Es ist höchste Zeit!
Wir müssen ran! Und zwar schleunigst. Wenn wir jetzt nicht handeln, zerbröselt Deutschland im Burn-out. Ganz selbstgefällig.
Wir müssen unsere Ängste überwinden, der Wirklichkeit ins Auge schauen und allen Mut zusammennehmen, um das, was unsere Gesellschaftsordnung bedroht, zu bekämpfen.
Wir scheinen vergessen zu haben, dass in einer Demokratie jeder Bürger Verantwortung für den Zustand der Gesellschaft hat, in der er lebt.
Nun mal langsam: Bitte keinen Alarmismus!
Was ist denn los? Ist es wirklich so schlimm?
Die Lage in Deutschland ist merkwürdig widersprüchlich: Einerseits geht es dem Land so gut wie lange nicht mehr. Anderseits fühlen wir, dass die gesellschaftlichen Herausforderungen und Verwerfungen stärker werden.
Auf der einen Seite stellen wir fest: Die Arbeitslosigkeit sinkt in jeder monatlichen Meldung stets auf ein noch niedrigeres Niveau, um das ganz Europa die Deutschen beneidet. Unternehmen suchen händeringend Fachkräfte. Steuereinnahmen sind jahrelang gesprudelt. Die Rücklagen der Sozialkassen sind immens, der Staat macht keine Schulden mehr. Geld, so sagen die Banken, sei im Überfluss vorhanden, weshalb es zu so billigen Zinsen verliehen wird, dass Hauskredite unter zwei Prozent liegen, woraufhin der Wert von Immobilien rasend steigt. Macht aber nichts, denn es scheint tatsächlich so, als sei Geld genug vorhanden. Flughäfen können den Ansturm der Urlaubsreisenden bei Ferienbeginn kaum noch bewältigen, die Haushaltsrealeinkommen steigen laut Deutschem Institut für Wirtschaftsforschung stetig, und die Einkaufszentren sind voll.
Doch der Schein trügt, denn es gibt durchaus Anlass für Klagen. Und zwar in sehr vielen Bereichen: Mit dem steigenden Wohlstand hat sich nämlich auch die Ungleichheit verschärft. Die Schere geht auf. Millionen Menschen verdienen in Deutschland zu wenig, um die Familie ernähren zu können – die Haushaltsrealeinkommen der untersten 10 Prozent sanken in den letzten Jahren sogar. Seine Familie ernähren zu können, hatte schon im 18. Jahrhundert Adam Smith, Vater der klassischen Nationalökonomie, in seinem Werk Der Wohlstand der Nationen als Maßstab für einen gerechten Lohn bezeichnet. Der Mindestlohn müsse auf mindestens zwölf Euro die Stunde erhöht werden, erklärte selbst Bundesfinanzminister Olaf Scholz in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. Aber es geschieht nichts, während die bereits hohen Gehälter von DAX-Vorständen – nach einer Studie der Unternehmensberatung hkp im Schnitt 7,51 Millionen Euro – jährlich steigen.
Geld sei im Überfluss vorhanden, sagen die Banken, aber Einkommen und Vermögen in Deutschland sind ungerecht verteilt. Mittlerweile verdienen die DAX-Manager im Vorstand im Schnitt das 71-Fache eines durchschnittlichen Angestellten, hat die Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linken im März 2019 hin festgestellt. Die höchste Vergütung bekommen Vorstandsvorsitzende. Bei ihnen ist der Abstand zur Belegschaft noch größer. Zwölf Unternehmen zahlen dem (männlichen) Vorstandschef mindestens das 100-Fache des durchschnittlichen Gehalts. Die Post liegt dabei ganz vorne: Ihr Chef Frank Appel verdient das 232-Fache seiner Mitarbeiter, so eine Studie der Hans-Böckler-Stiftung. Gleichzeitig aber spart die Post bei den Briefträgern und liefert mancherorts schon nicht mehr jeden Tag die Post aus.
Die Politik in Deutschland hat es seit Bestehen der Bundesrepublik versäumt, der ärmeren Hälfte der Bevölkerung zu helfen, Vermögen aufzubauen. Das würde am besten über Immobilien gelingen. Doch anders als in Großbritannien oder in den sozialdemokratisch geführten Ländern Skandinaviens hat die SPD sich stets dagegengewandt, Wohnungseigentum für Arbeiter zu fördern. Als ich den damaligen Finanzminister Peer Steinbrück (SPD) auf das britische Beispiel hinwies, wo fast 80 Prozent der Familien ein Haus besitzen, das ihnen als Finanzreserve für das Alter dient, wiegelte er ab, in Deutschland sei das Sparbuch wichtiger. Aber wer spart, erhält seit langer Zeit keine Zinsen mehr.
Mit dem Hamburger Bürgermeister Henning Voscherau (SPD) diskutierte ich über die, wie ich fand, merkwürdige Steuererleichterung für Schiffsinvestitionen. Wer 100 000 Euro in ein Schiff investierte, erhielt 50 000 Euro Steuererleichterung. Das konnte ein Normalbürger doch niemals nutzen. Da meinte Voscherau, die Steuererleichterung verlangten die Hamburger. Nun, diese Forderung kam nur von manchen: den Hamburger Reedern oder »reichen Pfeffersäcken«, wie Hanseaten ihre Kaufleute nennen. Der durchschnittlich verdienende Hamburger konnte sich solch einen Luxus, in ein Schiff zu investieren, um Steuern zu sparen, gar nicht leisten. Allerdings brach das System der steuerbefreiten Schiffsinvestitionen zusammen, als es nach der Finanzkrise 2008 plötzlich allzu viele Containerschiffe gab. Die reichen Reeder hatten sich Unsummen für Schiffsinvestitionen etwa bei der HSH-Nordbank, die den Ländern Hamburg und Schleswig-Holstein gehörte, geliehen. Die Bank machte pleite, weil viele Schiffskredite nicht zurückgezahlt werden konnten. Das kostete den Steuerzahler allein in Schleswig-Holstein bis zu sieben Milliarden Euro, jene in Hamburg noch einmal das Gleiche, während die insolventen Reeder die durch Steuererleichterungen gewonnenen privaten Millionen längst in Sicherheit gebracht hatten und weiterhin über Hochseejachten und große Villen verfügten.
Das ist ungerecht! Und der durchschnittlich verdienende Bürger sollte es nicht hinnehmen. Erstaunlicherweise gab es nur wenig Protest. Wie so oft. Woran liegt das? Sind die Deutschen zu satt?
Deutschland leidet heute noch unter dem neoliberalen Wirtschaftsdenken, das in den Achtziger- und Neunzigerjahren aus den USA nach Deutschland kam. Der damalige Chef der Deutschen Bank, Josef Ackermann, verkündete 2003, seine Bank müsse eine Eigenkapitalrendite von 25 Prozent erwirtschaften.
Zu seiner Verteidigung: er meinte 25 Prozent vor Steuern, das bedeutet 15 Prozent nach Steuern, aber vom neoliberalen Denken besoffen, hielt niemand Ackermanns Ziel für unrealistisch. Die Wirklichkeit holte die Bank ein. Heute liegen die Aktien der Deutschen Bank schon fast auf Ramschniveau.
Denn die Sucht nach Gewinn wurde von Gier getrieben. Banken, Anwälte, Finanzmakler, Investoren dachten sich immer neue, häufig illegale Methoden aus, Geld zu vermehren. Inzwischen lesen wir jeden Tag über neue Betrügereien aus der Finanzwelt.
Allein für die Strafen wegen der Täuschung von Anlegern rund um ausgefallene Immobilienkredite vor dem Ausbruch der Finanzkrise musste die Deutsche Bank in verschiedenen Strafverfahren knapp zehn Milliarden Dollar zahlen, hinzu kommen weitere Milliardenstrafen wegen Geldwäsche – und das ist nicht alles.
Diese Summe muss man sich vorstellen: Weit mehr als zehn Milliarden Euro! Der Jahreshaushalt des Stadtstaates Hamburg im Jahr 2019 umfasst gerade mal 15 Milliarden Euro. In deutschen Gefängnissen sitzen rund Tausend Schwarzfahrer, weil sie einen Schaden von einigen Tausend Euro verursacht haben. Da frage ich mich: Wie viele Mitarbeiter der Deutschen Bank sind eigentlich im Gefängnis gelandet – bei der Milliardenschadenssumme?
Jeden Tag kann ich mich morgens ärgern, wenn ich die Wirtschaftsseiten der Tageszeitungen aufschlage. Sie lesen sich wie Pressemitteilungen der Kommissariate für Wirtschaftskriminalität. Achten Sie einmal darauf! So meldet die Frankfurter Allgemeine Zeitung am 19. Dezember 2018: »Die deutsche Justiz rüstet auf, um der wachsenden Strafverfahren im Zusammenhang mit den umstrittenen ›Cum-Ex‹-Steuertricksereien Herr zu werden. Das Landgericht Bonn hat dazu eigens eine zusätzliche Strafkammer eingerichtet.« Bankmanager und Börsenhändler hatten durch betrügerische Steuererklärungen den Staat um mehrere Milliarden Euro betrogen. Allein die Hypo-Vereinsbank, einmal erwischt, hat freiwillig den Schaden von 113 Millionen Euro nachträglich erstattet! Einem Prozess entgeht sie dadurch trotzdem nicht.
Gier trieb die Finanziers und Banker in ihrem Handeln an – und ihr Denken wurde von der Politik übernommen. Auch hier ging es immer mehr ums Geld: Plötzlich wurde es modern, staatliche Einrichtungen zu privatisieren. Städtische Krankenhäuser wurden verkauft, damit ein Investor sie »schlanker« führen konnte. Was nichts anderes heißt als: weniger Personal, weniger Gehalt, mehr Gewinn.
Die Bundesregierung wollte die Deutsche Bahn privatisieren und an die Börse bringen, weshalb nicht mehr in Reparaturen und Modernisierung investiert, sondern an allem gespart wurde: Gewinn musste eingefahren werden. Die Folge: Heute ist die Bahn ein marodes Unternehmen, dem es an Zügen, Personal und vor allem moderner Infrastruktur fehlt – so der Bundesrechnungshof Ende 2018. Das alles geht zulasten der Kunden, die unter ausfallenden Zügen oder ständigen Verspätungen leiden.
Reden wir erst gar nicht von der Unfähigkeit der Politik, einen Großflughafen in Berlin zu bauen!
Noch ein Beispiel: Selbst in einem Bundesland, in dem der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann einst verbeamteter Gymnasiallehrer war, werden mit angestellten Lehrern zeitlich begrenzte Verträge abgeschlossen, die meines Erachtens wider die guten Sitten sind. »Mit den Ferien kommt die Entlassung« titelte der Spiegel Anfang Juli 2018. 2019 wird es kaum anders sein. Am Ende eines Schuljahres läuft die Anstellung aus. Dann sind die Lehrer während der Sommerferien arbeitslos und müssen Sozialleistungen beantragen. Einen neuen Vertrag erhalten sie erst – wenn sie Glück haben – zu...