Descartes Erbe
«Das erste, das diese Reuter taten, war, daß sie ihre Pferd einstellten, hernach hatte jeglicher seine sonderbare Arbeit zu verrichten, deren jede lauter Untergang und Verderben anzeigte, denn obzwar etliche anfingen zu metzgen, zu sieden und zu braten, daß es sah, als sollte ein lustig Bankett gehalten werden, so waren hingegen andere, die durchstürmten das Haus unten und oben, ja das heimlich Gemach war nicht sicher, gleichsam ob wäre das gülden Fell von Kolchis darinnen verborgen;…»
«unser Magd ward im Stall dermaßen traktiert, daß sie nicht mehr daraus gehen konnte, welches zwar eine Schand ist zu melden! den Knecht legten sie gebunden auf die Erd, stecketen ihm ein Sperrholz ins Maul, und schütteten ihm einen Melkkübel voll garstig Mistlachenwasser in Leib, das nenneten sie ein Schwedischen Trunk, wodurch sie ihn zwangen, eine Partei anderwärts zu führen, allda sie Menschen und Vieh hinwegnahmen, und in unsern Hof brachten, unter welchen mein Knan, mein Meuder und unser Ursele auch waren.»
(Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen:
Simplicius Simplicissimus)1
Diese Szene aus dem Werk von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen beschreibt aus heutiger Sicht eigentlich merkwürdig distanziert eine Szene aus dem Dreißigjährigen Krieg. Dieser Konflikt ist eine unermessliche Katastrophe. Er produziert Menschen im Blutrausch, die sich wie Bestien verhielten. Da wird gemetzelt, niedergeschlagen, vergewaltigt, verbrannt, geschändet, Dörfer und Städte werden niedergebrannt. Ganze Landstriche werden durch die direkten und indirekten Folgen des Krieges verwüstet. Während geschätzt etwa 600000 Landsknechte ihr Leben lassen müssen, sind die Verluste bei der Zivilbevölkerung sogar wesentlich höher. Obwohl die Verlustschätzungen aus heutiger Sicht sehr schwierig sind, kann man davon ausgehen, dass etwa 20 Prozent der damaligen Zivilbevölkerung (20 Mio. Menschen) im Deutschen Reich ihr Leben ließen – das heißt, dieser Krieg forderte rund vier Millionen zivile Opfer. Kurzum: Im kollektiven Gedächtnis ist dieser Konflikt als eine Katastrophe für die Zivilisation haften geblieben.
In dieser apokalyptischen Zeit reist ein Mann quer durch die Kriegsgebiete, verdingt sich teilweise als Soldat in verschiedenen Armeen, um dann dem Soldatenleben den Rücken zu kehren. Als Adeliger hatte er eine hervorragende Ausbildung genossen, die seine Begabungen förderte. Die Kriegserlebnisse und das Soldatenleben lassen ihn jedoch erkennen, dass er zu etwas anderem berufen ist – nämlich zum Denken. René Descartes, Philosoph und Mathematiker, wird unsere Welt und unser Denken beeinflussen, ja sogar grundlegend verändern. Und das in einer Zeit, in der der Mensch seine dunkle Seite für jedermann und allzeit sichtbar offenbarte. Welch ein Anachronismus!
Der französische Philosoph markiert mit seinen Werken den Beginn einer Epoche, die wir Aufklärung oder das Zeitalter der Vernunft nennen. In dieser Epoche erwächst eine bis heute andauernde Überzeugung, gemäß derer die Vernunft für den Menschen eine herausragende Bedeutung hat. 16372 veröffentlichte er eine Abhandlung, in der er den berühmten Satz «cogito ergo sum» (ich denke, also bin ich) als Kerngedanken seiner Ideen formulierte. In diesem Werk macht Descartes den denkenden Menschen zum Mittelpunkt seiner Betrachtung. Alles was der Mensch weiß, weiß er vor allem durch sein Denken. Descartes ist unter anderem ein empirischer Naturwissenschaftler und – wenn man so will – ein Universalgelehrter. Er beschäftigt sich mit Botanik, Anatomie, Mathematik und Kosmologie. Er ist auch ein Verfechter des Experimentierens und wehrt sich bereits schon zu seiner Zeit gegen die «Sesselphilosophen», die der Überzeugung sind, alle Erkenntnisse könnten sich alleine durch Nachdenken ergeben.3 Denken ist für Descartes Weltsicht zentral, aber das Denken muss auf objektiven Grundlagen beruhen, die man durch Beobachtung und Experimentieren erzielt. Vernünftiges Denken fasst er als eine Methode auf, mit der eine lückenlose und schrittweise Beweisführung zur Erklärung von Sachverhalten möglich ist. Damit ist er ein Anhänger jener, die sich der Suche nach Ursache-Wirkungs-Zusammenhängen4 verschrieben haben. Decartes’ Denken passt perfekt in die damals sich entwickelnde Naturwissenschaft.5 In diesem Denkgebäude hat alles, was sich nicht kausal ergründen und logisch darstellen lässt, bestenfalls eine zweitrangige Bedeutung.
Damit hebt der Philosoph den menschlichen Geist (res cogitans) aus dem «Sumpf» tierischen Lebens hervor und lässt ihn alles andere überstrahlen. Dieser wunderbare denkende Geist haust im Körper. Der Körper ist Materie und funktioniert wie ein Automat, eine Maschine (res extensa). Diese Maschine ist bewusstlos und verrichtet ihre vorprogrammierte Arbeit. Denken – das ist für Descartes «alles, was derart in uns geschieht, dass wir uns seiner unmittelbar aus uns selbst bewusst sind». Und er fährt fort: «Alle unsere Begriffe knüpfen wir an Worte.» Da Tiere nicht sprechen können, verfügen sie demzufolge auch nicht über ein Bewusstsein und funktionieren eigentlich «nur» wie bewusstlose Automaten – ein Gedankengang, der noch heute für viele als Rechtfertigung für Tierquälerei jedweder Art gilt. Descartes argumentiert zudem, dass «Sprache (…) das einzige sichere Anzeichen dafür (ist), dass im Körper ein Geist verborgen ist»6.
Fassen wir Descartes Thesen zusammen: Menschen verfügen über eine Vernunft (Ratio) und einen bewussten Geist. Der Körper ist Materie und funktioniert völlig automatisch und ohne Geist oder Bewusstsein. Tiere sind Automaten und verfügen demzufolge über keine Ratio.
Der Mensch: ein reflektierendes Wesen, das über sich selbst bewusst nachdenkt und kraft seiner Ratio zu logischen und nachvollziehbaren Schlussfolgerungen gelangt. Das ist eine Einsicht, die bis heute unser Denken und vor allem unsere Sicht auf uns selbst beherrscht. Allerdings wird uns allzu oft bewusst, dass wir über Sachverhalte nachdenken, die sich rationalen Erklärungen entziehen. Solche Sachverhalte werden dann oft als unvernünftig abgetan. Leider ist in unserer Denkweise das Adjektiv «unvernünftig» häufig negativ besetzt. Wenn etwas nicht vernünftig ist, dann ist es oft auch vernunftwidrig. Es verschließt sich einer logischen Beweisführung und damit einer verstehbaren Ursache-Wirkungs-Kette. Doch das liegt schlicht daran, dass menschliches Verhalten nicht einfach mathematisch-logisch zu beschreiben ist.
In der Zeit nach Descartes entwickelten seine Ideen eine starke Dynamik, und es ergab sich die eigentlich merkwürdige Situation, dass im Zeitalter der Vernunft viele Menschen fast fanatisch und irrational an die Allgemeingültigkeit der Vernunft glaubten. So kommt es, dass Vernunft eigentlich nie wirklich erschöpfend definiert wurde. In den philosophischen Abhandlungen wird sie oft einfach als gegeben und menschtypisch vorausgesetzt.7
Zudem wird die Vernunft in diesen Schriften und Thesen oft als emotionslos und kalt eingeschätzt. Man denkt «messerscharf» und unbeeinflusst von «störenden» Gefühlen. Dabei hatte Descartes gerade im Hinblick auf die Emotionen eigentlich (wie wir sehen werden) recht moderne Vorstellungen: Für ihn kann die Vernunft (Ratio) die Emotionen kontrollieren, wobei er den Emotionen trotzdem eine wichtige Bedeutung zuschrieb. Für ihn mussten Emotionen durch die Ratio irgendwie «zum Guten» gelenkt werden. Insofern kommt der Vernunft im descartesschen Weltbild eine verhaltenssteuernde Bedeutung zu.
Mit dem Fortschritt der Verhaltens- und Neurowissenschaften wird zunehmend deutlich, dass wir mit einem komplexen Gehirn ausgestattet sind, dass uns auch komplex handeln und denken lässt. Menschliches Verhalten ist vielfältig, es hängt von individuellen Erfahrungen ab und wird durch bewusste und unbewusste Mechanismen gesteuert oder gar determiniert. Kausalketten werden entsprechend beim menschlichen Verhalten oft gar nicht ersichtlich. Auch der Glaube, dass wir als Menschen exklusiv mit Vernunft begabt sind, wird durch moderne neurowissenschaftliche Forschung zunehmend erschüttert.
Die Vernunft ist ein seit vielen Jahrhunderten lebhaft diskutiertes Thema der Philosophie des Geistes sowie der Verhaltens- und Neurowissenschaften. Ich möchte hier nicht die gesamte Philosophiegeschichte aufrollen – mir geht es aber darum, unseren alltäglichen Gebrauch des Begriffs Vernunft klarer zu machen. In der philosophischen Debatte um die Vernunft existieren natürlich auch weiterhin unterschiedliche Standpunkte. Eine gewisse Sonderstellung nimmt die sogenannte objektive Vernunft ein, die von einigen Philosophen postuliert wird und die man als ein die Welt ordnendes Prinzip verstehen muss, das auch den Menschen beeinflussen und steuern kann. Dieses Prinzip wird als kosmologische oder metaphysische Vernunft aufgefasst und ist Teil diverser theologischer Theorien.
Aber ungeachtet der unterschiedlichen philosophischen Strömungen besteht Einigkeit darin, die Vernunft als das herausragende Erkenntnisvermögen aufzufassen, das den Verstand kontrolliert, diesem Grenzen setzt und dessen Beschränkungen erkennt.8 Das Erkenntnisvermögen nährt sich aus der Fähigkeit, universelle Zusammenhänge in der Welt sowie ihre Bedeutung zu erkennen. Der Mensch ist aufgrund dieser Vernunft in der Lage, sein Verhalten zu kontrollieren und danach auszurichten. In...