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Jakob Kellenberger. Zwischen Macht und Ohnmacht

Annäherung an einen Diplomaten

AutorRené Sollberger
VerlagNZZ Libro
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783038104520
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis20,50 EUR
«Ein Wort ist wie eine Mine, die explodieren kann», sagt Jakob Kellenberger. Er weiss: Sprache ist Macht, und der Umgang mit Macht - und Ohnmacht - gehört zum Kern des Diplomatenhandwerks. René Sollberger zeichnet Kellenbergers Weg zu Brennpunkten des Weltgeschehens in Afghanistan, Israel, im Sudan und Irak nach. Er erlebt ihn auf einer Bergtour mit Weggefährten und besucht ihn in seinem Refugium in den Waadtländer Alpen. Kellenberger spricht so offen wie noch nie über seinen langjährigen Einsatz als Präsident des IKRK und die Probleme, die er auf seinen vielen Reisen angetroffen hat. Er gewährt dem Autor Einblick in seine Tagebücher, in denen er Verhandlungen mit Kriegsherren und Regenten reflektiert und mit Selbstzweifeln ringt. Das Buch schildert auch, wie gern er die Schweiz «als Architektin» in der EU gesehen hätte, als er in den 1990erJahren in seiner Rolle als Staatssekretär die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU verhandelte.

René Sollberger (*1957) ist in Lengnau bei Biel aufgewachsen und hat an der Universität Bern Physik und Mathematik studiert. Nach zehn Jahren Lehrtätigkeit folgte er seiner Berufung als Journalist und spezialisierte sich im Lauf der Zeit auf Wirtschaftsthemen. Die wichtigsten Stationen waren: Berner Zeitung, Associated Press, Cash, Basler Zeitung, Handelszeitung. Heute lebt er als Publizist in der Gegend von San Francisco und arbeitet regelmässig für Schweizer Medien.

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Leseprobe

2   Bergtour mit Popper, Sloterdijk und Fontane


Das Postauto benötigt nur 20 Minuten von Gstaad nach Lauenen. Es ist Samstag, der 31. August 2002. Wir sind im Berner Oberland. Wir, das sind Jakob Kellenberger, seit zweieinhalb Jahren Präsident des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz (IKRK), Benedikt Weibel, seit 1993 SBB-Generaldirektor, und ich, damals Journalist und Redaktor beim Wirtschaftsmagazin Cash. Es ist der Tag, an dem ich Kellenberger erstmals treffe. Ein Zufall. Der Schweizer Bergführerverband hat sich zum UNO-Jahr der Berge mit der Aktion «100 Gipfel» etwas einfallen lassen. Er hat Prominente und Journalisten zu einem Erlebniswochenende in den Alpen eingeladen. Bei der Anmeldung hatte man für die Wanderung die Wahl zwischen leicht, mittel und schwierig. Ich habe mich für mittel entschieden. Eine Seilschaft bestand in der Regel aus einem prominenten Gast aus Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft, geleitet von einem Bergführer und begleitet von einem Journalisten. In unserer Seilschaft hat SBB-Chef Weibel eine Doppelrolle: Er ist Spitzenmanager und zudem diplomierter Bergführer. Das Ziel der Aktion des Bergführerverbands: Einblicke in den alpinen Lebensraum mit seinen besonderen Herausforderungen gewähren.

Unsere Wanderung beginnt als beschaulicher Spaziergang im Dorfzentrum von Lauenen auf 1250 Metern über Meer. Tagesziel ist die auf 2000 Meter gelegene Geltenhütte. Kellenberger trägt ein blau-weiss kariertes Hemd, eine hellbraune Manchester-Cordhose und – wie es sich für eine Bergwanderung gehört – festes Schuhwerk. Proviant, Regenjacke und Ersatzkleidung hat er in einem hellblauen Rucksack verstaut. Weibel geht im Profi-Look mit gutem Beispiel voran: Trekkinghose, rosarotes T-Shirt und Wanderstöcke. Wir folgen dem Lauf des Lauibachs durch das Naturschutzgebiet Rohr. Zeit, sich kennenzulernen. Ich erfahre, dass Kellenbergers Frau Elisabeth wegen einer Erkältung nicht dabei sein kann. In einem Waldstück stockt das Gespräch, denn es geht steil bergauf. Wir erreichen den Lauenensee, der in einer von Moorwiesen umgebenen Geländemulde liegt. Kurze Pause. Kellenberger klaubt seine Tabakpfeife hervor. Sie ist bereits gestopft.

Kellenberger hat den SBB-Chef 1989 bei den Verhandlungen mit der EU über den Transitvertrag zum alpenquerenden Güterverkehr und den darauf folgenden EWR-Verhandlungen kennengelernt. Weibel: «Irgendeinmal gingen wir dann zusammen zum Mittagessen, was wir immer wieder getan haben, solange Jakob beim Bund arbeitete.» Ziel des Transitvertrags aus Schweizer Sicht war es, die 28-Tonnen-Limite für ausländische Lastwagen möglichst lange aufrechtzuerhalten, insbesondere im Alpenraum. Die beiden erinnern sich noch ganz gut an jene Zeit. «Die 28-Tonnen-Limite war damals für die Schweiz ein Heiligtum, ähnlich wie das Bankgeheimnis», so Kellenberger. Ziel der EU war es aber, mit 40-Tönnern im Transit durch die Schweiz zu fahren. Kellenberger legte sich quer und präsentierte im Gegenzug das Konzept der Schweiz, nämlich die Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene. Und er setzte sich durch. «Es war eine seltsame Situation: Schweizer Lastwagen konnten in der EU mit 40 Tonnen fahren, aber nicht umgekehrt.» Das hatte seinen Preis: Die Schweiz verpflichtete sich, die Neue Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT) mit zwei Basistunnel zu bauen, um die angestrebte Verlagerung des Schwerverkehrs auf die Schiene zu erreichen. Als Übergangslösung richtete sie einen Huckepackkorridor für Lastwagen auf der Lötschberg–Simplon-Achse ein. Die NEAT-Pläne wurden 1991 vom Parlament beschlossen und 1992 in einer Volksabstimmung bestätigt. Verkehrsminister Adolf Ogi hatte im Abstimmungskampf eindringlich vor einem Nein gewarnt: «Ohne NEAT und Transitvertrag mit der EU könnte man die Schweiz zwingen, die Strassen für 40-Tönner zu öffnen und das Sonntags- und Nachtfahrverbot aufzuheben.»

Kellenberger, Weibel und Ogi arbeiteten damals eng zusammen. Bei den Verhandlungen über den Transitvertrag trafen sie sich ab und zu mit ausländischen Verkehrsministern, auch an der Gotthardlinie in Wassen, wo Ogi vor der berühmten Kirche den Gästen die Transitproblematik erläuterte. Berühmt ist die Kirche, weil Bahnpassagiere sie auf der alten Bergstrecke gleich drei Mal sehen können – wegen der Windungen und Schleifen der Gleise durch zwei Kehrtunnel. Einer dieser Tage – mit dabei war auch die niederländische Verkehrsministerin Hanja Maij-Weggen – ist Weibel noch bestens in Erinnerung. «Nach der Besichtigung wechselten wir in einen Saal des Restaurants Alte Post, wo die Verhandlungen begannen. Am Tisch sassen etwa ein Dutzend Leute, ausser der holländischen Ministerin nur Männer. Kaum waren die ersten Voten gefallen, meinte sie mit maliziösem Lächeln, sie wolle mit Bundesrat Ogi unter vier Augen weiterverhandeln. Wir anderen wechselten in die Gaststube und hatten es fröhlich. Nur Jakob war es dabei sichtlich unwohl. Er hat es mir später erklärt: Wenn Bundesräte allein verhandeln, droht man den roten Faden zu verlieren.» Aber es ging alles gut, die NEAT konnte gebaut werden, und 1993 trat der Transitvertrag in Kraft. Kurz darauf begannen die bilateralen Verhandlungen zwischen der Schweiz und der EU. Kellenberger hatte als Chefunterhändler wiederum viel mit SBB-Chef Weibel zu tun, insbesondere im Dossier Landverkehr, eines von sieben Dossiers, die als Paket mit der Bezeichnung Bilaterale I in die Geschichte eingehen sollten. Das Landverkehrsabkommen als Teil der Bilateralen I löste später, ab 2002, den Transitvertrag ab.

Tief unter uns, im Jahrmillionen alten Granit der Alpen, schreiten die Bauarbeiten am Basistunnel durch den Lötschberg plangemäss voran. Er wird fünf Jahre später, im Dezember 2007, offiziell in Betrieb genommen. Hier oben, am Lauenensee, ist davon nichts zu merken. Wir lassen die Moorwiesen hinter uns zurück, den Blick auf die dunklen Wolken gerichtet, die über den Bergen aufziehen. Bald zwängt sich der Pfad entlang des Geltenbachs durch eine enge Schlucht und wird steiler, bevor wir auf die Alp Feissenberg kommen. Hier erblicken wir erstmals den Geltenschuss, wie der imposante Wasserfall im Berner Oberland genannt wird. Schon sind 350 Höhenmeter geschafft. Aber das war erst der Anfang. Bergführer Weibel weiss, was uns noch erwartet. Wir machen uns aber nicht unnötig Sorgen und schreiten flott voran. Der Weg führt nun über saftige Alpweiden fast flach in ein Seitental hinein. Noch ist der Puls ruhig, noch haben wir ausreichend Atem, um uns zu unterhalten. Längst geht es nicht mehr um die Integrations- und Verkehrspolitik.

Literatur ist angesagt, für Kellenberger ein Lebenselixier: «Literatur und Philosophie beeinflussen, was ich wichtig finde, wie ich handle, wie ich in der Welt stehe.» Auch seine «enorme Abneigung gegen Schwarz-Weiss-Denken» hat sich durch Studium und Lektüre gefestigt. «Aus der Literatur und der Philosophie weiss ich, dass das Leben aus lauter Nuancen besteht.» Zur Erläuterung verweist er auf den deutschen Philosophen Hans-Georg Gadamer, international bekannt geworden durch sein Werk Wahrheit und Methode. Er hat Kellenberger stark beeinflusst. «Um zu einem möglichst sauberen, unabhängigen Urteil zu kommen, muss man Abstand halten, auch zu sich selbst. Das ist nicht einfach, man schafft das wohl kaum vollständig, aber man darf sich nie gehen lassen. Man darf sich nicht von Stimmungen gefangen nehmen lassen und sich dann in seinem Urteil täuschen. Man muss auf Distanz zur Stimmung gehen und beobachten. Das mache ich oft, ganz bewusst, was auch eine gewisse Einsamkeit bedeutet, ein gewisses Alleinsein. Das ist der Preis der Freiheit. Aber bei meiner beruflichen Verantwortung war es bestimmt zum Nutzen der anderen. Wenn man auf die Urteile zurückblickt, die ich bei meiner Arbeit gefällt habe, wird man nicht sehr grosse fahrlässige Schwankungen feststellen – und das sicher nicht nur wegen meiner Abneigung gegen Opportunismus, sondern weil ich darüber nachgedacht habe. Distanz macht auch ziemlich immun gegen Demagogie. Das ist gerade für einen Posten wie das IKRK-Präsidium wichtig. Man darf sich nicht einlullen oder einschüchtern lassen. Man darf sich nicht in Gefühlen auflösen, selbst dann nicht, wenn man leidet. Man muss Abstand bewahren, um handlungsfähig zu bleiben und seine Pflicht zu erfüllen.» Und wie kommt diese Distanz in der Familie an? «Im Privaten macht mich dies nicht zu einem einfachen Menschen», räumt er ein. Und seine Frau würde ihm wohl mit einem Augenzwinkern beipflichten. Auch wenn er nach anstrengender Arbeit nach Hause kam, am Abend oder am Wochenende, versuchte er jeweils ein bis zwei Stunden der Philosophie oder Literatur zu widmen. «Dabei habe ich mir meine eigenen Gedanken gemacht und aufgeschrieben. Das ist ein Teil meiner Welt.» Warum hat er diesen Teil seiner Welt nicht zum Beruf gemacht und ist Professor für Literatur geworden? Nach seinem Studium wäre das naheliegend gewesen. «Die Frage stellte sich in einem gewissen Moment tatsächlich. Aber da gab es ein Hindernis, meine zweite Seele, und das ist der Macher. Ich wollte mitten im Leben stehen und etwas bewirken. Das andere ist eine Welt für sich.» Auch seine Frau, die ebenfalls Literatur studiert hat, war erstaunt. Die beiden hatten schon während des Studiums geheiratet. Als ihr Kellenberger eröffnete, er werde die Prüfung für die Diplomatenlaufbahn machen, konnte sie es kaum glauben. «Ich sagte ihr, dass ich etwas machen, etwas bewirken möchte. In der Diplomatie ist dies zugunsten des ganzen Landes möglich und nicht beschränkt auf eine Gruppe besonders Interessierter. Später beim IKRK kam dann noch etwas dazu: sich wenn immer möglich für die Schwächeren einsetzen. Das kann man doch, wenn man selbst...

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