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E-Book

Im Club der Zeitmillionäre

Wie ich mich auf die Suche nach einem anderen Reichtum machte

AutorGreta Taubert
VerlagEichborn AG
Erscheinungsjahr2016
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783732529766
Altersgruppe16 – 
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR

Ist Zeit wirklich Geld? Fühlt man sich reich, wenn man unbegrenzt Zeit hat? Und kann ein anderer Umgang mit Zeit die Gesellschaft verändern?

Greta Taubert will wissen, was Zeitwohlstand ist und besucht Menschen, die ihn leben. Sie nimmt sich Zeit, lässt sich treiben, wird inspiriert - und dabei immer aktiver. Im Club der Zeitmillionäre lernt sie neue Lebensentwürfe kennen und wird vor Herausforderungen gestellt, mit denen sie nicht gerechnet hat. Ein Projekt voller Überraschungen - lebensverändernd und erhellend.



<p>Greta Taubert ist Reporterin und Autorin in Leipzig. Sie schreibt für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, das SZ Magazin, Die Zeit, Vice, Cicero und die taz. Im Eichborn-Verlag erschien 2014 das gonzojournalistische Sachbuch "Apokalypse Jetzt" über ihren einjährigen Versuch aus der westlichen Konsumkultur auszusteigen. <br></p>

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Leseprobe

1DER AUSSTIEG


Im Hamsterrad Karussell fahren


Es ist wieder einer dieser Tage, die ich mit dem Wort »Fuck« beginne. Ich liege in meinem Bett, und weil die Vorhänge nie das ganze Fenster abdunkeln, sehe ich durch einen Spalt, wie eine Elster auf einem Löwenkopf der gegenüberliegenden Fassade kauert. Der Löwe ist wirklich gruselig. Aber die Elster reitet das Biest. Weil ich sie sehen kann – die Elster und das Biest –, weiß ich, dass es heller Tag ist. Und dass der helle Tag zum Arbeiten da ist und nicht zum Vögelbeobachten. Ich drücke auf den Knopf am Telefon, die Uhr leuchtet auf und zeigt Dienstag, 8.40 Uhr. Das Ding hätte vor einer Stunde klingeln sollen, hat es vielleicht auch, so genau kann ich mich nicht mehr erinnern. Jedenfalls hat es letztlich den Snooze-Wettstreit gegen mich verloren. Jetzt also Fuck: Ich muss mich beeilen. Fuck: Ich komme zu spät zum Meeting nach Hamburg. Fuck: Wann fährt die nächste Bahn? Fuck: Dann gucken alle so vorwurfsvoll. Fuck: Wie erkläre ich das? Fuck: Ich funktioniere nicht richtig.

In diesem Moment, in dem ich hektisch meine Klamotten zusammensuche, bin ich 31 Jahre alt. Auf eine unbeschwerte Kindheit in der ostdeutschen Provinz folgten Schule, Studium, Praktika, Stipendien, Arbeitswelt. Ich habe immer schön abgeleistet, wenn es etwas zu gewinnen gab. Der Erfolgsgraph ist über die Jahre immer weiter angestiegen – wie auch bei den meisten meiner Freunde, Kollegen, Bekannten. Prospere Dreißiger mit funktionierenden Lebensplänen. Angekommen in der Welt des Machens, des Entscheidens, des Geldverdienens und -ausgebens, des Sich-was-Trauens, des Sich-was-Gönnens, des Versorgens, des Vorsorgens. Es ist schwierig geworden, dass wir uns verabreden, weil wir alle so große wichtige Sachen am Wickel haben: Haus, Kinder, Partner, Job. Immer steht schon irgendwas im iCalendar, das wichtiger ist als mal wieder sinnlos rumzuhängen. »Rushhour« des Lebens nennen Soziologen diesen Lebensabschnitt, weil man richtig Gas geben muss, um all die Verantwortlichkeiten zu packen. Um dem Takt der Alltäglichkeiten standzuhalten. Um zu funktionieren. Aber steht man während der Rushhour nicht immer im Stau und haut mit der Hand auf das Lenkrad und brüllt: Los, beeil dich, du Affe? Man hat keine Zeit – und kommt trotzdem nicht vom Fleck?

Familienstudien zeigen, dass zwei Drittel aller Eltern mit Kindern unter 16 Jahren das Gefühl haben, nicht allen Anforderungen gerecht zu werden. Irgendetwas kommt immer zu kurz. Die Mütter beklagen, dass sie sich nicht mehr genug um ihre eigenen Bedürfnisse kümmern können, die Väter, dass sie zu wenig Zeit für Partnerin, Kinder und Freunde haben. Das Rad der eigenen und fremden Ansprüche ans Leben dreht sich zu schnell. Es ist nicht mehr nur ein Hamsterrad, in dem sie sich abstrampeln. Es sind mehrere gleichzeitig: erfülltes Berufsleben, glückliche Familie, funktionierender Haushalt, bestellter Garten, regelmäßiger Sport, psychische und physische Gesundheit, stabile Freundschaften. Die Imperative des Funktionierens heißen: Du musst dafür arbeiten! Du musst es nur wollen! Du kannst jeden Tag damit beginnen, eine bessere Version deiner selbst zu sein! Das Forsa-Institut befragte im Oktober 2014 mehr als tausend Eltern: 63 Prozent klagten über Zeitsorgen, nur 37 Prozent über Geldsorgen. Wenn ich mir selbst und meinen Leuten zuhöre, dann fängt eigentlich jeder Satz mit »Ich muss …« an. Ich muss das heute noch fertig machen. Ich muss mit den Kindern zum Sport. Ich muss die Wäsche machen. Ich muss dich unbedingt mal wiedersehen. Ich muss zur Therapie.

»Ich muss los«, rufe ich meinem Nicht-nur-Mitbewohner Herrn F. zu. »Ich bin viel zu spät. Die Redaktion wird supersauer sein.« Ich schnappe mir einen Apfel und werfe ihn in die Handtasche. »Du wirst es mit deinem Charme ausgleichen«, antwortet er. Es soll mich trösten, aber ich stöhne. Charme ist doch die Waffe der Unperfekten. Dann renne ich los in den Fuck-Tag. Per Smartphone buche ich mein Ticket, setze ein Tschuldigung, wird später ab, checke das Wetter, dann die Mails, dann Facebook. Die Elster auf der Fassade keckert zum Abschied, aber ich sehe sie nicht mehr. Das Biest ist dazwischen. Nicht der Löwe, sondern das Biest des Funktionieren-Müssens.

Ich steige in den Zug nach Hamburg und richte mich ein im blauen Sessel und im Suboptimalen. Das Gewissen bohrt, der Zweifel wuchert. Hektisch krame ich meine Unterlagen hervor, um die Fahrzeit zur Vorbereitung zu nutzen. Als ich gerade meinen Laptop aufklappen will, fällt mir das Magazin ins Auge, das immer im ICE ausliegt. Dort steht in großen Buchstaben unter dem Bild zweier knutschender Zugreisender Diese Zeit gehört dir. Ich gucke mich um im Abteil, und genau wie ich haben die meisten ihren Laptop, ihr iPad oder ihr Smartphone vor sich. Ihre Gesichter sehen im blauen Schein ganz zombiemäßig aus, und ich frage mich, ob hier wirklich irgendeiner gerade frei über seine Zeit verfügt. Was heißt das eigentlich? Und wie soll das aussehen? Knutschen, oder was? Ich schiele zu dem Menschen neben mir, so ein Business-Eumel. Wann hat der zum letzten Mal wild im Zug geküsst? Und ich?

Angekommen am Hamburger Baumwall. Im Konferenzraum eines Verlagshauses diskutiert eine kleine Runde von Journalisten darüber, wie man eine Zeitschrift neu ausrichten kann. Ein Beamer surrt. Es gibt Obstspieße, Filterkaffee und in der Luft liegt Testosteron. Nur Männer in der Runde. Sie tragen bunte Turnschuhe, als kämen sie gerade vom Jogging. Adrian vom Lufthansa-Magazin, Tim vom Nissan-Magazin, Stephan vom Bahn-Magazin. Harte Jungs, die sich auskennen mit Geschwindigkeit. Mit Höher, Schneller, Weiter. Mit dem Sog der Beschleunigung. Ich knalle meine Unterlagen auf den Tisch und tue so, als wäre mein spätes Aufkreuzen normal. Keine Zeit haben – das ist hier bestimmt ein Qualitätsmerkmal. »Starker Auftritt«, raunt mir einer zu, als ich Platz genommen habe. Oh Mann.

Einmal drin im Hamsterrad der journalistischen Leistungsstrampler geht es auch ordentlich rund. Wir pflügen die Zeitschrift durch, formulieren unsere Kritik, präsentieren neue Ansätze, diskutieren, konkurrieren, streiten, finden Kompromisse. Draußen vor den Fenstern ziehen die Containerschiffe auf der Elbe vorbei, die am Hafen ihre Container entladen werden. Geschäftigkeit erzeugt Geschäfte, erzeugt Resultate. Da draußen sind es fassbare Güter, hier drinnen sind es Ideen. Es macht Spaß, mit den Jungs hier drinnen so schnell unterwegs zu sein und gedanklich voranzukommen. Ideencontainer zu verladen. Wenn ich mir nur diesen kleinen Ausschnitt des Tages anschaue, muss ich feststellen: Arbeiten ist doch eigentlich eine feine Sache. Weil es schön ist zu merken, dass man etwas gut kann. Weil es schön ist, das mit anderen zu teilen und zu erweitern. Weil es schön ist, dafür auch noch Geld zu bekommen. Warum war ich heute Morgen noch so fucking genervt? Warum fühle ich das hier nicht immer?

Vielleicht liegt es an dem Wort: immer. Arbeit ist ein Dauerzustand geworden. Egal, wohin ich gehe, meine Arbeit habe ich dabei. Im Kopf, im Telefon, im Laptop. Eine Studie des Instituts für Demoskopie Allensbach zeigte, dass fast zwei Drittel aller befragten Deutschen für ihren Arbeitgeber auch in der Freizeit erreichbar sind. Die Studie wurde unter dem Titel Trendcheck: Beziehungskiller Job veröffentlicht und zeigt da gleich mal an, wohin das führen kann. Eine andere Studie aus dem gleichen Jahr fand heraus, dass in Deutschland fast die Hälfte der Beschäftigten in ihren Ferien bis zu drei Stunden arbeitet. Arbeit ist immer und überall – das ist der Normalzustand im Zeitalter der ständigen Erreichbarkeit. Mittlerweile achten zwar einige wenige Unternehmen strikt darauf, dass ihre Mitarbeiter nicht mehr nach Dienstschluss die Mails checken und im Urlaub nicht auf ihren Server zugreifen können, aber die Maßnahme bekämpft ja auch nur das Symptom, nicht das Problem selbst.

Und dieses Problem ist das Problem der entgrenzten Pflicht. Ich selbst habe zum Beispiel gar keinen festen Arbeitgeber, der mein Mailkonto mit der Stechuhr abgleicht. Es gibt keinen Chef, der von mir Überstunden erwartet oder einen Auftraggeber, der meinen Tag verplant. Freiberufler eben, yeah. Manchmal habe ich eine Deadline für einen Text oder fest vereinbarte Termine für Interviews oder eben dieses Kreativtreffen im Hamburger Medienhaus. Aber im Wesentlichen zwingt mich niemand dazu, meine Zeit für ihn zu kommerziell zu vertakten und zu vernutzen. Trotzdem begleitet mich im Alltag das ständige Gefühl, noch etwas machen, schaffen, erledigen zu müssen. Es durchdringt jeden Moment der Lebenszeit. Der Sog des ständigen Funktionierens hat offenbar auch mich – genau wie die gesamte Gesellschaft – erfasst. Wenn ich nicht mitmachte beim Höher, Schneller, Weiter, so heißt es, fiele man doch durch das soziale Gitter in die Kanalisation der Gesellschaft: in die unproduktive Unterschicht. Da will ich nicht sein! Da gehör ich nicht hin! Ich gehör an den großen Tisch mit den Leistungsträgern in Turnschuhen!

Die Angst vor dem sozialen Abstieg fängt schon an, bevor man überhaupt aufgestiegen ist. Im Januar 2015 berichtete die Wochenzeitung Die Zeit, dass die aktuelle Studierendengeneration den Zustand von Ruhe, Nichtstun und Langeweile als regelrecht unerträglich empfände. »Die Studenten haben schon mit 20 Jahren das Gefühl, sie verplemperten Zeit, wenn sie sich nicht zügig für ein Studium und einen Lebensweg entscheiden.« Verschiedene Studiensurveys der Bundesregierung bezeugen den Trend zur ständig wachsenden Leistungsbereitschaft. Die Burn-out-Diagnosen steigen proportional.

Und so begleitet mich ein ständiges Gefühl des Müssens: stets...

Blick ins Buch

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