1 Bevor es losgeht
Wie ist das eigentlich, wenn man einfach nur sein darf? Tun und lassen kann, was man will? Morgens aufsteht, das Fenster öffnet, die Luft atmet und froh ist? Froh, am Leben zu sein? Froh, auf der Welt zu sein? Froh, Freunde zu haben, Eltern, eine Familie?
Wie wäre es, wenn wir uns an den Moment erinnern könnten, als wir zum ersten Mal in die Welt geblickt haben? In die Augen der Mutter, in die des Vaters. Wie wohl wir uns fühlten in ihren Armen, lächelnd, brabbelnd, sabbernd; wie egal war uns damals unsere eigene Unvollkommenheit. Was würden wir dafür geben, noch einmal zu erleben, wie wir plötzlich aus dem Dunkel ins Helle gestoßen wurden, in ein aufregendes Abenteuer, das sich Leben nennt? Alles war so groß, so neu, es schien weder Raum noch Zeit zu geben, es war phantastisch, einfach da zu sein. Ohne große Ansprüche, nur atmen, essen, trinken, schlafen. Waren wir müde, schliefen wir ein. Waren wir traurig, weinten wir. Und wir waren froh, wenn uns nur jemand fröhlich anblickte.
Was gäben wir dafür, die Welt aus der Sicht eines Kindes, das wir selbst einmal waren, zu sehen? Als eine Sensation die nächste jagte, als wir aus dem Staunen nicht mehr herauskamen, zu aufgeregt zum Schlafen und müde von all den Eindrücken? Wir waren wie verzaubert von neuen Geräuschen und Gerüchen und all dem, was uns in den Sinn kam. Wir phantasierten, wir erfanden, wir spielten uns ins Leben. Wir waren Könige, keine Knechte. Wir träumten uns auf den Mond und schwebten durch die Zeit. Es war, als hätten die anderen nur auf uns Himmelsstürmer gewartet: Hey, kleiner Fratz!
Wie einfach war das! Und wie schwer ist das Leben geworden, seitdem. Die Leichtigkeit ist verflogen, anstrengend so vieles. Was ist aus der Begeisterung von damals geworden? Aus dem Empfinden, dass jede Sekunde einen neuen Augenblick bereithält, jede Minute aufregende Bewegungen, jede Stunde eine andere Sicht auf die Dinge?
Nun sind wir, erwachsen und der Kindheit entwachsen, aus dem Staunen längst heraus. Die Pflicht, die Verantwortung, die Gewöhnung hat verschüttet, was war. Das Einfache ist kompliziert geworden. Das Langsame schnell. Das Große klein. Wir nehmen uns nicht mehr Zeit, die Zeit nimmt uns. Wir drehen am Rad. Sind müde und erschöpft, fühlen uns ausgelaugt und überfordert. Der Takt der Arbeitswelt diktiert den Alltag, er bestimmt unsere Beziehungen, unsere Verhältnisse, unser Denken. Der technische Fortschritt, der soziale Wandel und das Tempo des Lebens – wir erfahren es täglich – lassen uns zunehmend ratlos zurück. Das Leben ist zu einem Stresstest geworden, effizient soll es sein, perfekt, optimiert. Alles muss Sinn machen, einen Zweck haben, unser Dasein ist Analyse. Wir werten und werden bewertet, der Wettbewerb hat auf allen Ebenen Besitz von uns ergriffen. Bei der Wahl eines Partners, der Geburt eines Kindes, im Job und in der Freizeit. Wir sind vernetzt und verdrahtet und unsere Köpfe voll von Bildern. Wir kommen kaum nach, diese zu ordnen. Haben für alles ein Wort und für nichts mehr Zeit. Denken daran, was wird und was war. Wir rasen durchs Sein und vergessen zu sein, beugen uns wie selbstverständlich Zwängen, ohne sie in Frage zu stellen, und liefern uns einem System aus, das von drei Wörtern beherrscht wird: Ich. Alles. Sofort. Das ist die eilige Dreifaltigkeit unserer Tage.
Wir beschäftigen uns mit allem und jedem. Aber was ist mit unserem eigenen Leben? Wer sind wir und was wollen wir? Wie oft haben Sie sich schon gefragt, weshalb Sie so geworden sind, wie Sie sind? Wer Sie am meisten beeinflusst hat, welche Erfahrungen Sie geprägt haben? Sind Sie der, der Sie sein wollten? Oder der, der Sie sein sollten? Erinnern Sie sich, ob Sie es waren, der über die Richtung entschied, die Sie eingeschlagen haben? Und haben die Anstrengungen, die Sie unternommen haben, um erfolgreich voranzukommen, Sie auch wirklich weitergebracht? Oder hätten Sie lieber einen Weg gewählt, der Umwege zulässt und die Möglichkeit bietet, viele Eindrücke zu sammeln und neue Erfahrungen zu machen? Dann hätten Sie sich vielleicht andere Fähigkeiten angeeignet. Es hätten sich unter Umständen andere Begabungen entfalten können.
Es ist schwer zu sagen, was damals, als Sie klein waren, alles in Ihnen steckte. Wovon Sie träumten, wofür Sie sich begeisterten. Was Sie antrieb. Und wofür Sie eine Begabung mitbrachten. Haben Sie sich schon einmal überlegt, welche Ihrer Talente brachliegen und in Ihrem Leben bisher keine Rolle spielten? Und haben Sie eine Ahnung davon, welche Talente in Ihren Kindern schlummern? Was sie wirklich gut können und was nicht?
Wir fragen uns: Was ist das eigentlich, ein Talent, eine besondere Begabung? Wie entsteht es? Sind Talente angeboren? Woran erkennen wir, ob in einem Kind etwas angelegt ist, über das andere Kinder nicht verfügen? Und was wird aus einer solchen Begabung, wenn niemand sie entdeckt und wenn sich keiner darum kümmert, dass ein Kind dieses Talent auch wirklich entfalten kann? Wenn niemand da ist, der bestärkt, ermutigt, ermuntert? Das Talent wird wohl verkümmern.
Das wäre schade. Wie arm wäre die Welt, würden wir uns nicht ihrer großen Talente erfreuen. Wie dankbar sind wir all den Helden der Geschichte, deren Begabung uns nicht verborgen blieb. Armstrong und Chaplin, Dalí und Disney, Mozart und Wagner. Ihr Schaffen wirkt durch alle Zeit, für alle Zeit. Sie folgten ihrem Ruf und niemand kann im Nachhinein sagen, wann sie ihn zuerst gehört haben. Was genau passierte, dass sie erkannten und erkannt wurden. Was wäre geschehen, wenn die Eltern von Einstein ihrem schüchternen Sprössling das Träumen ausgetrieben und ihm verboten hätten, stundenlang nur Kartenhäuser zu bauen? Wenn seine Lehrer nicht zugelassen hätten, dass Albert im Unterricht über die Antwort auf eine Frage stundenlang grübelte und Aufgaben unmöglich auswendig lernen konnte? Und wie erstaunlich ist die heitere Selbstauskunft des Weltendenkers über das Geheimnis seines Erfolges, die er später gab. Er habe keine besondere Begabung, meinte der Mann im ausgebeulten Mantel, er sei nur »leidenschaftlich neugierig«.
Wie wunderbar. Aber woran lässt sich nun erkennen, welche besonderen Begabungen und Talente in einem Kind verborgen sind? Einer Begabung folgen ja nicht sofort eine besondere Leistung, ein besonderes Können oder eine besondere Fähigkeit. Eine Begabung oder ein Talent ist zunächst nur eine Möglichkeit, später eine besondere Fähigkeit zu erwerben und bestimmte Leistungen zu erbringen, die sich deutlich von dem unterscheiden, was andere auf einem Gebiet sich anzueignen und zu leisten imstande sind.
Es gibt Experten, sogenannte Talentsucher, die meinen herausfinden zu können, ob ein Kind ein solches besonderes Potenzial in sich trägt. Im Leistungssport sind viele solcher Talentsucher unterwegs. Sie schauen sich die Kinder schon sehr früh an, beobachten ihre Bewegungen, bewerten ihren Willen und geben ein Urteil ab. Diese »Scouts« vermögen vielleicht am Körperbau abzuschätzen, ob ein Kind über besonders günstige Voraussetzungen für spätere Spitzenleistungen verfügt. Aber wenn man bedenkt, dass zum Beispiel wirklich große Sportler wie der Welt-Fußballer Lionel Messi eher klein im Wuchs sind, wird deutlich, wie unzuverlässig solche Prognosen sind.
Ein Talent zu sichten ist also nicht so einfach und gestaltet sich noch schwieriger, wenn es um das frühe Erkennen von musischen, gestalterischen oder intellektuellen Begabungen geht. Da muss man noch genauer hinschauen. Thomas Alfa Edison zum Beispiel, einer der größten Erfinder in der Menschheitsgeschichte, war stets der Schlechteste in seiner Klasse. Marcel Prousts Lehrer fanden seine Aufsätze zum Schreien. Pablo Picasso konnte sich nie an die Reihenfolge des Alphabets erinnern. Giacomo Puccini fiel bei Prüfungen immer wieder durch und Paul Cézanne wurde von der Kunstschule abgelehnt.
Auch all jene Begabungen zu erkennen, die Kinder später in die Lage versetzen, als Führungskräfte in Politik und Wirtschaft herauszuragen, ist nicht leicht. Oder Persönlichkeiten zu werden, welche uns allen großen Respekt abnötigen und Maßstäbe für Engagement und Menschlichkeit setzen. Wer hätte gedacht, dass aus dem kleinen Schulbub Nelson Mandela eine der größten Gestalten der Weltgeschichte werden würde, vergleichbar mit Mahatma Gandhi? Dem Gandhi, der von seinen Schuljahren als der »unglücklichsten Zeit in meinem Leben« sprach? Konnte man ahnen, dass ein armes albanisches Bauernmädchen als Mutter Teresa zur Retterin der Betrübten werden würde? Oder Pummel Winston zum großen Churchill? Diese Menschen geben Zeugnis davon, was alles möglich ist. Und sie sind unübertroffene Genies, wie es Beethoven in der Musik war und Henry Ford als moderner Unternehmer. Wenn man den Erzählungen glauben kann, hat der kleine Henry schon im Alter von sieben Jahren Uhren auseinandergenommen und wieder zusammengesetzt. Und nichts anderes getan als gebastelt und geforscht und gebaut, ehe dann später in seiner Garage ein motorisiertes Gerät auf vier Rädern stand. Ein Auto.
Schaut man genauer hin, wann erkannt worden ist, dass jemand außergewöhnliche Leistungen zu vollbringen oder enorm verantwortungsvolle Positionen auszufüllen imstande ist, gelangt man zu einer sehr ernüchternden Erkenntnis: Gerade diese Menschen sind als kleine Kinder, im Kindergarten, in der Schule und – wenn sie eine besucht haben – auch auf der Universität nicht durch herausragende Leistungen aufgefallen. Im Gegenteil, die meisten von ihnen haben sich eher dadurch hervorgetan, dass sie in Kindergarten, Schule und Berufsausbildung fehl am Platz waren. Die Schule, sagte der norwegische Komponist Edvard Grieg,...