Vorwort
Gefühle: ein leichtes, fast schwebendes Wort für einen gewichtigen, tiefgreifenden Aspekt des Lebens. Ein zu einfacher Begriff, wenn wir an die kaleidoskopische Vielfalt dessen denken, was er so lässig einzuschließen vorgibt: Liebe und Haß, Sehnsucht und Abneigung. Triviale und heftige, sanfte und stürmische, positive und vernichtende Gefühle gibt es, und das ist erst der Anfang.
Wie steht denn der Mensch zu seinen Gefühlen? Daß es sich um ein gespanntes, unklares Verhältnis handelt, ist unwiderlegbar. Das zeigt sich schon darin, daß der Begriff Gefühle nicht, wie die meisten anderen wichtigen Begriffe unserer Sprache, einen Gegensatz kennt, sondern zwei, deren einem eine gute und deren anderem eine schlechte Bedeutung zugeordnet ist. Der Gegensatz von heiß ist kalt, von gut böse, aber bei den Gefühlen wird aus der ordentlichen Dialektik der Gegensätze eine verworrene Dreiecksgeschichte: Als Gegenstück zu Gefühl gilt sowohl «Verstand», etwas Positives, Erstrebenswertes, als auch «Gefühllosigkeit», auch Gefühlsarmut, Gefühlsleere, lauter erschreckende Zustände – oder Gefühlskälte: Schon das Wort läßt die Seele erstarren und macht sogar dem Verstand Angst, denn ein gefühlskalter Mensch scheint uns auch dort bedrohlich, wo es nicht um Gefühle geht, sondern die reine Vernunft angesprochen ist. Warum eigentlich? Weil das Gefühl von Gemeinsamkeit oder die Gemeinsamkeit von Gefühlen uns mehr verbindet als die Gemeinsamkeit des menschlichen Verstandes? Weil Gefühle das Verhalten letztlich vorhersehbarer und verständlicher steuern als der Verstand? Weil wir die reine Vernunft für mindestens so gefährlich und bedrohlich halten wie das entfesselte Gefühl?
Wenn es um Gefühle geht, dann spielt immer auch die Dosierung eine Rolle. Gefühlvoll, das ist schon recht, vor allen Dingen im häuslichen, im zwischenmenschlichen Bereich, gefühlvoll zu sein ist eine notwendige Eigenschaft auch von sensiblen Künstlern. Menschen jedoch, die Autorität haben und respektiert werden sollen, müssen davon frei sein. Wer gefühlvoll entscheidet, entscheidet mitunter auch zum eigenen Nachteil und zeigt somit Schwäche gegenüber denjenigen, die rein nach dem Verstand handeln und verhandeln: Ein gefühlvoller Politiker, so müssen wir befürchten, fällt feindlichen Propagandisten zum Opfer und liefert uns dem Gegner aus. Gefühlsbetont, auch vor Entscheidungen unter diesem Etikett nehmen wir uns lieber in acht. Ein Überschwang der Gefühle gar, das ist etwas für den Frühling, für die Jugend, für die erste Verliebtheit. Wer etwas auf der Gefühlsebene durchsetzen will, weckt die Assoziation von Tränen, von kleinlichen Ängsten oder Unbeherrschtheiten.
Wichtiger als die Dosierung ist vielleicht die Relation – das Verhältnis zwischen Gefühl und Verstand? Ein perfektes Gleichgewicht läßt unter Umständen keine Handlung zu; der eine oder andere Aspekt muß das Übergewicht bekommen und die Entscheidung herbeiführen. Mit welchen Folgen? Auch hier stoßen wir nur auf Widersprüchlichkeiten. Wenn wir sanfter handeln als normalerweise, dann stecken Gefühle dahinter. Wenn wir brutaler handeln, als zu erwarten ist, dann aber auch. Gefühle kräftigen die Vernunft, stärken die Selbstbeherrschung, dämmen die Gewalt ein. Aber: Gefühle schalten die Vernunft aus, vernichten die Selbstbeherrschung, entfesseln die Gewalt. Gefühle sind gefährlich. Gefühle sind aber auch peinlich, sentimental. Gefühle sind banal; Herz und Schmerz reimt sich auf vorfabrizierten Glückwunschkarten.
Und dann gibt es noch die Leidenschaften. Sie gehören schon eher ins Reich der Pathologien. Es wird getötet aus Leidenschaft, vernichtet und zerstört und getobt. Trotzdem wird sich kaum jemand finden, nicht einmal unter den kühlsten Logikern, der sich freiwillig dazu bekennen wollte, gänzlich leidenschaftslos veranlagt zu sein. Gefühle und Leidenschaften und die Taten, die in ihrem Namen begangen werden: sie sind unser Thema.
Die Schauplätze, an denen sie inszeniert werden, erstaunten uns im Lauf unserer Nachforschungen nicht weniger als die Apparate, die in unserer Gesellschaft die Aufgabe übernommen haben, die Leidenschaften zu verwalten und ihre Opfer zu versorgen.
Wie ist das alles zu bewerten? Die Leidenschaften der Zwischenmenschlichkeit, ein Orkan, unberechenbar, unkontrolliert, sich des Körpers und des Willens der Menschen bemächtigend wie ein Voodoo-Geist seiner willenlosen Zombies? Oder ist da doch irgendwo noch die Vernunft, die Berechnung ausschlaggebend? Um der Beantwortung dieser Frage näherzukommen, mußten wir versuchen, einen möglichst gefühlsfreien Blick auf die Welt der Gefühle zu werfen, um festzustellen, wie sich hier die Rollen und Aufgaben verteilen. Wer empfindet mit welchen Konsequenzen für seine Umgebung welche Gefühle?
Je mehr wir uns mit Gefühlen befaßten, desto mehr begriffen wir, daß sie keineswegs so spontan und willkürlich sind, wie auch wir angenommen hatten.
Daß Gefühle und Leidenschaften in engem Zusammenhang stehen mit dem gesellschaftlichen Zusammenleben und seinen Regeln und bis zu einem bestimmten Punkt auch nach seinen Gesetzen ablaufen, erkennen wir an der Art, in der diese Gefühle tatsächlich ausgelebt und ihre Konsequenzen verwaltet werden. Verwaltet, ja, denn mit den realen Folgen der Gefühle befassen sich in der Regel nicht, wie wir vielleicht meinen würden, die Dichter und Träumer, sondern viel prosaischere Instanzen des Alltags: der Scheidungsrichter, die Polizei, der Journalist der Lokalredaktion.
Gefühle erweisen sich, sobald wir die Dichtung beiseite lassen und ihren tatsächlichen Effekt im realen Leben wirklicher Menschen betrachten, als Bestandteil einer pragmatischen Inventarliste, die Vor- und Nachteile und Macht und Schwäche unter den Zusammenlebenden aufteilt. Wir wollen in diesem Buch versuchen, die politische Analytik um eine Kategorie zu ergänzen, die unverständlicherweise stets ausgeklammert wird: die Kategorie der Gefühle. Wir werden dabei der These nachgehen, daß diese Kategorie eine unverzichtbare analytische Dimension darstellt: daß Gefühle nur im Zusammenhang mit der jeweiligen politischen Relation verständlich sind (d.h. der Macht, die mittels der Gefühle errungen, überwunden oder ausgeschaltet werden soll).
Die Wurzel jeder politischen Beziehung, und daher auch jeder politischen Analyse, ist die Frage nach der Macht. Macht etabliert und erhält sich mittels der Gewalt, der Abhängigkeiten und der Ideologie. Gefühle sind eine Dimension der Macht: Sie können Gewalt erzeugen oder mindern, sie gehen einher mit emotionaler und materieller Abhängigkeit, und sie bilden selber eine wirksame Ideologie.
Durch Gefühle lassen sich Mitmenschen beeinflussen, läßt sich ihr Verhalten steuern, lassen sich sogar soziale Realitäten – z.B. eine «Familie» – schaffen. Ohne Ausnahme geschieht jede Interaktion auch durch die bewußte Erzeugung eines bestimmten Gefühls. Dabei haben die Beteiligten durchaus einen gewissen Spielraum, der durch die Situation und ihre jeweiligen Persönlichkeiten, aber auch durch ihr individuelles Machtpotential gestaltet wird.
Nehmen wir z.B. eine «sachliche» Beziehung, die Beziehung zwischen einem «Chef» und seiner Sekretärin. Der Chef möchte, daß die Sekretärin eine Stunde länger im Büro bleibt und noch einige wichtige Briefe schreibt. Er erzeugt in ihr das Gefühl,
1. daß er ein sehr wichtiger, autoritativer Mensch sei, der eine bedeutende Aufgabe zu erfüllen habe, weshalb sie verpflichtet sei, ihm dabei zu helfen, oder
2. daß er ein netter, angenehmer Mensch sei, dem sie aus dieser Patsche helfen sollte und der dann gelegentlich im umgekehrten Fall auch einmal ein Auge zudrücken wird, etwa wenn sie früher heimgehen will, oder
3. daß irgendein über ihnen beiden stehender Vorgesetzter ihnen gemeinsam diese lästige Arbeit aufgedonnert hat, die sie nun als Gleiche so rasch wie möglich hinter sich bringen sollten.
Es gibt sehr viele Gefühlsvarianten, die der Chef hier erzeugen kann und die andererseits die Sekretärin vorbeugend oder in Reaktion auf solche Anforderungen hervorrufen kann, wobei sie sich jeweils auch der Konsequenzen des gewählten Gefühls bewußt sein müssen.
Natürlich sträuben wir uns zu glauben, daß Kalkül und Berechnung in den persönlicheren Beziehungen eine Rolle spielen. Aber es ist so. Nehmen wir eine typische Situation des Zusammenlebens: Sie entdecken, daß Ihr Partner heimlich ein Verhältnis zu einer anderen Person unterhält. Möglich, daß ein spontanes Gefühl Sie überwältigt: Trauer, Zorn, Enttäuschung etc. Wie Sie dieses Gefühl aber vermitteln und ausleben werden, hängt von Ihren bewußten Überlegungen ab. Wenn Sie verständnisvoll und vorwurfsfrei reagieren, kommt er/sie dann eher zu Ihnen zurück, oder faßt er/sie das dann eher als stillschweigende Erlaubnis auf, auch in Zukunft weiterhin solche Verhältnisse zu haben? Ist es vielleicht besser, ihm/ihr eine abschreckende Szene zu machen? Möglich, daß Sie auch mit einer echten Affekthandlung reagieren; diese Affekthandlung aber ist in aller Regel das Ergebnis vieler vorangegangener Aktionen, die letzten Endes doch ein eindeutiges Muster ergeben, an dessen Ende dann diese Extremhandlung gesetzt wurde.
Um dieses Muster zu erkennen, sind Extremfälle besonders gut geeignet; deshalb interessierten uns vor allem die extreme Situationen, in denen Gefühle besonders deutlich und mit klar erkennbaren Folgen ausgelebt wurden. Bei unseren ersten Versuchen, hinter extremen Handlungen die Logik politischer Berechnungen zu erkennen, kamen wir allerdings schnell ins Schleudern. Wenn ein gewalttätiger Mann über ein eingebildetes oder ein echtes «Vergehen» seiner...