1. Der psychotherapeutische Prozess als Heldenreise
„Nur Reisen ist Leben, wie umgekehrt das Leben Reisen ist.“
– Jean Paul (1763–1825)
1.1 Die Entdeckung des Monomythos
Die Tiefenpsychologie war für Joseph Campbell, dem amerikanischen Mythenforscher und Begründer der „Heldenreise“ (1949), der einzige Weg, die Geschichten des Menschen nach Gemeinsamkeiten aufzuschlüsseln. Er erkannte in seiner Arbeit um das Geschichtenerzählen viele Analogien zwischen Mythen, Legenden, Märchen, biblischen und vorbiblischen Geschichten, die bis heute die gesetzmäßige Struktur einer Geschichte ausmachen. Selbst das Storytelling in Hollywood lebt von Joseph Campbells Regelwerk. Bis heute. Nur mit diesem Regelwerk scheint eine Story wirklich zu funktionieren. Campbell beschrieb mit dem Konzept des „Monomythos“ (2011) die wahrhaftige Erzählstruktur, die in unterschiedlichen Ausprägungen immer wieder von Menschen neu erzählt wird. Eine universelle Lehre gewissermaßen, unbewusst in uns Menschen angelegt. Menschliche Geschichten sind demnach einerseits tief verankert in dieser unbewussten Struktur und projizieren andererseits diese Struktur entsprechend auf Leinwände und in Bücher, wo sie als gute Storys von anderen Menschen wiedererkannt werden. Diese Doppelung des inneren Bedürfnisses nach einer guten Geschichte und danach, eine gute Story erzählen zu können, ist Teil unseres Menschseins, Teil unserer menschlichen Natur. Denn die Geschichten transportieren profunde menschliche Wahrheiten und Erkenntnisse. Möglicherweise transportieren sie sogar am besten Emotionen wie Tatsachen eines Geschehens gleichermaßen. Und damit sind wir direkt im psychotherapeutischen Vorgang angekommen.
Wenn wir eine Geschichte hören, wenn wir eine Geschichte erzählen, dann nutzen wir die Symbole und die Erzähltechnik, wie sie einst Joseph Campbell benannte. An diesen Symbolen hängen Emotionen und Fakten zugleich. Ist die Story gut, werden wir Zuhörer oder Leser haben. Ist die Story schlecht, kommt es nicht zur Doppelung eigener Erfahrungen im anderen durch die Geschichte. Dann nimmt das Interesse an der Story rasch ab. Es kommt zu Phänomenen der Erschöpfung, Langeweile und Ablenkbarkeit. Vergleichbar mit dem Empfinden des Therapeuten bzw. des Klienten während einer zähen Psychotherapie. Sie kann sich als erschöpfend und ermüdend darstellen, vielleicht weil die Story dazu ebenfalls zu eindimensional ist, zensiert durch einen mächtigen bewussten oder unbewussten Zensor: Der Klient teilt etwas Entscheidendes nicht mit, der Kern des Problems, das ihn in die Therapie geführt hat, ist (noch) nicht erkannt.
Der Ansatz Campbells kann im Umkehrschluss in seiner Wirkung auf eine solch stockende Psychotherapie tatsächlich Wunder wirken. Joseph Campbell wollte ja mithilfe der Tiefenpsychologie und der Erkenntnisse um Archetypen (definierte symbolische Menschengestalten, die für bestimmte emotionale Botschaften und Handlungen stehen) die Gesetzmäßigkeiten der Geschichten aufschlüsseln. Ebenso hilfreich ist es, diese durch Campbell benannten Strukturen auf die psychotherapeutische Begegnung zu übertragen. Dazu muss nicht unbedingt sogleich Imagination oder eine Fantasiereise inszeniert werden. Es reicht, sich als Therapeut zu fragen: „An welchem Punkt stehen wir eigentlich gerade in der Heldenreise des Klienten?“
Um eine klarere Vorstellung davon zu bekommen, wie so etwas aussehen könnte, möchte ich die typischen Wegmarken der Heldenreise im Folgenden vorstellen.
1.2 Die Heldenreise als Zyklus
Die Heldenreise stellt sich in einem Zyklus dar. Start und Ende der Reise sind nahezu derselbe Ort (s. Abb. 1.1). Die Imagination kann an einem für den Klienten vertrauten oder auch an einem magischen Ort beginnen und enden.
Der Zyklus ist in zwei Hälften aufgeteilt. Der obere Teil (in der Abbildung) entspricht der bekannten Welt, analog zur bewussten Welt des Klienten. Der untere Teil repräsentiert die unbekannte Welt, das Unbewusste, das Verdrängte, das Vergessene. Es ist das Fremde oder das Ferne und Unbekannte. Beide Teile repräsentieren jedoch auf einer Metaebene das vollständige Selbst des Reisenden mit seinen bekannten und unbekannten Anteilen. Der Reisende weiß nicht, dass die unbekannte Welt auch ein Teil von ihm selbst ist. Daher erscheint ihm diese Unternehmung geheimnisvoll, ist vielleicht angstbesetzt oder löst anfangs Zweifel und andere irritierende Emotionen aus. Im psychotherapeutischen Setting symbolisiert dieser Zyklus die Reise zum eigenen Selbst. Vermutlich eines der größten menschlichen Abenteuer.
Abbildung 1.1: Die Heldenreise als Zyklus
Die Grenzen zur Unterwelt – in sie hinein und aus ihr wieder heraus – liegen an den Schnittpunkten beider Welten nach dem ersten Viertel der Reise (x) und vor dem letzten Viertel der Reise (z). Diese Schnittstellen sind Schwellen zur oder Orte der Veränderung. Auf der Hälfte der Reise liegt der Tiefpunkt (y), eine ganz besondere Schnittstelle genau gegenüber dem Start- und Endpunkt. Hier trifft man auf den Ort der Verwandlung des Selbst (Midpoint).
Die Reise beginnt gegen den Uhrzeigersinn. Campbell hat dies bewusst so gewählt, und zwar aus einem wichtigen Grund: Der Held beginnt seine Reise gegen Widerstände. Links herum die Reise zu starten bedeutet, von Anfang an inneren und äußeren Widerständen zu begegnen und sie zu überwinden. Die eigene Verweigerung, die eigenen Ängste, die eigenen Bedenken inklusive. Bereits an diesem Punkt treten sehr deutlich die Konflikte zutage, die im Helden schlummern und die in der Welt des Unbewussten verortet sind. Befürchtungen können erahnt, erstmals spürbar werden, ebenso wie eigene Bedürfnisse. In der Realität bezieht sich dies auf den Erstkontakt zu Beginn einer Psychotherapie. Als Therapeuten wissen wir um das normale anfängliche Zögern und die aufschiebenden Verhaltensweisen unserer Klienten, die im Denken und Fühlen auch Vermeidungsstrategien entwickeln, noch bevor die Reise richtig losgeht. Zu Beginn also überwindet der Klient in seiner Funktion als „Held“ seiner eigenen (Psychotherapie-)Reise diesen ersten Startpunkt. Nach und nach fasst er Vertrauen und ist bereit, sich mehr und mehr zu öffnen, die Reise in die unbekannte Welt also fortzusetzen.
Schon jetzt wird klar: Die Orte „bekannte Welt“ und „unbekannte Welt“ sind ebenso symbolisch wie konkret. Es sind stoffliche, reale äußere Welten, aber auch innere, spirituelle, fantastische und imaginierte Welten. Es sind die Welten des Helden (der Fantasiereise), aber auch die Welten des Lesers und Zuhörers – also die unseres Klienten. Es kommt zu Doppelungen eigener und fantastischer Welten.
Die erste Schwelle
An der ersten Schwelle zur unbekannten Welt (x) entscheidet sich der Held, die Reise nun anzutreten und sie aus eigener Kraft zu bestreiten. Dafür muss er seine Komfortzone, also die ihm bekannte Welt verlassen. Dieses Eintreten in eine neue, fremde Welt wird oft durch einen Moment der Erschütterung angestoßen: Der Held, unser Klient, hat eine erste Erkenntnis, die den Anfang der notwendigen Veränderung markiert. Er spürt, dass es Zeit ist, zu handeln. Dieser „Weckruf“ kann ein traumatisches Ereignis sein, ein großer Schreck, ein mentaler Schubs. Es ist das Leiden unseres Helden, das ihn motiviert. Viele Klienten leiden an einer Störung, die sie nicht begreifen. Das Motiv ist weniger die Neugierde oder die Lust auf ein Abenteuer, sondern der erhebliche Leidensdruck. Sie wollen etwas tun und ersuchen durch eine Gesprächstherapie um Hilfe.
Es kann auch sein, dass der Ruf (zunächst) nicht gehört wird, vielleicht weil der Held so depressiv, abgestumpft, abgelenkt, verblendet, verwirrt, erschöpft oder ratlos ist, dass die Chance auf eine Therapie und einen Veränderungsprozess nicht wahrgenommen wird. Also schickt ihm das Leben immer mehr Weckrufe, bis er es versteht. Der auserwählte Held wird beispielsweise immer häufiger mit „Monstern“ oder „Dämonen“ konfrontiert, bis er einsehen muss, dass sein Leben eine Veränderung braucht. Immer wieder kommt es beispielsweise zu Situationen, die die depressive Episode verschlechtern oder wieder auslösen. „Dämonen“ können Personen, Situationen, Probleme sein, die den Klienten davon abhalten, sich selbst zu finden und ein authentischeres Selbst zu werden (Rebillot 2011). Eine Zeit lang macht er vielleicht ungeachtet dessen weiter wie bisher, ohne sich mit den Dämonen zu befassen (Verleugnung). Aber dann werden die einzelnen depressiven Episoden immer schwerer und schwerer. Der Held erwacht erst, wenn er sich aufgrund der persönlichen Einsicht für eine Therapie entscheidet, um so – hoffentlich erfolgreich – die Dämonen zu vertreiben. Der innere Widerstand des Helden (Verweigerung) löst sich nicht allein auf, wenn äußerer Druck (beispielsweise durch Angehörige, die ihn zur Therapie drängen) und innerer Druck (beispielsweise große Verzweiflung) extrem spürbar werden. Nur wenn die innere Bereitschaft zur Veränderung da ist, gelingt die Umsetzung.
Der Bereitschaft zu handeln geht die Einsicht voraus, dass dies der einzige gangbare Weg für den betroffenen Menschen ist. Wäre die Verweigerung stärker, bliebe es beim Stillstand, beim Status quo.
Der Weg in die Unterwelt
Das Überschreiten der ersten Schwelle ist nicht einfach. Sie wird streng bewacht. Ein mächtiges Tor oder Portal schützt die bekannte Welt vor der Unterwelt und umgekehrt. Allein der Auserwählte für diese Reise, also der Held selbst, ist in der Lage, das Portal zu durchschreiten und an den „Wächtern der Ordnung“ vorbeizuschreiten. Oft gibt es hier magische Hilfsmittel und rätselhafte Helfer, die den Helden über die...