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E-Book

Nach Israel kommen

AutorWolf Iro
VerlagVerlag Klaus Wagenbach
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl128 Seiten
ISBN9783803142504
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis13,99 EUR
Als Deutscher nach Israel zu kommen ist nichts Normales. Wolf Iro fragt, woher Missverständnisse und falsches Verhalten rühren, und plädiert - gerade angesichts des wieder unverhohlener geäußerten Antisemitismus - für mehr Empathie im Umgang mit Israel. Warum fällt es uns Deutschen so schwer, uns in Israel oder auch beim Umgang mit jüdischen Themen angemessen zu verhalten? Warum schwanken wir zwischen unangebrachter devoter Haltung und ebenso unangebrachter rigoroser Kritik? Wolf Iro - als Leiter des Goethe-Instituts in Tel Aviv Vertreter einer deutschen Einrichtung - sammelt Beobachtungen: Ein Fußball-Fan in Tel Aviv ist erstaunt, dass alle Freunde beim EM-Spiel gegen Frankreich mit Deutschland fiebern. Der bundesrepublikanische Außenminister nennt die heutige Freundschaft zwischen seinem Land und Israel ein 'Wunder'. Und ein deutscher Journalist meint, es sei kein Unterschied, ob er über Angela Merkel oder die Palästinenserpolitik Israels schreibe. Wolf Iro sieht genau hin, beschreibt die psychologischen Muster im Verhalten gegenüber Israelis, warnt vor selbst gestellten Fallen und erklärt, warum das Verhältnis zwischen den beiden Ländern auf unendlichen Anstrengungen seitens der Überlebenden beruht. Und er fordert eine zwar kritische, aber immer einfühlsame und geschichtsbewusste Auseinandersetzung mit dem Land und seinen Bewohnern.

Wolf Iro, geboren 1970, studierte Vergleichende Literaturwissenschaften in Cambridge und Slawistik in Oxford und Moskau. Seine Promotion legte er an der LMU München über den russisch-jüdischen Schriftsteller Isaak Babel ab. Seit 2004 Tätigkeit beim Goethe-Institut. Er arbeitete von 2009 bis Anfang 2014 als Leiter der regionalen Programmarbeit in Moskau und seitdem als Institutsleiter in Israel.

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Leseprobe

Torschüsse in Tel Aviv


Von konkreter und unkonkreter Erinnerung

Es laufen die letzten Minuten des Halbfinales der Fußballeuropameisterschaft 2016. Deutschland, das im bisherigen Verlauf des Turniers einen starken Eindruck hinterlassen hat, spielt gegen Gastgeber Frankreich. Das Match ist entschieden – Antoine Griezmann, der schmächtige französische Mittelstürmer der equipe tricolore, hat in schneller Abfolge zwei Tore geschossen und Frankreich zum Sieg verholfen. Der kleinere der beiden Söhne eines israelischen Freundes, bei dem wir die Übertragung sehen, verlässt weinend das Zimmer. Nachdem das Spiel beendet ist, murmele ich etwas davon, dass doch die bessere Mannschaft gewonnen habe. Ich fühle mich unwohl. Ungläubig, gerührt und auch ein wenig hilflos habe ich während des Spiels beobachtet, dass die ganze Familie und auch die meisten der eingeladenen israelischen Freunde für die deutsche Mannschaft fieberten.

Eine Umfrage der Bertelsmann-Stiftung von 2013 zeigt: Etwa 70 Prozent der Israelis verbinden mit Deutschland positive Assoziationen.3 Eine geradezu unglaubliche Zahl. Knapp siebzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkriegs, siebzig Jahre nach der Vernichtung eines großen Teils des europäischen Judentums durch die Deutschen hat Deutschland in Israel einen äußerst guten Ruf. Wie kommt das?

Bereits sieben Jahre nach Ende des Weltkriegs begann man in Israel, wieder Kontakt zu Deutschland zu knüpfen – in psychologischer Hinsicht sicherlich zu früh. Doch der junge Staat war bettelarm und für den Aufbau dringend auf wirtschaftliche Unterstützung und akademische Kooperationen angewiesen. Es war Israels Glück, in dieser Zeit den ultrapragmatischen Visionär David Ben Gurion an der Spitze zu haben, der dieser unpopulären Maßnahme mit viel Geschick und grimmiger Einsicht in die Notwendigkeit den Weg ebnete. Unter seiner Führung wurden mit Deutschland die »Wiedergutmachungszahlungen«, so die deutsche Bezeichnung, verhandelt – angesichts eines Menschheitsverbrechens freilich ein Terminus, der die Überlebenden wie Hohn anmuten musste, selbst wenn die israelischen Verhandler immer wieder betonten, dass lediglich der Regress für materielle Verluste, keinesfalls aber eine Form von moralischem Ablass zur Debatte stand. Die israelische Seite sprach deshalb auch immer nur von shilumim, was so viel wie »Strafzahlungen« bedeutet und jeder Idee von Kompensation oder Sühne abhold ist. Bezeichnenderweise konnten sich beide Seiten bis zum Schluss nicht auf einen Begriff einigen, so dass das Abschlussprotokoll der Verhandlungen über dieses erste deutsch-israelische Abkommen nur auf Englisch existiert (wo von »reparations« die Rede ist). Doch was die zahlreichen Gegner der in Israel hochumstrittenen Verhandlungen befürchtet hatten, trat ein. In der Nachfolge des Abkommens kam es zu einer schrittweisen Annäherung.4 Und obwohl die israelischen Pässe noch bis 1956 den expliziten Vermerk »Gilt für alle Länder außer Deutschland« trugen, nahmen die beiden Staaten bereits 1965, also keine fünfzehn Jahre später, wieder offizielle diplomatische Beziehungen auf.

Vier Jahre zuvor war in Jerusalem Adolf Eichmann der Prozess gemacht worden. Lange hatte sich diese Schlüsselfigur der Vernichtung mit westlicher Hilfe dem Zugriff seiner Verfolger entziehen können, bis schließlich Fritz Bauer, jüdischer Generalstaatsanwalt in Hessen und tragischer Kämpfer für ein neues Deutschland, dem israelischen Geheimdienst den entscheidenden Tipp gab.5 In der israelischen Geschichte stellt der Prozess gegen Adolf Eichmann, in dem eine Vielzahl jüdischer Zeitzeugen auftrat, einen Wendepunkt dar. Mehr als fünfzehn Jahre lang hatten die Shoah-Überlebenden in Israel nicht von ihren Leiden berichtet. Dies war nicht allein auf die Traumatisierung zurückzuführen. Ihr Schicksal passte nicht zum neuen Ideal des wehrhaften Juden, und ihre Erzählungen wurden beim Aufbau des Staates als hinderlich angesehen. Während also mehr als fünfzehn Jahre nach dem Krieg in Deutschland immer noch ein umfassendes Täterschweigen herrschte, schwiegen in Israel die Opfer. Nun begannen sie allmählich zu reden.

Die Aufarbeitung der nationalsozialistischen Vergangenheit, in Deutschland zunächst gar nicht, später widerwillig unternommen und eigentlich erst im Nachgang der Ausstrahlung der amerikanischen TV-Serie Holocaust Ende der siebziger Jahre von einer breiteren gesellschaftlichen Basis getragen, war ohne Zweifel eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die deutsch-israelischen Beziehungen heute über das Zweckmäßig-Funktionale hinausgehen, das sie in ihren Anfängen charakterisierte. Das Wichtigste aber, die eigentliche Grundlage für dieses neue Verhältnis, war etwas anderes. Es war die Bereitschaft auf jüdischer Seite, zwischen den Tätern nationalsozialistischer Verbrechen und ihren Nachkommen zu unterscheiden.

Diese Unterscheidung beginnt schon an der israelischen Grenze. Nur Deutsche, die vor 1928 geboren sind, benötigen ein Visum für die Einreise, alle anderen nicht. Auch wurde mir beispielsweise in Israel nie die Frage gestellt, was meine Großväter im Krieg getan haben – es interessiert die Menschen nicht sonderlich, denn ich gehöre einer anderen Generation von Deutschen an, gegen die nur der geringste Teil der israelischen Gesellschaft Vorurteile hat. Dies alles ist angesichts der Verbrechen und der Größe des Leids eine emotionale Leistung, die in ihrer Qualität in Deutschland nicht angemessen gewürdigt wurde. Zwar konstatiert man häufig und allgemein die Außerordentlichkeit der bilateralen Beziehungen nach der Shoah, doch schweigt man lieber, wenn die Rede auf die konkreten Anstrengungen kommt, derer es auf Seiten der Opfer und ihrer Nachkommen bedurfte. Was zum Beispiel muss in Emanuel Schaffer, der israelischen Trainerlegende, vorgegangen sein, der, aus dem heute ukrainischen Drohobycz stammend, seine gesamte Familie verloren hatte und dennoch 1958 an die Sporthochschule in Köln ging, um sein Diplom als Fußball-Lehrer zu erwerben? Im Februar 1970 organisierte Schaffer, inzwischen guter Freund von Hennes Weisweiler, dem erfolgreichen Trainer Borussia Mönchengladbachs, in Tel Aviv das erste deutsch-israelische Freundschaftsspiel, das vor einem begeisterten Publikum im ausverkauften Stadion stattfand. Fast alle nachfolgenden Fußballkontakte zwischen den beiden Ländern – angefangen vom ersten israelischen Profispieler in einem deutschen Verein bis zu regelmäßigen gegenseitigen Besuchen von Jugendmannschaften – gingen auf das Wirken »Eddy« Schaffers zurück.

2015 präsentierten wir in Tel Aviv eine von den Historikern Lorenz Peiffer und Moshe Zimmermann konzipierte Ausstellung über Juden im deutschen Fußball: Elf lebensgroße Figuren aus Plexiglas mit den Porträts der wichtigsten Spieler, Trainer, Funktionäre oder Mittler, darunter natürlich auch Schaffer, erinnerten an die historischen Persönlichkeiten.6 Nachdem die Ausstellung an mehreren Orten Israels gezeigt worden war, übergaben wir auf Bitten der Ausstellungsmacher die Figur Schaffers seinen Söhnen; ich schämte mich regelrecht, als diese später noch mehrmals anriefen, um sich dafür zu bedanken. »Es tut gut, wenn mein Vater Anerkennung für das erhält, was er für die deutsch-israelischen Beziehungen im Sport getan hat«, sagt Schaffers Sohn Moshe. »Einzelne Menschen erinnern sich natürlich an ihn. Aber offiziell?«

In der Tat ist Schaffer in Deutschland unbekannt, und kein Ort gedenkt seiner. Denn deutsches öffentliches Gedenken ist in den seltensten Fällen konkret. Dies hat, so scheint mir, vor allem mit mangelnder Empathie zu tun. Selbst viele der Mahnmale mit ihrer häufig sehr allgemeinen, generischen Formelsprache (nicht zuletzt das zentrale Mahnmal für die ermordeten Juden Europas in Berlin) sind Beispiele für diese unkonkrete Art des Erinnerns. Nun mag man einwenden, dass derartige Orte notwendigerweise einen abstrakten Charakter tragen müssen, sollen sie das Ereignis, an das sie gemahnen, doch als Ganzes erfassen. Allerdings vergisst man über ihrer appellativen Funktion für die Nachkommen der Täter eine weitere Aufgabe, die ihnen ebenso zukommt, nämlich die der Erinnerung an die individuellen Opfer der Shoah. Immer noch ist es für viele Angehörige von großer Bedeutung, dass die Opfer namentliche Erwähnung finden. Ihr Tod war industriell und ihr Grab, wenn es überhaupt eines gab, anonym. Ein Gedenkort, an dem ihre Namen zu lesen wären, hieße, ihnen ein Stück ihrer Individualität zurückzugeben. Aus diesem Grund sind die von dem Künstler Gunter Demnig konzipierten und seit 1992 verlegten Stolpersteine bemerkenswert. Indem sie den letzten freien Wohnort der namentlich in die Steine eingravierten Opfer markieren, funktionieren sie sowohl als Mahnmale wie auch als Erinnerungsorte und richten sich damit – ohne dass sie die Unterschiede zwischen ihnen verwischen würden – an die Nachkommen von Tätern und von Opfern. Dass sie von jüdischer Seite vielfach in eben diesem Sinne aufgenommen werden, machte mir die Reaktion einer Kollegin deutlich, die vor einiger Zeit Urlaub nehmen wollte, um nach Dresden zu fahren. Dort würden Stolpersteine für drei ihrer Tanten und einen Onkel verlegt. »Mir gefällt das. Sie haben doch kein Grab«, sagte sie. Sehr viel später, bei der Trauerwoche für ihre Mutter, die im Alter von fast hundert Jahren starb und als Einzige ihrer unmittelbaren Verwandten die Shoah überlebte, weil sie bei holländischen Bauern Unterschlupf fand, erfuhr ich dann, dass die Angehörigen die Steinlegung bezahlen mussten. Es geht hier nicht um die Höhe der Kosten. Dass ein Projekt solchen...

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