben.
Da Gottfried Grütering mir bis heute nicht erlaubt hat, meine Software für die Fernwartung auf seinem Rechner zu installieren, verabreden wir uns für 14 Uhr in seinem Büro. Den Rest des Tages kann ich somit knicken. Denn selbst, wenn das Problem an sich nur eine Viertelstunde beanspruchen sollte, verlässt niemand die heiligen Hallen des Gottfried Grütering unter zwei Stunden Plauderei über den neuesten Klatsch und Tratsch im Dorf. Männlicher Klatsch und Tratsch selbstverständlich. Es geht um die Jagd, den Schützenverein und die erschütternde Tatsache, dass der lokale Fußballverein tatsächlich «den Hockenkamp» aus Bockum-Hövel geholt hat für unglaubliche 7500 Euro Ablöse, wo man doch eigentlich einen neuen Torwart bräuchte.
Ich nicke dann immer brav und trinke literweise Kaffee. Zwar verfolge ich grob, was die Nationalmannschaft so treibt und ob irgendein Verein den Bayern in der Bundesliga noch mal das Wasser abgraben kann, aber von Amateurfußball habe ich nun wirklich überhaupt gar keine Ahnung.
Um 14 Uhr beim Grütering, das heißt um 13 Uhr 30 losfahren. Jetzt haben wir zehn vor zwölf. Das wird knapp. Es ist noch viel zu tun. Sogar ohne Mittagspause, die Wulf und ich eh nie machen. Selbst zum beiläufigen Brötchenessen kommen wir selten. Meistens ernähren wir uns von Gummibärchen, dem ausgewogenen Haribo Color-Rado-Mix sowie den Nahrungsmolekülen aus den Essensresten, die wir in den Rechnern unserer Kunden vorfinden und aus Versehen einatmen. Wie heißt es so schön? Wo lagert der Deutsche sein Essen ein? 5 Prozent Speisekammer. 10 Prozent Auto. 25 Prozent Kühlschrank. 60 Prozent Computertastatur. Daher auch unsere Vorliebe für Haribo – Gelatine krümelt nicht.
Wulf fragt: «Was abnehmen?»
Eigentlich heißt dieser Satz: «Kann ich dir aufgrund der Tatsache, dass du nachher den halben Tag beim störrischen Grütering verbringen musst, hier noch etwas abnehmen?» Aber das wäre des Aufwands wahnwitzig zu viel. Wulf spricht nicht mehr als zwanzig Worte am Tag. Das ist nicht so dahergesagt. Das zähle ich, seit er in meiner IT-Firma als Partner und leidenschaftlicher Fachmann arbeitet.
Weil Wulf so wortkarg wie ein Wombat ist, arbeitet er die meiste Zeit in der Werkstatt an Rechnern, Laptops, Servern und Smartphones, während ich hinter der Empfangstheke mit dem Headset telefoniere. Ich bin die Stimme von PSC Drensteinfurt, der Kontaktmensch, die Plaudertasche. Dafür kann Wulf ohne zitternde Hand in ein hauchzartes Ultrabook Schräubchen eindrehen, die ich nicht mal mit bloßem Auge sehen kann.
Mit Computern beschäftigt er sich, seit er vier Jahre alt war. Als Junge besaß er den ersten Bausatz von Apple. Im Kaufhof seiner Heimatstadt ging er als Teenager freiwillig putzen, nur um die erworbenen Geldstücke noch vor Ort in den Videospielautomaten Space Invaders zu werfen, den der Besitzer damals in einer Ecke neben den Aufzügen aufgestellt hatte. Denkt Wulf an das Jahr 1986 zurück, fällt ihm nicht das Herzschlagfinale Deutschland gegen Argentinien bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Mexiko ein, sondern die Ankunft des im Winter 1985 erschienenen Windows 1.0 in seinem Leben. Die fünf original 5,25-Zoll-Disketten, auf denen das Betriebssystem ausgeliefert wurde, besitzt er heute noch.
Ich sortiere mich. Auf meinem Schreibtisch liegen noch fünf dringende Aufträge. Zwei stehen auf einem karierten Block, zwei kleben in Form gelber Post-its am Bildschirm und einen habe ich auf die Rückseite eines Briefumschlags geschrieben. Trotz meines Berufs notiere ich Aufgaben am liebsten auf echtem Papier. Das Gefühl, sie als «erledigt» zu zerreißen, ist einfach unersetzbar. Heute muss ich also noch ganze fünf Aufträge in 100 Minuten schaffen. Da darf absolut gar nichts mehr dazwischen kommen.
Ich nehme mir den ersten To-do-Zettel zur Hand, als die Tür aufspringt.
«So, da ist er wieder!», ruft der junge Mann, der mit seinem Laptop in der Hand hereinstürmt. Er wedelt mit dem schmalen Gerät, als sei es eine Sonderausgabe der Tageszeitung mit besonders skandalösen Nachrichten. Der junge Mann heißt Jonas und ist Stammgast in unserem Büro. Stammgast, wohlgemerkt, nicht Stammkunde. Er hat keine Aufträge für uns, er hat Theorien. Die meiste Zeit verbringt er am Glastisch im Empfangsbereich.
Das ist natürlich kein Zustand. Doch jedes Mal, wenn Wulf und ich uns vornehmen, Jonas endgültig zu vertreiben, bringt er neue Haribo-Großpackungen mit. Oder Pizza. Ungefragt, aber genau zum richtigen Zeitpunkt. Man kann sagen: Ohne Jonas bekämen wir niemals etwas Warmes zwischen die Zähne. Jetzt ist Jonas jedenfalls da, und das bedeutet: Sämtliche zu erledigenden Aufgaben, die ich bis 13 Uhr 30 geschafft haben könnte, lösen sich mit einem «Puff!» in Luft auf.
Jonas stellt den Laptop auf den Glastisch und winkt mich heran. «Hallo, Wulf!», ruft er in den Nebenraum. Mein Kollege nickt stumm und zieht an seiner elektrischen Zigarette. Vor neun Monaten haben wir beide mit dem Rauchen aufgehört. Also, mit dem Tabakrauchen. Seitdem liegen im Büro die Duftschwaden der E-Liquids in der Luft, und zwar in den Geschmacksrichtungen Pfirsich-Eistee und Vanille.
«Pass auf, Philipp», sagt Jonas, «jetzt zeige ich ihn dir! Du wirst schon sehen, da bin ich gespannt, was du dazu sagst …»
Seit einem Jahr erklären wir Jonas, dass nicht sein kann, was er immer noch glaubt. Aber es hilft nichts. Jonas bleibt überzeugt davon, den Staatstrojaner auf seinem Rechner zu haben, die Spähsoftware der Behörden.
Jonas spricht immer noch vom «Bundestrojaner», aber das ist falsch. Was vor einiger Zeit als «Bundestrojaner» über die Computer erschrockener Nutzer geisterte, sie wegen «ungesetzlicher Tätigkeiten» sperrte und nur gegen eine Zahlung von 100 Euro wieder freigab, war natürlich keine Erpressungssoftware...