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E-Book

Ist Macht heilbar?

Therapie und Politik

AutorWolfgang Schmidbauer
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2017
Seitenanzahl190 Seiten
ISBN9783688105328
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Politik befaßt sich mit dem, was menschliche Gruppen tun, um ihr Zusammenleben nach innen und ihr Verhalten nach außen zu regeln. Therapie befaßt sich damit, wie menschliche Individuen ihr inneres und äußeres Verhalten so regeln können, daß sie sich besser fühlen. Was haben diese beiden Bereiche miteinander zu tun? Etwa: In der Politik wie in der Therapie liegt der Ruf nach einem starken und gütigen Helfer nahe. Wolfgang Schmidbauer geht dieses facettenreiche Thema von den verschiedensten Aspekten her an, denn er fühlt sich in doppelter Weise betroffen: als Staatsbürger und als Therapeut. Aus dem Inhalt: • Die Faszination der Gewalt • Der Psychoanalytiker und das Irrationale • No nature, no future? • Der Don Juan • Über den Mißbrauch der Gefühle in der Politik

Wolfgang Schmidbauer wurde 1941 geboren. 1966 promovierte er im Fach Psychologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München über «Mythos und Psychologie». Er lebt in München und Dießen am Ammersee, hat drei erwachsene Töchter und arbeitet als Psychoanalytiker in privater Praxis.Neben Sachbüchern, von denen einige Bestseller wurden, hat er auch eine Reihe von Erzählungen, Romanen und Berichten über Kindheits- und Jugenderlebnisse geschrieben. Er ist Kolumnist und schreibt regelmäßig für Fach- und Publikumszeitschriften.Außerdem ist er Mitbegründer der Münchner Arbeitsgemeinschaft für Psychoanalyse und der Gesellschaft für analytische Gruppendynamik.

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Leseprobe

Die unbeherrschte Natur im Reservat


Der Prozeß der Zivilisation verschlingt den Wilden, hält ihn fest, verwandelt ihn und gibt ihn stückweise frei. Dieser Prozeß, in dem schrittweise Zweckrationalität, Tauschprinzipien, freie Märkte hergestellt werden, erschrickt gewissermaßen immer wieder vor seiner eigenen Unerbittlichkeit. Dann entstehen Reservate, Museen, Nationalparks, in denen eine scheinbar urwüchsige Natur belassen oder – wie besonders sinnreich das Beispiel des Auerochsen zeigt – durch kunstreiche Rückbesinnung und Rückkreuzungen wiederhergestellt wird. In den antiken Gärten und in ihrer klassischen Wiedergeburt, dem «italienischen» oder «französischen» Garten, gehorcht die Natur der Geometrie – die Bäume werden gestutzt, die Beete mit dem Lineal entworfen. Im «englischen» Garten des vergangenen Jahrhunderts wird Natur künstlich wiederhergestellt, die Bäche schlängeln sich wieder gefällig, die Wege krümmen sich sanft. Wo die allgemeine Naturbeherrschung mächtiger und ihrer selbst sicherer geworden ist, reizt ein Stück Wildnis. Die bedrohte Tierwelt flimmert in die Wohnzimmer, hautnah und doch fern.

Wenn ein Tier durch Schläge gequält wird, empören sich nach Meinungsumfragen mehr Menschen, als wenn ein Kind oder eine Frau das Opfer ist. Tierschutzvereine haben mehr Mitglieder als der Kinderschutzbund. Es wäre wohl falsch, das auf die verdeckte Unmenschlichkeit zurückzuführen, wonach Tiere («sie lügen nicht, sie sind treu») bessere Freunde sind als Menschen. Mir scheint eher, daß der Schutz von Tieren als Schutz vor dem zerstörerischen Eingriff der technischen Zweckrationalität in natürliche Kreisprozesse eine Alibiaufgabe hat. Der im Wohnsilo sitzende Städter möchte dann mit viel Energie die in Batteriekäfigen sitzenden Legehennen «befreien». Kinder und Frauen sind deshalb nicht so schützenswert, weil der Umgang mit ihnen in den Hort des Irrationalen, Privaten, Emotionalen gehört, den das Bürgertum stetes besonders liebevoll gepflegt hat: in die Familie. Prügel für Kinder oder Frauen sind kein öffentliches Ärgernis, sondern Privatsache.

Die Entwicklung der Psychotherapie belegt zweierlei. Einmal betont sie die Bedeutung der Familie, weit über das, was die bürgerliche Familienideologie des 19. Jahrhunderts tat, die im Kind vor allem einen Gegenstand der Erziehung, der Bildung sah. Die Psychoanalyse erweist darüber hinaus die entscheidende Bedeutung des Abschnitts vor der «Pädagogik», der ersten sechs Lebensjahre, der frühkindlichen Sexualität. Zum anderen erweitert die Psychotherapie die Zahl der seelischen Reservate. Es gibt nicht mehr nur einen Hort der Emotionalität, der Geburt, Liebe und Tod (mit denen die zweckrationale Gesellschaft nicht umgehen kann, die sie aber für ihre Reproduktion benötigt) bewältigen hilft: die Familie. Die therapeutische Beziehung ist scheinfamiliär und doch professionell – was kaum zu unterscheiden ist von scheinprofessionell und doch familiär. Der Therapeut als Institution und die Übertragung als begriffliches Konzept belegen beide, daß zu den biologischen Eltern eine beruflich geschulte Elternfigur tritt, die in einem von Anpassung und Leistung bestimmten Lebenszusammenhang begrenzte Reservate für ungesteuertes, von Triebwünschen bestimmtes Erleben eröffnet.

Der Beginn jeder Analyse ist mit einem Umlernen verknüpft: der Patient muß sich gehenlassen, seinen inneren Monolog nicht nach zweckrationalen Leistungsprinzipien steuern, sondern ihn einfach laufen lassen. Es kostet ihn Mühe, sich nicht zu bemühen – er muß sich anstrengen, nicht angestrengt nach Einfällen zu suchen, die dem entsprechen, was er an Vorinformation über die «richtige» Analyse hat. Die Preisgabe der Anpassung, das Zurückstellen der leistungsbezogenen Sekundärvorgänge zugunsten der ursprünglichen, unkontrollierten Primärprozesse von Traum, Orgie, Ekstase wird in der Analyse paradoxerweise selbst zum Gegenstand von Arbeit und Leistung. Der Patient bezahlt den Analytiker dafür, daß dieser ihn durch seine (nach den Macher-Grundsätzen der bürgerlichen Gesellschaft) Untätigkeit, seine Bereitschaft zum Zuhören, anleitet, selbst untätig zu werden, selbst auf sein Inneres zu lauschen, seine Botschaften zu entziffern und daraus Ansätze zu einem Neubeginn zu gewinnen.

Für den Analytiker bleibt die Frage, ob er seine gesellschaftliche Bedeutung sehen will, die sich von seinen persönlichen Beweggründen für seinen Beruf erheblich unterscheiden kann. (Er ist damit in kaum einer anderen Rolle als etwa Richter oder Ärzte, die ebenfalls ihre stabilisierenden Aufgaben in der bürgerlichen Gesellschaft mit dem subjektiven Bewußtsein erfüllen, Recht zu sprechen oder Kranke zu heilen, während sie unter einem anderen Blickwinkel vor allem einen bestimmten Umgang mit abweichendem Verhalten legitimieren und seine Ursprünge verschleiern). Ich habe mich früher dieser Frage damit entzogen, daß es durchaus sinnvoll sei, einzelnen Leidenden zu helfen, auch wenn die Ursachen ihres Leidens in den menschenfeindlichen Strukturen der kapitalistischen Gesellschaft liegen – daß es möglich ist, beides zu tun: auf Reformen in der Gesellschaft hinzuarbeiten und die bedrohten Subjekte zu stützen. Diese Antwort befriedigt mich nicht mehr, weil sie den Beitrag fortläßt, den die Horte des Irrationalen (Familie, Kirche, Therapie) in der Leistungsgesellschaft zu deren Bestehen leisten.

Ich brauche in meinem Beruf das Gefühl, sinnvolle Arbeit zu tun, und dieses Gefühl will sich nicht ohne Vergleiche einstellen. In einem Industriebetrieb arbeiten, nutzlose Konsumgüter erzeugen, Autos, Fernsehgeräte, Pralinen? In einer Behörde Zahlen oder Menschen nach vorgegebenen Regeln verwalten? Nach einigen Jahren in Selbsterfahrungsgruppen für Lehrer habe ich versucht, meine Eindrücke über deren Berufsmotivation dahin gehend zusammenzufassen, daß man Lehrer wird, um die Schule nicht verlassen zu müssen. Diese Vermutung läßt sich erweitern: man wird Helfer, man arbeitet in einem sozialen Beruf, um die Nischen in der zweckrationalen Leistungsgesellschaft nicht zu verlassen, die Familie und erweiterte Familie bieten. Wo sonst hat man mit Wachstum, mit Lebendigem zu tun, wenn nicht in den sozialen Berufen? Das «Helfersyndrom»[1] sieht so aus, daß ein Kind Gefühle des Abgelehntseins, der narzißtischen Kränkung, der Wut über Eltern, die nur Leistung fordern und wenig Austausch von Gefühlen ermöglichen, durch die Identifizierung mit dem Idealbild des allmächtigen Helfers abwehrt, der anderen gibt, was selbst vermißt wurde. Eben weil das Helfen Abwehrcharakter hat, wird der Helfer blind für andere Interaktionsmöglichkeiten, anfällig für Mißtrauen, unfähig, sich außerhalb der warmen Nischen seiner Helfer-Schützlings-Beziehungen sozial zu engagieren.

Die Leidenschaft, mit der er die Gefühle der Unwissenheit, Schwäche, Ohnmacht oder Trauer seiner Schützlinge sucht und mitträgt, drückt das Versagen der Familien unter den Überforderungen einer zunehmend ihrer Gefühlsmöglichkeiten beraubten Konkurrenzgesellschaft aus. Der Helfer gewinnt als Kind seine Motivation aus eben den familiären Störungen, deren Folgen er später in familienähnlichen Arbeitssituationen auszugleichen sucht.

Zu diesen Überlegungen fällt mir eine Situation ein, die sich kürzlich in einer analytischen Therapiegruppe ergab. Ein Mitglied, die als Sozialarbeiterin soeben in einem Heim ihre ersten Berufserfahrungen sammelt, berichtet über ihre Ängste und Depressionen angesichts der Kinder, die sie einerseits darum beneidet, daß sie sich Äußerungen von Wut und Faulheit herausnehmen, die sie selbst nie gewagt hätte. Andererseits fühlt sie sich bei den geringsten Zeichen der Ablehnung durch diese Kinder wie gelähmt. Ihre Chefin – die Heimleiterin – sei die schlimmste Belastung. Immer perfekt, wisse sie stets, welcher Begriff auf welche Situation paßt, «wo’s langgeht». In ihrer Anwesenheit könne sie kein Wort mehr sagen, andererseits sei sie nicht imstande, offen über ihre Überforderung zu sprechen, wenn sie allein mit Fällen arbeiten solle. Zu dieser Lage fällt der Teilnehmerin ihre Mutter ein, die ebenfalls in einem sozialen Beruf, aber auch als Hausfrau alles richtig machte und alles so durchorganisierte, daß sie als Kind das Gefühl hatte, überflüssig zu sein und nichts zu können. (Hinweise auf die elterlichen Idealansprüche und die verinnerlichten Ideale des Kindes.) Die Gruppe beschäftigt sich eine Weile mit dieser Situation, versucht zu ermutigen oder Ratschläge zu geben, wobei ein Gruppenmitglied – der einzige, der selbständiger Unternehmer und Chef eines vom Vater übernommenen Betriebs ist – sich besonders engagiert, jedoch immer wieder auf Ablehnung stößt. Endlich reißt eine Kindergärtnerin die Aufmerksamkeit an sich, indem sie über noch schlimmere Schwierigkeiten mit den vielen Kindern berichtet und die Sozialarbeiterin wegen der wenigen Kinder, die sie betreuen muß, indirekt angreift. Der Unternehmer versucht sich wieder an praktischen Ratschlägen und wird ebenso abgewiesen wie das erste Mal. Widerwillig und wegwerfend fängt er endlich an, von seinen eigenen Schwierigkeiten zu erzählen – vom Zwang, unter dem Druck der Konkurrenz einen verläßlichen alten Buchhalter aufzgeben, der sich der Einführung eines Computersystems widersetzt. So wird deutlich, daß er sich im Gegensatz zu den beiden Helfern nicht leisten kann, depressive Gefühle zu äußern. Er ist gezwungen, immer etwas zu machen, während die scheinfamiliäre Arbeit der Helfer ihnen auch familienähnliche Formen der Klage über ihre Arbeit erlaubt, die in einem unmittelbar den Marktzwängen unterliegenden Unternehmen schlechterdings nicht möglich sind. Die...

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