Eva, 19 Jahre:
Warum habe ich gerade diese Krankheit übernommen, oder eher, warum hat sie mich so mitgenommen? Ich bin mittlerweile davon überzeugt, dass die Gründe dafür in meiner Kindheit liegen. Ich behaupte, dass das grundlegende Ideal, das ich in der Anorexie vergeblichst versucht habe zu erreichen, sich schon ganz früh in mir geformt hat. Bevor ich überhaupt wusste, was eine Essstörung ist, was Kalorien sind, was eine Diät ist, wurde mir beigebracht, wie die perfekte Frau aussieht und sich gibt.
»Eva, du bist ein Mädchen, irgendwann wirst du eine Frau. Du bist anders als Jungs und hier sind deine Vorbilder.« So stelle ich mir die Stimme des allgemein akzeptierten Ideals der Frau vor. Es ist allerdings nur eine Stimme, denn es gibt keine bestimmte Person, der ich die Vorgaben und Gesetze vorwerfen kann, die mich so in Verzweiflung gebracht haben. Ich habe mir mit der Zeit ein Bild davon zusammengesellt, wie ich sein musste, um als Frau zu funktionieren und akzeptiert zu werden. Ich habe verstanden, dass ich nur so ein sinnvolles und glückliches Leben führen kann. Wo dieses Lernen anfing, kann ich gar nicht genau definieren. Ich weiß allerdings, dass ich mich schon, seit ich denken kann, seit ich Spielkameradinnen hab, im Nachteil gefühlt habe, weil im Gegensatz zu anderen niemand meine zarte Figur bewundert hat. Ich war verunsichert, weil man mir nicht noch ein paar Kekse aufzwang, weil ich doch sonst eingehen würde. Die Freundinnen von mir, die so zerbrechlich und mädchenhaft zart waren, bekamen Aufmerksamkeit, ohne auch irgendwas leisten zu müssen. Das hat ja auch so viel Sinn gemacht, schließlich waren es immer die zarten, hilflosen und immer wieder in Ohnmacht fallenden Prinzessinnen, die am Ende des Märchens ihren Traumprinzen fanden. Genau darum ging es auch in meiner kleinen verkorksten Welt. Ein Mädchen hatte ganz klare Aufgaben im Leben. Sie waren klar und doch, wie ich später herausfand, so unmöglich zu vereinen. Ein Mädchen musste hübsch sein, nicht zu laut, immer niedlich, immer zärtlich und durfte auf keinen Fall übermütig werden. Endlos haben wir Prinzessinnen oder Barbie gespielt und jede stritt sich darum wer denn heute in Ohnmacht fallen dürfte. Natürlich ist der Diät-Wahn selbst vor Zeiten des Internets nicht an mir vorbeigegangen. Kindergärtnerinnen, Mütter oder Babysitter erklärten, sie seien auf Diät. Dafür bekamen sie dann von den anderen Erwachsenen Respekt und Aufmerksamkeit. Mir wurde klar, dass »Weniger ist mehr« das Mantra jeder Frau sein sollte. Mir wurde auch klar, dass das Aussehen unglaublich wichtig ist. Überall im Fernsehen, in Zeitschriften, in Gesprächen, in Büchern, ging es darum, wie man aussieht. Aber noch wichtiger war es, wie Frau aussieht. Ich erwartete von meinem Körper, dass er direkt aus seiner Kindheitsfigur in die einer voll entwickelten Frau umschlug. Niemand sprach davon, wie elend man sich im Zwischenstadium fühlt, wie unterschiedlich sich Mädchen entwickeln. Ich bekam Panik, weil ich nicht mehr genauso wie alle anderen war. Ich konnte mich nirgendwo mehr einfügen. War ich denn jetzt noch ein kleines, hilfloses Mädchen? Oder musste ich mit Deo und Rasierer gewappnet gegen meine Natur ankämpfen? Was waren denn überhaupt diese komischen Anschwellungen auf meiner Brust? Brüste sehen doch viel größer, runder und geformter aus. Dann kam auch noch jeden Monat diese Blutung, warum denn plötzlich diese Unreinheit? Es schien mir, als wollte die Natur mir das Leben immer schwerer machen, indem sie mir immer mehr Hindernisse in den Weg zu meinem Ideal stellte. Als ich in diesem Alter auch noch entdeckte, dass ich einen recht sportlichen Körper hatte, der es schaffte, die schnellste Läuferin in meiner Schulklasse zu sein, schämte ich mich noch mehr für mich selbst. Warum ich? Muskeln, das war doch klar, sind einfach nichts für Mädchen. Ich fühlte mich wie das Gegenteil einer Prinzessin, ich fühlte mich wie ein Trampel. Irgendwann fing ich an, so zu tun, als wäre ich unsportlich, tat so, als wäre ich unglaublich erschöpft, wenn wir Liegestützen machen mussten im Schulsport, um nicht als zu stark dazustehen. Ich wollte schwach sein. Später half mir da die Magersucht, indem ich tatsächlich einmal zitternd im Sportunterricht zusammenbrach. Das war dann doch nicht so zart und damenhaft, wie ich es mir vorstellte. Da ich allerdings immer noch Muskeln hatte und mehrmals die Woche verschiedene Sportarten, die nicht im Ballettstudio stattfanden, betrieb, galt ich als die Starke. Man musste auf mich keine Rücksicht nehmen, ich würde das alles schon packen, die Eva hat doch nie schwache Tage. Ich übernahm diese Rolle dann vollkommen, ich wurde kalt und gefühlslos. Tat so, wie wenn ich tatsächlich niemanden bräuchte, und trat liebend gern in den Pausen gegen die Jungs im Armdrücken an. Als ich allerdings sah, dass das nicht gut ankam und man mich lieber allein ließ, da ich ja eh keinen brauchte, änderte ich mich radikal. Es war eine fast bewusste Entscheidung, in die andere Richtung zu gehen. Alles an mir wurde genau analysiert und versucht zu »verbessern«, ich musste anders werden. Meine Stimme wurde piepsig und leise, ich versuchte, so lieb wie möglich zu sein, bloß nicht in Streit zu geraten. Dann ging es auch an das Essen. Desto weniger, desto besser, desto weiblicher, desto besser. Das hieß also, wenn meine Freundinnen einen Burger bestellten, gab es für mich einen hübschen Salat. Statt Leichtathletik und Volleyball ging ich jetzt nur noch einmal die Woche zum Tanzen. Ganz die Schwache durfte ich allerdings trotzdem nicht sein. Schließlich war das Prinzessin sein nur die Hälfte davon, was in meinen Augen Frau bedeutet. Eine Frau muss auch erfolgreich sein, ich musste also doch irgendwo stark sein. Ich musste gute Noten schreiben, fleißig sein und wenn möglich einen klaren Plan für meine Zukunft haben. Schließlich wollte ich nicht als Hausfrau am Herd landen, das wäre so altertümlich. Mir wird mittlerweile klar, wie unmöglich es ist, diese zwei krassen Gegensätze in einer Person zu vereinen. Als ich immer dünner wurde und so immer näher an die Barbie-Puppen-Ästhetik gelangte, konnte ich einfach nicht mehr rational denken. Ich fluche über die verschwendeten Gehirnzellen, die mir ausblieben, weil eine...