Dies über alles: Sei dir selber treu
Mit diesen Worten aus Shakespeares Hamlet ermutigt Polonius seinen Sohn Laertes, ein erfülltes Leben zu führen, ohne sich selbst zu betrügen1. Schon immer haben Philosophen und andere Gelehrte darüber nachgedacht, was es heißt, man selbst zu sein und sein Leben diesem Selbst getreu auszurichten. Die Psychologie hingegen hat überraschenderweise erst in den letzten zehn Jahren begonnen, sich mit Polonius’ weisem Ratschlag zu beschäftigen.2
Auf den Begriff der Authentizität bin ich erstmals während meiner Ausbildung zum Psychotherapeuten gestoßen. Das war in den Neunzigerjahren. Damals habe ich die Schriften eines der bekanntesten Psychologen des 20. Jahrhunderts studiert: Carl Rogers. Er vertrat die Ansicht, dass ein Mensch dann authentisch lebt, wenn er ein selbstbestimmtes Leben führt. In seinen Augen war dies jedoch kein unveränderlicher Zustand, sondern ein lebenslang fortdauernder Prozess. Unser Zusammenleben mit anderen Menschen fordert uns einen ständigen Balanceakt ab. Einerseits müssen wir zusehen, wie wir unsere eigenen Bedürfnisse verwirklichen. Andererseits müssen wir uns anderen gegenüber so verhalten, wie es in den jeweiligen Beziehungen von uns gefordert ist. Authentizität setzt voraus, dass jemand sich selbst kennt, sich seiner Gefühle bewusst ist und sie anderen gegenüber ehrlich äußern kann. Rogers sprach von der Fähigkeit, »kongruent« – das heißt stimmig – zu leben. Diese machte für ihn ein »gelingendes Leben« erst möglich. »Ein gelingendes Leben« war für Rogers eines, das von Sinn erfüllt ist, vom ständigen Streben nach Authentizität.
Durch seine Arbeit als Psychotherapeut war Rogers zu der Überzeugung gelangt, dass es Menschen, die Hilfe brauchten, meist an Authentizität fehlte. In seinen Augen waren seelische Probleme häufig Ausdruck dafür, dass das Leben aus der Balance geraten war. Er sah diese Gefühle als Hilfeschrei nach mehr Authentizität.
Um seinen Patienten zu einem authentischeren Leben zu verhelfen, entwickelte Rogers eine neue Form der Therapie: die klientenzentrierte Psychotherapie. Sie beruhte auf der Vorstellung, dass Menschen, die sich akzeptiert fühlen, so wie sie sind, sich nicht zu verstellen brauchen. Sie haben es nicht nötig, sich selbst und anderen etwas vorzumachen. Stattdessen lassen sie sich von ihrer inneren Stimme der Weisheit leiten. Dadurch treffen sie authentischere Entscheidungen auf ihrem Lebensweg, und ihr Leben nimmt ganz automatisch eine neue Richtung, einen neuen Sinn und Zweck an.3
Als ich später an der Universität selbst Psychologie lehrte, faszinierten mich Carl Rogers’ Ideen immer noch. Zugleich musste ich überrascht feststellen, wie wenig sie noch durch empirische Forschung belegt waren. Wie folgerichtig und exakt seine Beobachtungen waren, war seit Rogers’ Tod im Jahr 1987 bei der jungen Generation der Psychologen in Vergessenheit geraten. Erst als sich die Positive Psychologie herausbildete und die Forschung über das gute Leben zum Thema machte, griffen die Wissenschaftler diesen Ansatz aus früheren Jahren wieder auf.
Davor beschäftigte sich die Psychologie nur mit den dunklen Seiten im Leben der Patienten, mit Depressionen, Angststörungen und all den anderen Leiden der Seele. Wenn es jemandem gut ging, nun, dann hatte er einfach keine derartigen Probleme. Nur wenige Psychologen interessierten sich dafür, wie es zum Gefühl der Zufriedenheit, ja des Glücks kam, und forschten jenseits dessen, was ich den »Nullpunkt« nenne.4
Etwa zu jener Zeit, in der ich mich für Carl Rogers’ Ideen zu begeistern anfing, begann auch meine Zusammenarbeit mit Alex Linley, einem sehr begabten Studenten. Er hatte gerade sein Psychologiestudium abgeschlossen und wollte bei mir promovieren.5 Alex war Feuer und Flamme für die Positive Psychologie, die sich damals noch ganz im Anfangsstadium befand, allmählich aber auf größeres Interesse in der Wissenschaftscommunity stieß. Er erkannte, welch ungeheures Potenzial in der Vorstellung von einem authentischen Leben steckt. Wir beide wollten deshalb herausfinden, ob man Authentizität messen kann und ob sie tatsächlich die Grundvoraussetzung ist für ein glückliches und erfülltes Leben. Zusammen erstellten wir eine Liste mit Fragen, die uns wichtig erschienen. Später entwickelten wir zusammen mit anderen Studenten und Kollegen wie Alex Wood, John Maltby und Michael Baliousis den ersten psychometrischen Test, der auf Carl Rogers’ Authentizitätstheorie beruhte: die Authentizitätsskala.6
Wir wollten wissen, ob authentischere Menschen glücklicher waren. Daher verglichen wir eine Reihe von personenbezogenen Faktoren, durch die sich glückliche von unglücklichen Menschen unterscheiden. Unsere Resultate ergaben, dass der Faktor, aus dem sich zuverlässig ein hoher Grad an Lebenszufriedenheit ablesen lässt, tatsächlich die gelebte Authentizität war. Die Authentizitätsskala wird heute von vielen Forschern und Psychologen verwendet. Sie trug einiges dazu bei, der neuen Wissenschaft von der Authentizität den Weg zu ebnen. Diese lehrt uns, dass wir am ehesten zu einem erfüllten Leben finden, wenn wir authentisch leben.
Wie wichtig Authentizität für unser Leben ist, habe ich nicht nur in der sterilen Welt der Laborforschung erfahren. Ich hatte inzwischen eine neue Aufgabe übernommen: Ich war stellvertretender Leiter des Centers for Trauma, Resilience and Growth in Nottingham geworden. Zusammen mit meinem Kollegen Steve Regal beschäftigte ich mich dort mit den bemerkenswerten Veränderungen bei Menschen, die Opfer von traumatischen Erlebnissen oder Schicksalsschlägen geworden waren. Die meisten unserer Patienten litten unter posttraumatischem Stress. Verblüffenderweise berichteten viele von ihnen, dass gerade die Tatsache, dass sie dem Tod so nahe gekommen waren, ihnen im Leben neue Möglichkeiten eröffnet und sie gestärkt hatte. Die Positive Psychologie bezeichnet solche positiven Veränderungen als posttraumatisches Wachstum.7 Bei meiner Arbeit wurde schnell deutlich, dass alle Überlebenden ein gemeinsames Merkmal verband: der neu entstandene Wunsch nach einer Lebensweise, bei der sie sich selbst treu sein konnten. Das kennzeichnende Merkmal posttraumatischen Wachstums schien zu sein, dass die Menschen ihre Lebensgeschichte neu interpretierten, sie mit ihren Zielen und Werten in Einklang zu bringen versuchten, sodass ihr Leben dadurch kohärenter – schlüssiger – wurde. Offensichtlich wirkte die traumatisierende Erfahrung wie ein Katalysator für den Wunsch nach einem authentischeren Leben. Mir schien dies die eigentliche Triebkraft hinter dem posttraumatischen Wachstum zu sein.8
Das Streben nach Authentizität beschert uns kein Leben ohne Schmerz, Angst, Trauer oder Sorge. Aber es erlaubt uns, klare Ziele zu verfolgen und unser Leben mit Sinn zu erfüllen. Vor allem, wenn wir mit Leid konfrontiert sind. Ein Trauma führt uns vor Augen, wie kurz und kostbar unser Leben ist. Es bewirkt, dass wir unser Augenmerk auf das legen, was wirklich zählt, um das Leben bewusst genießen zu können. Wenn wir Glück haben, kommen wir ohne Traumata durchs Leben. Doch ein Leben ohne belastende Ereignisse hat häufig zur Folge, dass wir wie Schlafwandler durchs Leben gehen, weil uns kein Weckruf auf das verweist, was wirklich wichtig ist. Es ist nachgerade tragisch, dass so viele Menschen erst durch den bevorstehenden eigenen Tod oder den ihrer Lieben merken, dass sie sich ihr Lebtag lang auf die falschen Dinge konzentriert haben. Erst im Angesicht von Tragödien und Verlusten lernen wir zu schätzen, was wir hatten, und fangen an, unser Leben authentischer zu gestalten.
Natürlich fing ich allmählich an, mich zu fragen, wie ich meinen Patienten diese Erkenntnis von Trauma-Überlebenden wohl am besten vermitteln konnte. Müssen wir wirklich erst Opfer einer Katastrophe werden, ehe wir uns deren kostbare Weisheit zu eigen machen können? Oder besteht die Möglichkeit, ganz einfach heute schon den Weg der Authentizität zu beschreiten? Meiner Erfahrung nach lautet die Antwort auf letztere Frage schlicht Ja. Wenn wir wollen, können wir aus der Erfahrung anderer lernen. Wir müssen uns zu erkennen bemühen, was wirklich zählt: ein authentisches Leben.
Bronnie Ware, Palliativschwester in Australien, fand heraus, was Sterbende am häufigsten an ihrem Leben bereuen: Nicht den Mut aufgebracht zu haben, sich selbst treu zu sein.9 So war es auch bei meinem Vater, der an Krebs erkrankt war. Als er bereits ans Bett gefesselt und sehr schwach war, sah er eines Abends zu mir herüber und sagte: »Ich habe mir mein Leben lang über unwichtige Dinge den Kopf zerbrochen. Mach es besser, genieß das Leben, es geht so schnell vorbei.« Ein paar Tage später verschlechterte sich sein Zustand, und er musste ins Krankenhaus gebracht werden. Damals hatte er seit Wochen das Haus nicht mehr verlassen. Ich weiß noch, wie er dastand, die frische Herbstluft einsog und dabei fast genüsslich seufzte, als man ihn zum letzten Mal über die Türschwelle trug.
Anlässlich der Beerdigung meines Vaters erinnerte ich mich daran, dass er immer wieder erwähnt hatte, wie gerne er Saxofonist geworden wäre. Er liebte den Jazz von ganzem Herzen. Stattdessen hatte er sein Leben lang einen Beruf ausgeübt, den er hasste. Da kein Gottesdienst abgehalten wurde, hielt ich selbst die Grabrede. Ich bat die Trauergemeinde, sich vorzustellen, dass irgendwo in einem Jazzkeller nun ein neuer Saxofonist die Bühne betreten würde. Es ist ein...