1
Zum gegenwärtigen Stand schulischer Inklusion
Die Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention hat dazu geführt, dass die einzelnen Bundesländer gravierende Veränderungen im Schulsystem anstreben und sie zum Teil bereits umgesetzt haben. Eine vermehrte gemeinsame Beschulung von Kindern mit und ohne Behinderung ist dabei das einvernehmliche Ziel. Eine spezielle Beschulung gilt nunmehr als im besonderen Maße begründungspflichtig, sie wird eher als Ausnahme denn als Regelfall angesehen. Sonderschulen wird es deshalb in Zukunft weniger als bisher geben, das ist sicher, und andere spezielle pädagogische Settings wohl auch.
Zwischen den einzelnen Bundesländern bestehen aber nicht unerhebliche Differenzen in der Frage, welche Rolle spezielle schulische Einrichtungen kurz-, mittel- oder langfristig spielen sollen. Einige Bundesländer setzen darauf, Schulen für Kinder mit einem Förderbedarf im Bereich des Lernens, der emotional-sozialen und sprachlichen Entwicklung schnellstmöglich aufzulösen, andere Sonderschulen sollen dem in absehbarer Zeit folgen – bis auf sehr wenige Ausnahmen. Andere Länder gehen moderater vor, indem sie eine schrittweise Reduzierung spezieller Schulen anstreben, ohne dass grundsätzlich auf sie verzichtet werden soll. Insofern unterscheiden sich die Bundesländer nicht nur im eingeschlagenen Reformtempo, sondern auch in den Vorstellungen darüber, wie die Inklusion pädagogisch verantwortlich, fachlich begründet und mit optimalen Erfolgsaussichten umgesetzt werden kann.
Bereits 1994 hatte die Kultusministerkonferenz empfohlen, dass ein spezieller Förderbedarf nicht mehr zwangsläufig zu einer Sonderbeschulung führen soll. Die Integration von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung wurde zum vornehmlichen Ziel erklärt. Die sich daran anschließende Entwicklung ist von einer ganzen Reihe von Parametern abhängig, unter anderem davon, wie häufig ein Förderbedarf vergeben wird. Betrachtet man die letzten zehn Jahre, dann zeigt sich, dass die Förderquoten kontinuierlich angestiegen sind. Verantwortlich dafür sind vor allem Veränderungen in den Bereichen geistige, emotional-soziale und sprachliche Entwicklung. Im Schulbesuchsjahr 2010/2011 wurde mit einem Förderbedarf bei 6,3 Prozent aller Schüler der bisherige Höchststand erreicht (Dietze 2012, 26 f.) – das ist ein Wert, der international im Mittelbereich liegt (EADSNE 2012).
Damit einher geht eine leichte Steigerung der Sonderschulbesuchsquoten und eine stärkere bei einer gemeinsamen Unterrichtung. Da die Integrationsquoten im genannten Zeitraum aber nicht beträchtlich angestiegen sind, wird die Mehrzahl der Schüler mit sonderpädagogischem Förderbedarf nach wie vor an speziellen Schulen unterrichtet. Die Integrations- bzw. Inklusionsquote liegt im Schuljahr 2010/2011 bei 22,2 Prozent (Dietze 2012, 28), mit erheblichen Variationen zwischen den einzelnen Behinderungsarten und starken regionalen Unterschieden.
Der höchste Anteil integriert/inkludiert beschulter Kinder und Jugendlicher findet sich in den Bundesländern Schleswig-Holstein, Berlin und Bremen mit Werten zwischen 49,3 und 41,0 Prozent. Die geringsten Quoten weisen Niedersachsen, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Sachsen-Anhalt auf, sie liegen zwischen 8,5 und 16,9 Prozent. Das ist der gegenwärtige Stand: Er geht auf unterschiedliche Integrationstraditionen in den einzelnen Bundesländern zurück und mischt sich mit den Folgen von Umsteuerungsprozessen, die bisher in Richtung Inklusion erfolgt sind.
Beachtet werden muss dabei, dass die genannten Quoten auf ungleichen Ausgangslagen beruhen. Die einzelnen Bundesländer differieren in ihren Förderquoten erheblich. Über den höchsten Wert mit 11,3 Prozent verfügt Mecklenburg-Vorpommern, gefolgt von Sachsen-Anhalt (9,7 %), Brandenburg (8,5 %), und Sachsen (8,4 %), die niedrigsten Quoten verzeichnen Rheinland-Pfalz (4,5 %) und Niedersachsen (4,8 %) (Dietze 2012, 26 ff.).
Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie liegen zum einen in der soziographischen Zusammensetzung der Bevölkerung, die mit unterschiedlichen sozialen Belastungen einhergeht. Für die Genese von Lern-, Sprach- oder Verhaltensstörungen ist das ein bedeutendes Faktum, und auch bei körperlichen und Sinnesbeeinträchtigungen erweisen sich soziale Faktoren als nicht einflusslos. Insofern ist bereits aus diesem Grund mit Ungleichverteilungen zwischen den Bundesländern zu rechnen. Zum anderen spielen neben der Zusammensetzung der Schülerschaft auch allgemeine schulische Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle: Unter anderem die Struktur des Schulsystems, die Verfügbarkeit von innerschulischen Beratungs- und Unterstützungsangeboten sowie von vor- und außerschulischen Hilfen. Die Gestaltung und Qualität der unterrichtlichen Praxis ist eine weitere wichtige Einflussgröße, die darüber (mit)entscheidet, ob sich bestimmte (schulische) Entwicklungsprobleme abmildern, verfestigen oder gar verschärfen. Unterschiedliche Bewertungsmaßstäbe und Diagnosepraktiken kommen als ein gewichtiger Faktor hinzu.
Um in diesem hochkomplexen Feld Zuordnungs- und Entscheidungsprozesse transparenter zu gestalten, wird vielfach gefordert, die Erhebung des Förderbedarfs solle objektiviert werden. Mit Hilfe stärker standardisierter Erhebungsverfahren und zum Teil auch dadurch, dass eine zentralisierte Diagnostik angestrebt wird, die schulunabhängig erfolgt. Länderspezifische und regionale Disparitäten könnten auf diesem Weg reduziert oder gar ausgeglichen werden, so lautet die dahinter stehende Erwartung und Hoffnung. Sie richtet ihren Blick zugleich auf die kontinuierlich steigenden Kosten, die mit den anwachsenden Förderbedarfen einhergehen.
Ganz sicher ist es ein lobenswertes Ziel, dafür einzutreten, dass diagnostische Entscheidungen transparenter werden. Einige regionale Disparitäten stechen ins Auge und es bedarf der Aufklärung darüber, warum sie so ausgeprägt existieren (Dietze 2011; Lehmann & Hoffmann 2009). Zweifel sind aber angebracht, ob der vorgeschlagene Weg zu einem gehaltvollen Ergebnis führt, einem solchen, das sich pädagogisch als tragfähig erweist. Ob ein Förderbedarf sinnvollerweise, das heißt zum Wohle des Kindes ausgesprochen wird, hängt in den allermeisten Fällen von einem komplexen schulischen und außerschulischen Bedingungsgefüge ab, in das unter anderem die soeben genannten Faktoren eingehen. Seit langem und zu Recht wird im Fachdiskurs davon ausgegangen, dass sich die Existenz einer Behinderung nicht mehr nur an der Person festmachen lässt. Äußere Rahmenbedingungen bedürfen gleichermaßen einer gezielten Aufmerksamkeit, damit eine behindernde Umwelt als eine solche erkannt und verändert werden kann. Die International Classification of Functioning, Disability and Health (ICF) bietet dazu ein bedeutendes, weithin anerkanntes Referenzsystem (Hillenbrand 2013).
Der sonderpädagogische Förderbedarf bedarf deshalb einer engen Anbindung an die schulische (und außerschulische) Lebens- und Lernsituation des Kindes, ohne ihre Berücksichtigung lässt er sich kaum adäquat formulieren. Die Herausnahme dieser diagnostischen Aufgabe aus dem Schulalltag muss deshalb kritisch gesehen werden. Ebenso wie der aus Schulverwaltungssicht verständliche, pädagogisch aber wenig fruchtbringende Versuch, über objektivierende Erhebungen zu vergleichbaren Kennzahlen zu gelangen. Sofern sie vornehmlich personenbezogen ermittelt werden, was naheliegt, verdunkeln sie den Blick auf ein hochkomplexes Feld, das eine solche Komplexitätsreduktion nicht erlaubt.
Bei der Betrachtung des Einzelfalles in seiner sozialen Einbindung sind dem Streben nach Objektivität Grenzen gesetzt. Diagnostische Bewertungen und Entscheidungen müssen plausibel und nachvollziehbar dargestellt werden, das ist eine Selbstverständlichkeit. Subjektive Sichtweisen und Bewertungen lassen sich dabei aber nicht gänzlich ausschließen und situativen Gegebenheiten kommt einiges Gewicht zu; jedes Kind ist in seiner individuellen Lebenssituation zu erfassen. Das oberste Ziel muss es sein, dass einem Kind die besten Entwicklungsmöglichkeiten eingeräumt werden – und diese sind nun einmal in ein persönliches Bedingungsgefüge eingebunden und von den Gegebenheiten vor Ort abhängig. Insofern kann es sehr wohl verantwortlich sein, wenn ein bestimmtes Kind einen sonderpädagogischen Förderbedarf erhält und ein anderes nicht, obgleich sich ihre objektiv beschreibbaren Daten ähneln oder fast identisch sind.
Aus diesen und den anderen bereits genannten Gründen ist es schwierig, die unterschiedlichen Förderquoten der einzelnen Bundesländer wertend zu vergleichen. Dazu gibt es zu viele ungeklärte Fragen: Soll ein häufig vergebener Förderbedarf als ein Indikator dafür gelten, dass bestimmte Schüler die ihnen gebührende Aufmerksamkeit erhalten? Werden sie deshalb besser...