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E-Book

Ich werde die Welt nie wiedersehen

Texte aus dem Gefängnis

AutorAhmet Altan
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2018
Seitenanzahl176 Seiten
ISBN9783104910208
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
»Ich werde die Welt nie wieder sehen. Ich werde nie wieder den Himmel ohne den Rahmen sehen, den die Wände des Gefängnishofes bilden.« Am 16. Februar 2018 wurde der große türkische Intellektuelle Ahmet Altan in der Türkei zu lebenslanger Haft verurteilt. Altan ist einer der wichtigsten, mutigsten Journalisten der Türkei, der immer offen gesagt hat, was er denkt. Ihm wird vorgeworfen, »unterschwellige Botschaften« über den Putschversuch im Jahr 2016 verbreitet zu haben. Am 26. September 2018 wird im S. Fischer Verlag »Ich werde die Welt nie wieder sehen. Texte aus dem Gefängnis« erscheinen. Es ist eine beeindruckende Sammlung teilweise sehr persönlicher, fast philosophischer Texte, in denen Altan auf eindringliche Weise über Freiheit, sein Leben im Gefängnis und die politische Situation in der Türkei schreibt. Ein eindrucksvolles Buch und wichtiges Zeugnis. Zum Erscheinen jährt sich seine Verhaftung zum zweiten Mal, denn seit dem 23. September 2016 sitzt er in Untersuchungshaft. Im November 2019 wurde Ahmet Altan in Abwesenheit mit dem Geschwister-Scholl-Preis ausgezeichnet.

Ahmet Altan, geboren 1950, ist mit seinen Romanen und Essaybänden in Millionenauflage einer der erfolgreichsten Schriftsteller der Türkei. Und einer der bekanntesten Journalisten des Landes. Seine kritische Berichterstattung brachte ihn immer wieder in Konflikt mit der Regierung. Ahmet Altan arbeitete als Kolumnist für zahlreiche namhafte türkische Medien und gründete 2007 die Zeitung ?Taraf?. Sie wurde nach dem vereitelten Putschversuch vom 15. Juli 2016 verboten, Ahmet Altan zusammen mit seinem Bruder Mehmet Altan festgenommen. Nach der Festnahme der Altan-Brüder und weiterer türkischer Journalisten und Schriftsteller protestierten bekannte Autoren, Künstler und Verleger in einem offenen Brief gegen die »Vendetta gegen die klügsten Denker und Autoren des Landes«. Zu den Unterzeichnern gehörten u.a. die Nobelpreisträger Orhan Pamuk, Herta Müller und J.M. Coetzee sowie die Autoren Elena Ferrante, Roberto Saviano und Günter Wallraff. Am 16. Februar 2018 wurde Ahmet Altan zu lebenslanger Haft verurteilt, aber im April 2021 aufgrund internationalen Drucks freigelassen. 2019 erhielt er den Geschwister-Scholl-Preis. Für seinen neuen Roman »Hayat heißt Leben« wurde Ahmet Altan 2021 mit dem Prix Fémina Etranger in Frankreich ausgezeichnet. 

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Leseprobe

Ein einziger Satz


Ich erwachte. Es klingelte an der Tür.

 

Ich sah herüber zu der elektronischen Uhr. Die Anzeige 05.42 blinkte und verlosch.

 

»Die Polizei«, dachte ich.

 

Wie alle Oppositionellen in meinem Land ging ich jede Nacht zu Bett in der Erwartung, dass im Morgengrauen an meiner Tür geläutet würde.

 

Ich wusste, dass sie kommen würden.

 

Nun waren sie gekommen.

 

Die Kleidung für den Polizeiüberfall und die Zeit danach hatte ich bereits parat:

Eine weite schwarze Leinenhose, die ohne Gürtel auskam, weil der Bund von innen mit einer Kordel zusammengehalten wurde; kurze, bis zu den Fußgelenken reichende schwarze Socken, bequeme Sportschuhe, ein leichtes baumwollenes T-Shirt und ein dunkles Hemd.

 

Ich zog meine »Überfallkleidung« an und ging zur Tür.

Durch den Spion sah ich nach draußen.

Auf dem Treppenabsatz standen Polizisten der Abteilung Terrorbekämpfung in ihren Westen, wie sie nur bei Razzien getragen werden und auf deren Brust in Großbuchstaben TEM (Terrorbekämpfung) zu lesen ist. Sie waren zu sechst.

 

Ich öffnete die Tür.

 

Sie kamen herein mit den Worten: »Es liegt ein Befehl zur Durchsuchung und Abführung in Untersuchungshaft vor.«

 

Die Wohnungstür ließen sie offen.

 

Die Polizisten teilten mir mit, dass auch für meinen Bruder Mehmet Altan ein Befehl zur Inhaftierung vorlag. Eine zweite Einsatztruppe warte vor seiner Tür, doch es würde nicht aufgemacht.

 

Ich fragte nach der Nummer der belagerten Wohnung; es stellte sich heraus, dass sie an der falschen Türe geklingelt hatten.

 

Ich rief Mehmet an und sagte:

»Wir haben Gäste, mach die Türe auf.«

 

Als ich das Handy zuklappte, streckte einer der Polizisten die Hand danach aus und sagte: »Das nehme ich mal mit.«

 

Dann verteilten sie sich in der Wohnung und begannen mit der Durchsuchung.

 

Die Morgendämmerung zog herauf.

Hinter den Hügeln hervorbrechende Sonnenstrahlen zeichneten lila, rote und fliederfarbene Wellenbewegungen in den Himmel, dessen helle Färbung an ein weißes Rosenblatt denken ließ.

Ein friedlicher Septembermorgen brach an, der nichts von den Vorgängen in meiner Wohnung ahnte.

 

Während die Polizisten meine Wohnung durchsuchten, setzte ich Teewasser auf.

 

»Mögen Sie auch einen Tee?«, fragte ich sie.

Sie sagten, dass sie keinen wollten.

Die Stimme meines Vaters nachahmend, fügte ich hinzu:

»Dies ist keine Bestechung. Sie können ruhig einen Tee annehmen.«

 

Vor genau fünfundvierzig Jahren waren sie in unsere Wohnung, auch zur Zeit der Morgendämmerung, eingefallen. Damals hatten sie meinen Vater mitgenommen.

Der hatte die Polizisten gefragt, ob sie gern einen Kaffee trinken würden, und nach ihrer ablehnenden Antwort lachend hinzugefügt: »Sie können ihn ruhig trinken, dies ist keine Bestechung.«

 

Was ich gerade erlebte, war kein Déjà-vu.

Es war die Wiederholung einer stets gleichen Realität.

 

Weil dieses Land sich in seiner Geschichte sehr langsam bewegt, kann die Zeit nicht vorankommen; sie dreht sich um, schaut zurück und wiederholt ihre eigene Vergangenheit.

 

Nach fünfundvierzig Jahren war die Zeit zu jenem Morgen zurückgekehrt.

 

Im Laufe dieses fünfundvierzig Jahre währenden Morgens war mein Vater gestorben und ich war älter geworden, doch in Sachen Polizeiüberfall und Morgendämmerung hatte sich nichts geändert.

 

Vor der offenstehenden Wohnungstür erschien mein Bruder Mehmet mit seinem Lächeln, das jeden Morgen meine Zuversicht stärkte. Er war von Polizisten umringt.

 

Wir verabschiedeten uns voneinander.

 

Sie führten Mehmet ab.

 

Ich goss mir einen Tee ein, füllte eine Schale mit Müsli und Milch. Dann setzte ich mich in einen Sessel, trank meinen Tee, aß mein Müsli und wartete darauf, dass die Polizisten mit ihrer Durchsuchung fertig würden.

 

Es war still in der Wohnung.

Außer den Geräuschen, welche die suchenden Polizisten beim Verrücken der Möbel verursachten, war nichts zu vernehmen.

 

Mindestens zwanzig Jahre alte Computer, die zu entsorgen ich nicht übers Herz brachte, weil ich an ihnen etliche meiner Romane verfasst hatte, seit Jahren angehäufte aus der Mode gekommene Disketten sowie den Laptop, mit dem ich zurzeit arbeitete, alles stopften sie in solide Kunststoffsäcke.

 

»Gehen wir«, hieß es dann.

 

Ich nahm meine Tasche, in die ich außer Wäsche zum Wechseln noch ein paar Bücher gesteckt hatte.

 

Wir verließen die Wohnung und stiegen in das vor der Haustür wartende zivile Polizeiauto ein.

 

Ich setzte mich und nahm meine Tasche auf den Schoß.

 

Die Autotüren gingen zu.

 

Die Toten, so heißt es, wissen nicht, dass sie gestorben sind.

 

In der islamischen Mythologie gibt es die Vorstellung, dass der bestattete Leichnam sich erheben und nach Hause zurückkehren möchte, sobald die Trauergemeinde sich von seinem Grab entfernt hat. Erst wenn er beim Versuch aufzustehen mit dem Kopf an den Sargdeckel stößt, begreift er, dass er gestorben ist.

 

Als die Autotüren zugingen, stieß auch mein Kopf an den Sargdeckel.

 

Ich konnte die Türen dieses Autos nicht öffnen und ich konnte nicht aussteigen.

 

Ich konnte nicht nach Hause zurückkehren.

 

Nie mehr sollte ich die Frau, die ich liebte, küssen, meine Kinder umarmen, mich mit meinen Freunden treffen, in den Straßen herumlaufen können. Ein Arbeitszimmer, eine Maschine, an der ich schreiben könnte, eine Bibliothek gäbe es nicht mehr für mich; einem Violinkonzert zu lauschen, auf Reisen zu gehen, Buchläden zu durchstöbern oder Brot vom Bäcker zu holen sollte mir nicht mehr möglich sein; nie mehr würde ich das Meer sehen, einen Baum betrachten, den Duft der Blumen, des Rasens, des Regens und der Erde einatmen können; ins Kino zu gehen, noch einmal Spiegeleier mit Knoblauchwurst zu verspeisen, ein Glas Wein oder einen Drink zu mir zu nehmen, in einem Fischrestaurant meine Bestellung aufzugeben, auch das sollte es für mich nicht mehr geben; ich könnte niemanden mehr anrufen, und auch mich könnte niemand am Telefon erreichen, niemals mehr könnte ich selbst eine Tür öffnen und niemals mehr in einem Zimmer mit Vorhängen aufwachen.

 

Sogar mein Name würde sich ändern.

 

Ahmet Altan würde ausgelöscht, fortan der in offiziellen Dokumenten aufgeführte Name Ahmet Hüsrev Altan verwendet werden.

 

Wenn ich nach meinem Namen gefragt würde, müsste ich »Ahmet Hüsrev Altan« sagen, und wenn die Frage meiner Adresse galt, würde ich mit einer Zellennummer antworten.

 

Von nun an würden andere entscheiden, was ich zu tun hätte, wo ich mich aufhalten und wo ich schlafen sollte, wann ich aufstehen müsste und was mein Name sein sollte.

 

Ich würde unentwegt Befehle empfangen.

»Bleib stehen!«, »Geh los!«, »Komm herein!«, »Arme hoch!«, »Schuhe ausziehen!«, »Sei still!«

 

Das Polizeiauto fuhr sehr schnell.

 

Die Straßen waren menschenleer.

 

Es war der erste Tag einer zwölftägigen Reihe von Feiertagen. Die meisten Bewohner der Stadt, darunter auch der Staatsanwalt, der unsere Abführung veranlasst hatte, waren in Urlaub gefahren.

 

Der Polizist neben mir steckte sich eine Zigarette an.

 

Kurz darauf hielt er mir das Päckchen hin.

 

Ich schüttelte den Kopf und lehnte lächelnd ab:

»Ich rauche nur, wenn ich nervös bin.«

 

Während ich hilflos im Auto saß, unfähig eine Tür zu öffnen, mit einer Zukunft, über die ich selbst nicht mehr bestimmen konnte, und sogar mit einem neuen Namen und gerade in einen armseligen in einem Spinnennetz zappelnden Käfer verwandelt wurde, hatte ich mir einen solchen Satz, der diese Realität missachtete, ja, sich darüber lustig machte und einen ungeheuren Abstand zwischen mir und dieser Realität schaffte, nicht etwa ausgedacht. In keinem versteckten Winkel meines Bewusstseins hatte ich mich zu einem derartigen Satz entschlossen.

 

Es war, als ob ein »Jemand« in mir, den ich zwar nicht genau als »ich« empfand, der aber doch wohl ein Teil von mir war, da er mit meinem Mund und meiner Stimme sprach, im Polizeiwagen unterwegs zu einer Zelle mit Eisengittern verlauten ließ, dass er nur rauche, wenn er nervös sei.

 

Dieser eine Satz veränderte plötzlich alles.

 

So wie ein in die Luft geworfenes Samuraischwert einen Seidenschal mit einem Streich in zwei Teile trennt, wurde die Realität mit diesem Satz zweigeteilt.

 

Eine Seite dieser Realität bestand aus einem Körper aus Fleisch, Knochen, Blut, Muskeln und Nerven, der in einer Zange gefangen war; auf der anderen Seite jedoch befand sich ein Bewusstsein, das sich mit allem, was diesem Körper zustieß, abfand, das darüber spotten konnte, das alles, was es erlebte und noch erleben würde, mit Abstand betrachtete und von einem...

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