2. Voraussetzungen für den gelungenen Einsatz von Imaginationen
Alle Menschen sind in der Lage, sich etwas vorzustellen, und haben oft in schnellster Abfolge die verschiedensten Bilder im Kopf. Unsere Fantasie ist (fast) unbegrenzt, in unserem Kopf können wir alles kreieren, was wir wollen, was unendlich viele Möglichkeiten eröffnet. Durch diese Kreativitätsleistungen finden wir neue Wege und Lösungen – für eher banale Alltagsprobleme bis hin zu wirklich kniffligen Aufgaben.
Bei der Arbeit mit Imaginationen im therapeutischen oder Coachingkontext werden diese Fähigkeiten genutzt, um bewusst und zielgerichtet innere Bilder entstehen zu lassen. Es werden dabei Bilder hervorgeholt, die nicht mehr oder noch nicht präsent sind. Auf diese Art und Weise können wir sowohl Erinnerungen an die Vergangenheit nutzen als auch bereits vorhandene Bilder kombinieren und weiterentwickeln für neue Zukunftsperspektiven. Kurz gesagt: Bei der Arbeit mit Imaginationen findet eine Steuerung der inneren Bilder statt. Als Voraussetzung für diese Steuerung braucht es die fokussierte Aufmerksamkeit vom Übenden. Eine Therapeutin oder ein Coach hilft dem Klienten dabei, das ganze Potenzial seiner Vorstellungskraft zu nutzen.
Das Ziel beim Einsatz von Imaginationen liegt darin, alle Ressourcen und Potenziale des Klienten zu nutzen und mit deren Hilfe innere Bilder zu erzeugen, die hilfreich sind. Bei angespannten und gestressten Menschen könnte dies beispielsweise eine Imagination für mehr Entspannung und Wohlbefinden sein („Entspannungsort“, s. Abschn. 6.3 und 9.3). Bei kranken Personen würden sich Imaginationen anbieten, die die Selbstheilungskräfte stärken (s. Abschn. 9.12).
2.1 Imagination und Trance
Wenn man mit Imaginationsübungen arbeitet, kommt man nicht drum herum, sich auch mit dem Phänomen der Trance zu beschäftigen. Man unterscheidet hier die als ganz alltägliches Phänomen zu beobachtende Trance, die sich etwa beim Tagträumen einstellt, von der Trance, die willentlich herbeigeführt wird, beispielsweise in der Hypnose (vgl. Abschn. 4.3). Auch bei Imaginationsübungen entstehen häufig Trancezustände. Die Tiefe der Trance ist dabei von verschiedenen Faktoren abhängig: Es wird meistens eine tiefere Trance erzeugt, wenn der Übende sich nicht selbst die Imagination suggeriert, er quasi dabei noch nachdenken muss, was denn nun als Nächstes „kommt“, sondern die Imagination von außen einwirkt. Dies kann beispielsweise durch das Anhören einer Audiodatei geschehen oder durch einen Anleiter vor Ort. Zudem ist es hilfreich, wenn es keine oder wenige Störfaktoren von außen gibt wie klingelnde Telefone, Lärm oder Menschen, die jederzeit stören könnten. Auch die innere Bereitschaft der Übenden, konzentriert in eine Imaginationsübung hineinzugehen, ist entscheidend für die Intensität der Trance.
Generell wird bei der Trance die Aufmerksamkeit, mit allen vorhandenen inneren Bildern, mehr nach innen gerichtet. Dabei wird alles wesentlich plastischer und intensiver wahrgenommen als im Wachzustand. Außerdem gibt es sehr häufig eine verzerrte Zeitwahrnehmung, das heißt, dass die Zeit entweder kürzer oder auch länger wahrgenommen wird, als es real der Fall ist.
Eine typische Situation für eine Alltagstrance ist die Fahrt in der Straßenbahn oder im Bus, ohne sich gezielt mit etwas zu beschäftigen. Sie lesen kein Buch, beschäftigen sich nicht mit ihrem Handy und reden mit niemandem, stattdessen geht der Blick meist hinaus oder auf einen beliebigen Punkt und die Gedanken schweifen umher, wahllos entstehen Imaginationen. Manche nennen es auch Tagträume, ich selbst bezeichne es gerne als gepflegtes Nichtstun. Im Grunde versetzen wir uns ständig selbst in Trance, was meistens allerdings unbewusst geschieht. Der Sinn liegt unter anderem in der Erholung für unser Gehirn, denn Konzentration und Aufmerksamkeit fressen jede Menge Energie. Tatsächlich hat die Trance eine entspannende Wirkung, die Gedanken und inneren Bilder können beliebig umherschweifen, es ist keine Konzentration nötig.
Bei der Hypnose (s. a. Abschn. 4.3) wird mit verschiedenen Methoden eine Trance erzeugt, die immer mit einer bestimmten Fokussierung der Aufmerksamkeit einhergeht. Es handelt sich um einen aktiven, wachen und geistig aufmerksamen Zustand. Primär wirkt die Hypnose entspannend und geht damit auch mit einer Reduzierung von Angst einher. Das Ziel der Trancearbeit in Hypnose wird vom Klienten selbst formuliert. Wichtig ist dabei, darauf zu achten, dass ein Klient nicht nur von etwas weg will, sondern dass auch klar festgelegt wird, wohin er will.
Bei einer erzeugten Trance, wie es bei der Hypnose oder auch bei einer hypnotischen Kommunikation der Fall ist, stellt der Anleitende eine enge Verbindung zu seinem Klienten her. In der Zoologie beschreibt der Fachterminus „die kritische Distanz“, den räumlichen Abstand zwischen Lebewesen, der innerlich genau festgelegt ist und das Verhalten letztendlich reguliert. Dies ist bei Vögeln der Fall, die in einem bestimmten physischen Abstand auf Telefondrähten sitzen, bei Katzen, bis der kritische Punkt zum Angriff gekommen ist, und auch bei Menschen, je nach Beziehung zueinander. Wenn der passende physische Abstand zu einer Person einmal gefunden ist, sei es zur Bankberaterin, zum Freund oder Liebhaber, ist dieser Abstand konstant und verändert sich erst wieder, wenn sich auch etwas in der Beziehung verändert. Die „kritische Distanz“ bedeutet letztendlich „die sichere Distanz“, und genau diese Sicherheit ist in einer erzeugten Trance nicht mehr gegeben (Leveton 2000, S. 196). Ein Hypnotherapeut beispielsweise berührt seine Klienten immer mal wieder, vorzugsweise am Arm, an der Schulter oder auch am Rücken, um den Kontakt zu halten oder die Tiefe der Trance zu überprüfen. Gleichzeitig spricht er zum Klienten, ohne Antworten zu verlangen, es gibt keine Diskussionen und kein Intellektualisieren. Es ist äußerst wichtig, dass in einer erzeugten Trance der Klient dem Therapeuten vertraut, um die „sichere Distanz“ eine Zeit lang aufgeben zu können. Dies ist nicht nur in der Hypnose notwendig, sondern auch in Therapieformen, die Klienten mit anderen Techniken und Methoden in tranceartige Zustände versetzen können, wie zum Beispiel in der Gestalttherapie, im Psychodrama oder in der Tanztherapie (s. a. Kap. 4).
Der Unterschied zwischen einer Hypnose und einer angeleiteten Imaginationsübung besteht in der Tiefe der Trance. In der Regel wird in einer Hypnose eine tiefere Trance erzeugt. Schon allein die Tatsache, dass bei der Hypnose viel mit Berührung gearbeitet wird, lässt das Unterbewusstsein des Klienten tiefer in die Trance gleiten, weil durch die Berührung in den meisten Fällen ein stärkeres Gefühl der Sicherheit erlebt wird. Es ist so, als würde im Klienten eine innere Stimme sagen: „Du hast Kontakt zum Außen durch die Hand des Hypnotiseurs, deshalb ist es kein Problem, sich innerlich fallen zu lassen, er wird dich führen und auf jeden Fall sicher wieder zurückholen.“
Ein weiterer Unterschied zwischen Hypnose und Imaginationsübung liegt im inneren Gestaltungsraum, den der Klient bekommt: Die Hypnose geht oft sehr konkret vor und führt den Klienten stärker, während bei Imaginationsübungen meistens mehr Spielraum gelassen wird für eigene Bilder und Wahrnehmungen.
2.2 Grundlegende Wirkfaktoren
Egal in welchem Bereich oder Setting Imaginationen angewendet werden, es gibt einige grundsätzliche Faktoren, die es zu beachten gilt:
Alle Sinne einbeziehen
Die wohl wichtigste Regel lautet: Es sollten alle Sinneskanäle angesprochen werden! Dabei ist oft auch von VAKOG die Rede. Es handelt sich dabei um die Anfangsbuchstaben der verschiedenen Sinne: visuell (Sehen), audiitv (Hören), kinästhetisch (Fühlen), olfaktorisch (Riechen), gustatorisch (Schmecken). Je intensiver alle Sinne in eine Imagination einbezogen werden, desto „echter“ und realer erscheint sie auch. Es macht einen Unterschied, ob jemand sagt: „Stelle dir dein Lieblingsessen vor“, oder ob die Mitteilung lautet: „Stelle dir dein Lieblingsessen vor. Es steht direkt vor dir, schau es dir genau an. Du kannst den köstlichen Duft riechen, der von ihm ausgeht, und du weißt genau, wie lecker es schmecken wird. Nimm das Gefühl der Vorfreude wahr. Stell dir nun vor, wie du anfängst zu essen …“
Der gute Effekt, der sich durch das Ansprechen aller Sinneskanäle ergibt, lässt sich aber nicht nur bei Geschichten, Erzählungen, Fantasiereisen oder in der Hypnose nutzen, sondern auch bei Präsentationen oder Verkaufsgesprächen. Dr. Ingolf Glabbatz hat einmal gesagt: „Wer alle Sinne anspricht, präsentiert am sinnvollsten“ (Havener 2011, Audiokapitel 10). Auch bei Zielen, die wir uns setzen, ist es zur Steigerung der Motivation hilfreich, uns das Erreichen des Zieles mit allen Sinnen vorher auszumalen.
Detailreichtum versus Gestaltungsfreiheit
Bei Imaginationen ist es wichtig, einen gewissen Spielraum für die individuellen Vorstellungen und Bilder zu lassen. Wird etwas zu detailgenau beschrieben oder gar interpretiert, bleibt wenig Raum für die eigene Gestaltung des inneren Bildes. Dies wiederum kann zu Verwirrung führen oder zu Ärger und Widerständen. Ein Beispiel: „Sie sitzen auf einer Wiese, vor sich haben Sie sieben Gänseblümchen, die sehr gut duften. Sie lieben Gänseblümchen ebenso wie saftige Wiesen. Sie sind von Bergen umgeben, braune Berge mit sehr schroffem Gestein, vielen Moosen in Hellgrün, Grasgrün und...