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E-Book

Jean-Claude Juncker

Der Europäer

AutorMargaretha Kopeinig
VerlagCzernin Verlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783707605099
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Jean-Claude Juncker ist einer der erfahrensten Staatsmänner Europas. Als langjähriger Ministerpräsident Luxemburgs, zuletzt dienstältester Regierungschef in der EU und Eurogruppen-Vorsitzender setzt er sich für ein soziales Europa ein. Sozialpolitik, Beschäftigung, Wachstum und Investitionen erklärt er auch als Kommissionspräsident zu seinen Prioritäten. Austrittsdrohungen, Budgetdefizite, Arbeitslosigkeit, Kriege in der Nachbarschaft, Migrationsfragen, Steuerbetrug und Finanzspekulationen: Die Position des EU-Kommissionspräsidenten wird in den nächsten Jahren immer wichtiger. Jean-Claude Juncker steht vor der Aufgabe, das europäische Staatenbündnis nicht nur zusammenzuhalten, sondern weiterzuentwickeln. Um den Menschen eine Perspektive zu geben, wird er kreative Konzepte gegen die Krise finden müssen. Die Erwartungen an Jean-Claude Juncker sind groß: Wenn er an seinem Baustück Europa weiterarbeitet wie bisher, ist er der richtige Mann für den höchsten Posten der EU.

Margaretha Kopeinig, Dr. phil., geboren 1956, Studium der Politikwissenschaft, Geschichte, Soziologie und Pädagogik in Wien, Genf und Bogotá. 1992 bis 1994 EU-Kurier-Korrespondentin in Brüssel, kurze Zeit »profil«-Redakteurin, seit 1995 Redakteurin des »Kurier« mit dem Schwerpunkt Europa-Berichterstattung. Zahlreiche Veröffentlichungen.

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Leseprobe

JUNCKER: SEINE HERKUNFT, SEIN POLITIKVERSTÄNDNIS


Jean-Claude Junckers Politikverständnis ist ganz wesentlich durch seine Herkunft, durch sein soziales Umfeld, durch seine Familie geprägt.

Als Jean-Claude Juncker am 9. Dezember 1954 in der kleinen Gemeinde Redingen in Luxemburg zur Welt kommt, ist der Zweite Weltkrieg seit einem knappen Jahrzehnt vorbei; die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl (EGKS), eine Vorgängerorganisation der Europäischen Union, ist gerade einmal zwei Jahre alt. Den Krieg kennt Juncker nur aus den Erzählungen des Vaters, der als Soldat der deutschen Wehrmacht an der Ostfront im Einsatz war und dabei schwer verwundet wurde.

„Die deutsche Besatzung war eine nationale Zäsur. Krieg, Konzentrationslager und Zwangsrekrutierungen: Die Jahrgänge 1920 bis 1927 wurden in die Wehrmacht eingezogen. Mein Vater wurde gezwungen, in den Krieg zu ziehen. Er kam an die Front nach Russland, wo er sich schwere, heute noch sichtbare Kriegsverletzungen zuzog. Der Krieg war eine Zäsur im Leben meines Vaters. In meiner Jugend hat er kaum etwas erzählt, auch seine Brüder nicht. Das tut er mittlerweile stärker, weil er glaubt, mir das zumuten zu können.“

Die Erzählungen Jos Junckers prägten das Politikverständnis des Sohnes: Sein leidenschaftliches Engagement für Europa wurzelt in den schrecklichen Erfahrungen, die seine Familie im Krieg machen musste. „Die Vorgänge in der Geschichte, die von wenigen ausgelöst wurden und viele betrafen, ganzen Generationen die Jugend nahmen, das hat mich immer sehr beschäftigt.“ Junckers Antwort zum Thema Krieg ist eindeutig: „Nie wieder!“

Konkret wird diese Forderung in der Bereitschaft der einzelnen Länder, sich freiwillig immer stärker zusammenzuschließen, nationale Souveränität an europäische Institutionen abzugeben und für gemeinsame Werte wie Offenheit und Toleranz einzustehen – als konstitutive Elemente des Zusammenlebens in Europa. Auch dieses Streben nach einer demokratischen Ordnung, die Unterstützung für soziale Gerechtigkeit, für Chancengleichheit, die Überwindung von Armut und das Gebot von Fairness wurzeln in Jean-Claude Junckers Familie – und in frühesten Kindheitserfahrungen.

Juncker wächst in Belvaux auf, einer Arbeitersiedlung in der Gemeinde Sanem mit etwas mehr als 13 000 Einwohnern. Es liegt im Kanton Esch-Uelzecht, dem südlichsten und bevölkerungsreichsten Kanton des Großherzogtums. Dort ist sein Vater Jos Juncker in einem der großen Stahlwerke des Landes angestellt. Auch viele italienische und portugiesische Gastarbeiter sind hier beschäftigt.

Der kleine Jean-Claude nimmt am Leben der eingewanderten Familien und der Schwerarbeiter in der Stahlindustrie regen Anteil. „Man wächst auf mit der Systematik des Schichtwechsels und lebt den Drei-mal-acht-Stunden-Rhythmus: von morgens um sechs bis nachmittags um 14 Uhr. Dann von 14.00 bis 22.00 Uhr, und von 22.00 Uhr bis sechs Uhr.“ Das Sirenengeheul, das den Schichtwechsel anzeigte, hat Juncker noch im Ohr. „Das ist der Rhythmus von Kindheit und Jugend. Man kann sich dem überhaupt nicht entziehen. Man sieht das ja auch im Straßenbild. Wenn die Menschen zur Arbeit fahren, ist plötzlich viel Verkehr – und dann bricht er wieder ab.“

Aus seiner Herkunft hat Jean-Claude Juncker nie ein Hehl gemacht. „Man kann nicht 25 Jahre hinter einem Stahlwerk wohnen, ohne sich mit der sozialen Frage zu beschäftigen. Das geht ja nicht.“

Junckers Zielstrebigkeit und Disziplin sowie das „Erbe“ seiner Familie – im Besonderen das seines Vaters – bestimmen nachhaltig sein Leben: das christlich-soziale Umfeld ebenso wie die Besuche von Gewerkschaftstreffen und Parteiveranstaltungen an der Seite des Vaters.

Der Vater – während seines ganzen Arbeitslebens in der christlich-sozialen Gewerkschaft engagiert – exerziert die soziale Einstellung praktisch vor und prägt auch Junckers eigenen Umgang mit Menschen: „Das waren unendlich viele Begegnungen. Ich nahm am Gewerkschaftsleben und am christlich-sozialen Parteileben teil. Ich habe als Jugendlicher mit sehr vielen Politikern geredet, aus allen Parteien.“

Nicht nur Junckers Vater, fast alle seiner elf Geschwister sind Mitglieder der Christlich-Sozialen Volkspartei oder Mitglieder der Gewerkschaft.

„Das Soziale ist tief in mir verwurzelt“, sagt Juncker. „Ich war immer der Meinung und bin es heute noch, die Welt ist nicht gerecht. – Sie ist nicht gerecht“, setzt er nach. „Die internationale Wirtschaftsordnung ist nicht gerecht. Es gibt die Kleinen und die Großen, diejenigen, die etwas haben, und die, die nichts haben. Diejenigen, die sich alles leisten können, und die, die sich nichts leisten können. Und es gibt die, die sich ein bisschen etwas leisten können und noch dazu denken, sie hätten das jenen zu verdanken, die sich alles leisten können, nur weil die gnädigerweise auf etwas verzichten.“

Die diskreteste, aber wirkungsvollste Machtausübung, die es gibt, kultiviert Jean-Claude Juncker bereits in der Kindheit. Wird in der Schule – einem Jesuiteninternat in Clairefontaine in Belgien – Fußball gespielt, ist er der Kapitän der Mannschaft.

Geht es darum, der Schulleitung im Auftrag der Klasse etwas mitzuteilen oder mit ihr zu verhandeln, ist es wieder: Juncker. „Ich glaube, ich wollte das auch tun. Ich habe den Eindruck – und so beschreiben mich auch andere, die mit mir in der Schule waren –, dass ich immer gerne Menschen um mich geschart habe, um etwas zu tun. Ich habe kaum jemals etwas alleine getan. Ich hatte immer die Idee, was die Gruppe tun sollte.“

Lenken und gestalten, das hat Juncker früh gelernt. Doch erst langsam wächst der Wunsch in ihm, Politiker zu werden. „Das hat sich entwickelt, so wie tausend Fäden, die langsam zu einem dicken Seil zusammenwachsen. Ich bewundere immer die, die genau wissen, wieso und weshalb sie Politik machen. Bei mir ist das langsam entstanden. Im Übrigen mag ich den Ausdruck ,Politik machen‘ nicht. Politik ist gestalten. Aber ich kann ja nicht sagen, ich bin Politik-Gestalter.“

Dieser Gestaltungswille – man könnte auch sagen: das Streben nach ganz oben und der Wille zur Macht – lässt sich am anschaulichsten verdeutlichen durch eine Episode aus Junckers Zeit als junger Staatssekretär. Seine erste Dienstreise führt ihn an der Seite von Arbeitsminister Jacques Santer zu einer informellen Sitzung der Arbeitsminister der EU nach Bonn. Das Abendessen findet im internationalen Klub La Redoute statt. Der Gastgeber: BRD-Sozialminister Norbert Blüm. Juncker will ihn begrüßen; doch in dem Moment, in dem er den Saal betritt, packen ihn vier Hände – vier GSG-9-Hände – und machen ihm unmissverständlich klar: Die Fahrer essen in dem Raum nebenan!

20 Jahre später, bei einer Rede in der Redoute, schildert Juncker diese Begebenheit und gesteht, sich damals vorgenommen zu haben, „eines Tages als Ministerpräsident unbehelligt diesen Saal zu betreten“.8

Wann immer er kann, besucht Jean-Claude Juncker seine Heimatgemeinde Belvaux. „In diesem Ort ist das Stahlwerk – und die Arbeiter-Romantik, im guten Sinne des Wortes. Hier fühle ich mich getragen.“ Und hier leben noch heute sein Vater und seine Mutter. Auch wenn er über seine Mutter, Marguerite Hecker, seltener spricht als über seinen Vater („ich habe beide immer als Eltern begriffen, nicht getrennt als Vater oder Mutter“) – es liegt große Bewunderung für die Frau, die ihn erzogen hat, in seinen Worten: „Meine Mutter war die, die sich ohne viel Aufhebens um die Kinder gekümmert hat. Eine sehr intelligente Frau, die problemlos hätte studieren können, sie ist Jahrgang 1928, wenn die Irrungen und Wirrungen der Zeit es zugelassen hätten.“

Seine Mutter ist es auch, die ihm schon früh das Rüstzeug für den späteren Job als Finanzminister vermittelt: Sparen. – Das ist in einem Haushalt mit zwölf Kindern unerlässlich. „Wenn man zu Hause sparen lernt – nicht weil man diese Tugend besonders hoch schätzen würde, sondern weil man einfach sparen muss, um bis zum Monatsende durchzukommen –, dann bleibt davon etwas hängen.“9

Die Fähigkeit, haushalten zu können, stellt Juncker schon als Finanzminister stetig unter Beweis: Als erstes Land der EU erfüllt Luxemburg bereits 1994 die Maastricht-Kriterien für die Teilnahme an der Wirtschafts- und Währungsunion, und erzielt sogar Budgetüberschüsse. Viele Jahre liegt Luxemburg an der Spitze der europäischen Arbeitslosen-Statistik; selbst in den Jahren der Wirtschaftskrise hat das kleine Land eine der niedrigsten Arbeitslosenquoten in der Europäischen Union.

Sparen und das Vorhandensein von Arbeitsplätzen stellen für Juncker zwei Seiten einer Medaille dar. Er erinnert sich an seine Studententage in Straßburg, als sein Studium auf der Kippe stand, weil das familiäre Haushaltsbudget knapp war: „Wenn man einen Vater hat, der Stahlarbeiter ist, und man sich plötzlich von einem Tag auf den anderen mit der Perspektive konfrontiert sieht, dass man dieses Studium nicht mehr finanzieren kann, weil einfach das Geld fehlt, dann denkt man – besonders wenn man in jungen Jahren in Ämter hineinwächst – ohne Anstrengungen an das zurück, was man zu Hause erlebt hat.“

Belvaux lässt Jean-Claude Juncker nicht los. – Das Wahlverhalten der Bewohner eines Ortes, der seit Jahrzehnten eine sozialistische und kommunistische Hochburg war, ist Balsam für sein politisches Ego. Als Juncker 1995 Premierminister wird, verschieben sich die Gewichte in Belvaux, die Christlich-Sozialen werden zur Nummer eins.

Die Zustimmung und Sympathie für Juncker geht in Belvaux, aber auch in anderen Orten Luxemburgs, weit...

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