Ichwahn
ICHWAHN IST DIE PRIMÄRE URSACHE FÜR ALLE SOZIALEN KONFLIKTE.
Vor wenigen Jahren erschien ein provozierendes Buch des britischen Evolutionsbiologen Richard Dawkins. Sein Titel: The God Delusion4 (auf Deutsch: Der Gotteswahn). Darin behandelt er Religion wie eine schwere psychische Störung, die unsere Gesellschaft negativ beeinflusse. Dawkins macht Religion nicht nur für den heutigen Terror verantwortlich5, sondern auch für die seelische Traumatisierung von Kindern und Jugendlichen aus gläubigen Familien6. Seine Thesen sind umstritten, aber es spricht für ihn, dass er Missstände ernsthaft hinterfragt und nach Lösungen sucht.
Doch sowohl Dawkins als auch seine Kritiker übersehen einen wichtigen Punkt: Es sind stets Menschen, die in einen »heiligen Krieg« ziehen und andere traumatisieren. Religionen sind keine wirkenden Wesen, die Verantwortung übernehmen könnten. Verantwortlich für Missstände in unserer Gesellschaft sind allein wir. Aber wer sind wir? Die meisten Menschen betrachten sich selbst als Personen, die sich – mit Körper und Geist ausgestattet – von anderen abgrenzen und ein individuelles Leben bestreiten. Heute begreifen immer mehr Menschen das Leben als ihre Chance, »sich selbst zu verwirklichen«. Ein Trend, der viele Fragen aufwirft: Wer oder was ist das Selbst? Ist es identisch mit dem Ich? Kann sich ein Ich, falls es wirklich wäre, noch verwirklichen?
Entsprechend meiner Arbeitshypothese glaube ich, dass eine massive Überbewertung von Individualität die primäre Ursache für alle Konflikte des gesellschaftlichen Lebens ist. Ich spreche nicht wie Dawkins vom »Gotteswahn«, sondern von einem Ichwahn. Er äußert sich darin, dass Menschen sich nicht in die Perspektiven ihrer Mitmenschen hineinversetzen können oder wollen. Fast immer geht ihr Drang nach Selbstverwirklichung auf Kosten anderer. Ich unterscheide vier Typen des Ichwahns, die außerdem in verschiedenen Kombinationen auftreten können:
–zwischenmenschlicher Ichwahn,
–wirtschaftlicher Ichwahn,
–politischer Ichwahn,
–religiöser Ichwahn.
Zwischenmenschlicher Ichwahn ist die Ursache allen Leids, das sich die Menschen gegenseitig zufügen, und somit auch die Quelle der anderen drei Typen. Vermutlich ist er unser Erbe der Evolution – ihm liegt ein Kräftemessen zugrunde, wie es auch im Tierreich anzutreffen ist. Allerdings mit dem feinen Unterschied, dass Tiere gegeneinander kämpfen, um sich entweder zu ernähren oder um Nachwuchs zu zeugen. In beiden Fällen geht es um das Überleben der eigenen Art. Wenn Menschen gegeneinander antreten, stehen fast immer andere, überwiegend eigennützige Motive im Mittelpunkt: Habgier und Macht. Aus der Habgier erwächst wirtschaftlicher Ichwahn, aus der Gier nach Macht politischer Ichwahn oder religiöser Ichwahn. Im Folgenden werden wir uns mit allen vier Typen des Ichwahns befassen und ihren spezifischen Nährböden konkrete Namen geben.
Zwischenmenschlicher Ichwahn
Es ist nicht mehr zu übersehen, dass die Bedeutung des Ichs in unserer Gesellschaft stetig zunimmt. Standen früher noch der eigene Stamm und die Dorfgemeinschaft im Mittelpunkt des Geschehens, dreht sich das Leben heute bis auf wenige Ausnahmen (beispielsweise Naturvölker) in zunehmendem Maße um das Individuum. Doch diesem Trend sind natürliche Grenzen gesetzt: Der Lebensraum auf unserem Planeten ist räumlich begrenzt. Anders als früher spüren wir heute in nahezu allen Lebensbereichen die Präsenz unserer Mitmenschen. Mehrmals täglich müssen wir fremde Ansichten und Wünsche in unsere Entscheidungen einbeziehen, wenn wir gut miteinander auskommen wollen. Umso kleiner müssen die Freiheiten ausfallen, die wir uns gegenseitig einräumen. Wer glaubt, sich als Mitglied einer Gemeinschaft frei (also ohne Rücksicht auf andere Mitglieder) entfalten zu können, zerstört die Gemeinschaft, der er selbst angehört. Das fängt schon im Kleinen an, wenn sich zwei Menschen nicht in die Lage des jeweils anderen hineinversetzen können oder wollen (siehe Abbildung 3). Sie sehen nur sich selbst und nicht die Vorteile, die eine Gemeinschaft bietet.
Abb. 3: Zwischenmenschlicher Ichwahn
Wo treffen wir auf zwischenmenschlichen Ichwahn? Er kann sich überall ausbreiten, wo es zwischenmenschliche Beziehungen gibt: also in einer Partnerschaft, am Arbeitsplatz, im öffentlichen Leben. Sein wichtigstes Kennzeichen ist die Ausübung von physischer oder psychischer Gewalt, wie zum Beispiel Gewalttätigkeit in einer Partnerschaft oder Mobbing am Arbeitsplatz. Wer sich selbst für das Maß aller Dinge hält, neigt dazu, andere zu unterdrücken und bewusst oder unbewusst Gewalt anzuwenden. Dass Fernsehanstalten immer mehr Gewalt zur allerbesten Sendezeit zeigen, ist für mich nicht nachvollziehbar – die Verantwortlichen müssen besonders stark vom Ichwahn infiziert sein. Gleiches gilt für die Macher von Killerspielen, weil sie Gewalt verharmlosen und Töten zu einem Nervenkitzel machen. Für unseren Arzt vom fremden Stern wären wir psychisch krank: Wir ziehen es vor, uns von Gewalt unterhalten zu lassen, statt Gewaltfreiheit unter uns Menschen zu fördern.
Woher kommt der zwischenmenschliche Ichwahn? Sein Nährboden ist zweifellos der Egoismus. Egoistische Verhaltensweisen sind bereits in uns angelegt, wenn wir das Licht der Welt erblicken. Ohne eine gesunde Portion Egoismus würden wir schnell die Freude am Leben verlieren. Zu einer massiven Bedrohung wird Egoismus aber dann, wenn er die Oberhand gewinnt und zur Sucht wird. Es ist Selbstsucht, die zum zwischenmenschlichen Ichwahn führt. Tragisch ist, dass die betroffenen Menschen selbst gar nicht spüren, wie sie am eigenen Ast sägen. Sie erkennen nicht, dass sie auf andere und ein intaktes Umfeld angewiesen sind.
Wie lässt sich zwischenmenschlicher Ichwahn stoppen? Die beste Medizin ist eine breite Allgemeinbildung. Sie ist der Schlüssel, um komplexe Zusammenhänge durchschauen zu können. Ein Ich, das stets nur um sich selbst kreist, wird nie die enge Wechselbeziehung begreifen, die zwischen ihm und seinem Umfeld besteht. Es wird nicht erkennen, wie es mit seinem Verhalten sein Umfeld verändert und wie dieses veränderte Umfeld auf es selbst zurückwirkt.
Doch die Geschichte lehrt uns, dass Bildung nicht immer ausreicht, um soziale Wesen aus uns zu machen. Es muss auch noch die Einsicht hinzukommen, dass die Auffassung vom Ich als ein Individuum ohnehin nur eine Illusion ist. Wie lässt sich diese Einsicht gewinnen? Nun, zum Beispiel durch Bücher wie dieses! Ich schlage vor, von jedem Schüler vor seinem Abschluss ein Projekt einzufordern, in dem er positiv auf sein Umfeld gewirkt hat und die Rückwirkung selbst erfahren hat. Sie wird ihn sein Leben lang begleiten. Dieses Projekt sollte genauso hoch bewertet werden wie ein Hauptfach. Heute wird oft nur die Leistung eines Schülers bewertet – nicht sein Beitrag zum Wohl anderer. Leistungsorientierte Bildung fördert den Egoismus: Sie trimmt unsere Kinder darauf, sich gegen andere durchzusetzen, statt sich füreinander einzusetzen.
Bei Erwachsenen wirkt diese Erfahrung nach. Wer in der Schule gelernt hat, dass es im Leben darauf ankommt, sich durchzusetzen, wird sich in einer Partnerschaft ähnlich verhalten. Das Scheitern der Partnerschaft ist vorprogrammiert. Unter wirklichen Partnern geht es nämlich nicht darum, sich zu behaupten, sondern darum, sich zu zweit neue Freiheiten zu erschließen. Das Erfolgsrezept für eine glückliche Partnerschaft zwischen zwei Menschen lautet: Sie müssen das, was sie nur zu zweit erreichen können, stets höher bewerten als das, was jeder allein zu leisten vermag! Das ist die Zauberformel, mit der wir den Ichwahn packen können.
Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber ich spüre, dass unsere Gesellschaft heute um einiges kühler und anonymer ist als noch vor 20 Jahren. Mit dieser Beobachtung stehe ich nicht allein. Viele Menschen machen ähnliche Erfahrungen. Wie kann es sein, dass die Herzlichkeit zwischen uns immer mehr verloren geht, obwohl wir über Computer und Mobiltelefone in zunehmendem Maße miteinander vernetzt sind? Nehmen wir uns gegenseitig nicht mehr als Menschen wahr, wenn wir über Facebook, Twitter und Co. kommunizieren? Unsere größte Gefahr geht von uns selbst aus: Wenn jeder nur noch an sich denkt, denkt bald niemand mehr an uns!
Wirtschaftlicher Ichwahn
Die größte Herausforderung im Kampf gegen den Ichwahn besteht darin, dass er sein Erscheinungsbild verändern kann. Indem er sich tarnt, gelingt es ihm, unsere Rechtsprechung zu unterlaufen. Dieses Verhalten erinnert stark an das eines Virus. Tatsächlich arbeitet unsere Rechtsprechung ähnlich wie ein Immunsystem – sie soll vor schädlichen Einflüssen schützen. Wird physische oder psychische Gewalt noch in vielen Staaten geahndet, so gelingt es dem Ichwahn, sich in der Wirtschaft fast unbemerkt auszubreiten. Wem ist schon bewusst, dass Börsenberichte, die uns in zahlreichen Nachrichtenmagazinen präsentiert werden, versteckte Werbung für wirtschaftlichen Ichwahn sind?
Ursprünglich dienten Aktien dazu, ein Unternehmen mit frischem Kapital zu versorgen, damit es in die Infrastruktur seiner Produktion investieren konnte. Doch inzwischen sind Aktien und ihre Derivate zu Jonglierbällen von Spekulanten geworden. An den »Märkten« wird mit Geld gezockt wie in einem Casino....