Als US-Präsident Barack Obama im Frühling 2014 Japan einen offiziellen Besuch abstattete, wurden japanische Regierungsbeamte damit beauftragt, eine Örtlichkeit für das Willkommensdinner zu suchen, das der japanische Premierminister geben wollte. Es sollte ein privates Abendessen werden, noch vor dem offiziellen Beginn des Staatsbesuchs am nächsten Tag, zu dem ein feierliches Abendessen im Kaiserpalast gehören sollte, unter dem Vorsitz von Kaiser und Kaiserin.
Malen Sie sich aus, wie viele Überlegungen in die Auswahl des Restaurants einflossen! Als bekannt gegeben wurde, dass das Sukiyabashi Jiro ausgesucht worden sei, eines der wohl berühmtesten und angesehensten Sushi-Restaurants der Welt, wurde diese Entscheidung allgemein gebilligt. Tatsächlich zeigte Präsident Obamas Lächeln beim Verlassen des Restaurants, wie sehr er das Erlebnis des Essens dort genossen hatte. Angeblich sagte Obama, es sei das beste Sushi gewesen, das er je gegessen habe. Das war ein Riesenkompliment von jemandem, der auf Hawaii mit seinen starken japanischen Einflüssen – Sushi eingeschlossen – aufgewachsen ist und vermutlich schon viele Haute-Cuisine-Erfahrungen hinter sich hat.
Der stolze Chef des Sukiyabashi Jiro ist Jiro Ono, zurzeit mit einem Alter von 92 Jahren der älteste lebende Drei-Sterne-Koch. Das Sukiyabashi Jiro war bei japanischen Feinschmeckern schon lange berühmt, als 2012 der erste Michelin-Führer für Tokio erschien, aber seit dieser Veröffentlichung steht das Restaurant definitiv auf der Weltkarte der Gourmets.
Obwohl das Sushi, das er produziert, von einer beinahe mystischen Aura umgeben ist, basiert Onos Küche auf praktischen, erfinderischen Techniken. Beispielsweise hat er eine spezielle Prozedur entwickelt, um Lachsrogen (ikura) das ganze Jahr über frisch zu halten. Das stand im Widerspruch zur althergebrachten Branchenweisheit der besten Sushi-Restaurants – dass ikura nur während der Herbstsaison serviert werden sollte, wenn die Lachse sich die Flüsse hinaufkämpfen, um ihre Eier zu legen. Außerdem erfand er eine spezielle Räuchermethode, bei der eine bestimmte Sorte Fischfleisch für ein spezielles Aroma über brennendem Reisstroh geräuchert wird. Um den Geschmack des Sushi zu optimieren, muss der Zeitpunkt, zu dem die Sushi-Teller vor die sehnlich wartenden Gäste gestellt werden, ebenso präzise kalkuliert werden wie die Temperatur des Fischfleischs (dabei wird angenommen, dass die Gäste das Essen ohne allzu langes Zögern in den Mund stecken). Im Sukiyabashi Jiro zu essen ist, als erlebe man ein exquisites Ballett, das ein würdevoller, angesehener Maestro mit strenger Miene hinter der Theke dirigiert (obwohl man, mit etwas Glück, hin und wieder ein Lächeln über sein Gesicht huschen sieht).
Es ist zu vermuten, dass Onos unglaublicher Erfolg außergewöhnlichem Talent, äußerster Entschlossenheit und sturer Hartnäckigkeit im Laufe von vielen Jahren harter Arbeit entstammt, außerdem der unablässigen Beschäftigung mit kulinarischen Techniken und dem Liefern allerhöchster Qualität. Man muss nicht erwähnen, dass all dies Onos eigene Leistung ist.
Allerdings hat Jiro Ono darüber hinaus – und vielleicht vor allem – ikigai. Es ist keine Übertreibung, wenn man sagt, dass er den unfassbar märchenhaften Erfolg in seinem beruflichen und privaten Leben der Verfeinerung dieses extrem japanischen Ethos verdanke.
Ikigai ist ein japanischer Begriff, der die Freuden und den Sinn des Lebens beschreibt. Wörtlich übersetzt, besteht er aus iki (»leben«) und gai (»Sinn«).
Im Japanischen wird ikigai in unterschiedlichen Zusammenhängen benutzt; das Wort kann sich ebenso auf kleine Alltagsdinge beziehen wie auf große Ziele und Erfolge. Der Begriff ist so gebräuchlich, dass die Menschen ihn ganz beiläufig im täglichen Leben verwenden, ohne sich seiner besonderen Bedeutung bewusst zu sein. Besonders wichtig ist, dass man für ikigai nicht unbedingt im Berufsleben erfolgreich sein muss. In dieser Hinsicht ist es ein sehr demokratisches Konzept, durchdrungen von der Freude an der Vielfalt des Lebens. Es stimmt zwar, dass ikigai zum Erfolg führen kann, aber Erfolg ist keine notwendige Bedingung für ikigai. Es steht uns allen offen.
Für den Eigentümer eines erfolgreichen Sushi-Restaurants wie Jiro Ono ist ein Kompliment des Präsidenten der Vereinigten Staaten eine Quelle von ikigai. Vom Guide Michelin als ältester Drei-Sterne-Koch der Welt ausgezeichnet zu werden, zählt sicherlich ebenfalls als ziemlich nettes Beispiel für ikigai. Aber ikigai beschränkt sich nicht auf die Bereiche von weltlicher Anerkennung und Ruhm. Vielleicht findet Ono sein ikigai einfach darin, einem lächelnden Gast den besten Thunfisch zu servieren oder die erfrischende Kühle der Luft am frühen Morgen zu spüren, wenn er aufsteht, um auf den Tsukiji-Fischmarkt zu gehen. Ono könnte sein ikigai sogar in der Tasse Kaffee finden, an der er nippt, bevor er seinen Tag beginnt. Oder in einem Sonnenstrahl, der durch die Blätter eines Baumes fällt, während er zu seinem Restaurant im Stadtzentrum von Tokio spaziert.
Ono hat einmal erwähnt, dass er gerne beim Zubereiten von Sushi sterben würde. Es vermittelt ihm eindeutig ein tiefes Gefühl von ikigai, ungeachtet der Tatsache, dass viele der dafür notwendigen Einzelschritte als solche monoton und zeitraubend sind. Damit Oktopusfleisch zart und aromatisch wird, muss Ono den Kopffüßler beispielsweise eine Stunde lang »massieren«. Auch Kohada, ein kleiner, glänzender Fisch, der als Krönung des Sushi gilt, braucht viel Aufmerksamkeit: Schuppen und Gedärme müssen entfernt und eine präzise ausbalancierte Marinade aus Salz und Essig angewendet werden. »Mein allerletztes Sushi wird vielleicht Kohada sein«, sagte er.
Ikigai lebt im Reich der kleinen Dinge. Die Morgenluft, die Tasse Kaffee, der Sonnenstrahl, das Massieren von Oktopusfleisch und das Lob eines amerikanischen Präsidenten sind gleichberechtigt. Nur diejenigen, die den Reichtum dieses gesamten Spektrums erkennen, schätzen und genießen es wirklich.
Das ist eine wichtige Lektion zum Thema ikigai. In einer Welt, in der es vor allem unser Erfolg ist, der unseren Wert und unser eigenes Selbstwertgefühl bestimmt, stehen viele Menschen unter unnötigem Druck. Sie haben manchmal das Gefühl, das eigene Wertesystem sei nur dann gerechtfertigt, wenn es zu konkreten Erfolgen führt – beispielsweise zu einer Beförderung oder einer lukrativen Investition.
Entspannen Sie sich! Sie können ikigai haben – ein Wertesystem, nach dem Sie leben können –, ohne sich unbedingt auf solche Art beweisen zu müssen. Das heißt aber nicht, dass es von selbst entsteht. Manchmal muss ich mir diese Wahrheit wieder ins Gedächtnis rufen, obwohl ich in einem Land geboren und aufgewachsen bin, in dem das Wissen um ikigai mehr oder weniger vorausgesetzt wird.
In einem Vortrag mit dem Titel »Wie man 100 oder älter wird« (»How to live to be 100+«) während einer TED-Konferenz sprach der US-Autor Dan Buettner über ikigai als spezifisches Ethos für Gesundheit und ein langes Leben. Während ich dies schreibe, ist Buettners Vortrag schon über drei Millionen Mal angesehen worden. Buettner beschreibt die Lebensstile von fünf Orten in aller Welt, an denen Menschen länger leben. Jede dieser »blauen Zonen«, wie Buettner sie nennt, hat eine eigene Kultur und Traditionen, die zu Langlebigkeit beitragen. Die Zonen sind Okinawa in Japan, Sardinien in Italien, Nicoya in Costa Rica, Ikaria in Griechenland und die Gemeinde der Siebenten-Tags-Adventisten im kalifornischen Loma Linda. Unter den Bewohnern dieser blauen Zonen genießen jene von Okinawa die höchste Lebenserwartung.
Okinawa ist eine Kette von Inseln am südlichsten Ende des japanischen Archipels. Die Präfektur rühmt sich einer Vielzahl von Hundertjährigen. Buettner zitiert ihre Einwohner als Zeugen dessen, was ikigai ausmacht: Ein 102-jähriger Karatemeister sagte ihm, sein ikigai bestehe aus der Beschäftigung mit der Kampfkunst; ein 100-jähriger Fischer fand seines darin, weiterhin drei Mal pro Woche Fisch für seine Familie zu fangen; eine 102-jährige Frau berichtete, ihres bestehe darin, ihre winzige Urururenkelin im Arm zu halten – sie sagte, das sei wie ein Sprung in den Himmel. Miteinander verwoben, liefern diese einfachen Entscheidungen zum Lebensstil Hinweise darauf, was die Essenz von ikigai ausmacht: ein Gefühl von Gemeinschaft, eine ausgewogene Ernährung und ein Bewusstsein für Spiritualität.
Obwohl sie in Okinawa vielleicht offensichtlicher sind, teilen Menschen überall in Japan diese Grundsätze. Schließlich ist die Lebenserwartung im gesamten Land extrem hoch. Nach einer Studie des japanischen Ministeriums für Gesundheit, Arbeit und Wohlfahrt aus dem Jahr 2016 ist im internationalen Vergleich die durchschnittliche Lebenserwartung der Männer in Japan mit 80,79 Jahren die vierthöchste der Welt, nach Hongkong, Island und der Schweiz. Japanische Frauen leben mit einer durchschnittlichen Lebenserwartung von 87,05 Jahren am zweitlängsten, nach denen in Hongkong und vor den spanischen Frauen.
Es ist faszinierend zu sehen, wie sehr ikigai vielen Japanern im Blut liegt. Wissenschaftler der Tōhoku-Universität im nordjapanischen Sendai haben 2008 eine wichtige Studie zum gesundheitlichen Nutzen von ikigai...