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E-Book

Jungen verstehen

AutorHans Hopf
VerlagKlett-Cotta
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl223 Seiten
ISBN9783608115468
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis21,99 EUR
Anders als früher und eher als Mädchen haben Jungen es schwer, eine sichere Identität zu entwickeln und gefahrlos durch die heutige Zeit zu kommen. Eltern wissen nicht weiter, Lehrer resignieren, Ärzte verschreiben Medikamente. Die Leser erfahren, wie wir Jungen optimal fördern können, was sie brauchen, um sicher durch die Kindheit zu kommen und wie sie seelisch widerstandsfähige und gesunde Erwachsene werden. Viele Jungen sind liebenswert und beglücken uns durch Kreativität, Ideenreichtum, Forscherdrang und Technikbegeisterung. Doch immer mehr haben sich nicht im Griff, sind unkonzentriert und zappeln, sind laut und bockig, Angeber, Störenfriede, manchmal Versager und im schlimmsten Fall gewalttätig. Hopf verdeutlicht, welchen äußeren Einwirkungen Jungen in unserer Gesellschaft ausgesetzt sind und wie diese Erfahrungen sie als Kind und später als Männer prägen. Die Jungen sind die Emanzipationsverlierer, die in ihrer männlichen Eigenart nicht hinreichend gefördert werden. Wenn Mütter, ErzieherInnen und LehrerInnen nicht verstehen, was in Jungen vorgeht, unterdrücken sie unbewusst deren gesunde Entwicklung. Hopf zeigt, wie Jungen auf die Anforderungen des Lebens vorbereitet werden können in einer Zeit, in der traditionelle Männerbilder überholt und Identitäten fragiler geworden sind. Diese Buch richtet sich an - Eltern - Erziehende- Alle, die beruflich in irgendeiner Form mit Jungen zu tun haben - PsychologInnen und ÄrztInnen - Heimpersonal

Hans Hopf, Dr. rer.biol.hum., ist einer der renommiertesten Kinder- und Jugendlichen-Analytiker Deutschlands; Dozent, Supervisor und Ehrenmitglied der Psychoanalytischen Institute Stuttgart, Freiburg und Würzburg. 2013 erhielt er den Diotima- Ehrenpreis der Deutschen Psychotherapeutenschaft. Er hat zahlreiche Bücher publiziert.

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Leseprobe

1

Einleitung – Die schlimmen, liebenswerten Jungen

Seit vielen Jahren befasse ich mich mit der Entstehung von männlicher Identität. 2013 ist mein Fachbuch »Die Psychoanalyse des Jungen« erschienen, das sich mit den Besonderheiten des männlichen Geschlechts befasst. Es ist ein Lehrbuch für Psychotherapeuten. Mit diesem Buch will ich die dortigen Gedanken weiterführen und sie in eine möglichst verständliche Sprache bringen.

Jungen – das schwierige Geschlecht?

Was ist heutzutage mit den Jungen los? Sie haben mittlerweile ein großes Image-Problem und gelten als das ›schwierige Geschlecht‹. Die Bundespsychotherapeutenkammer hat sogar eine Tagung mit dem Titel: »Diagnose Junge! Pathologisierung eines Geschlechts?« veranstaltet. Zeigen Jungen wirklich mehr Probleme als die Mädchen? Oder fallen sie nur deswegen mehr auf, weil sie Sand ins soziale Getriebe tragen? Befinden sie sich in einer Krise?

2017 wurden in Baden-Württemberg 55 032 Kinder geboren, 51,24 % waren Jungen und 48,76 % Mädchen. Dieses Verhältnis gilt mit kleinen Abweichungen für alle Bundesländer und ist seit vielen Jahren stabil. Es gibt also mehr Jungen als Mädchen. Eine Forschergruppe in Cambridge (USA) erklärt dazu, dass zwar Mädchen und Jungen im gleichen Verhältnis gezeugt werden, im Verlauf der Schwangerschaft jedoch mehr Mädchen sterben (Süddeutsche Zeitung, 30. 3. 2015). Jungen schneiden schulisch schlechter ab als Mädchen und haben niedrigere Bildungsabschlüsse: Lediglich 40 % der Jungen werden vorzeitig eingeschult gegenüber 60 % der Mädchen. Von den Jugendlichen ohne Hauptschulabschluss sind 60 % Jungen. Die Allgemeine Hochschulreife hingegen besitzen 55 % der Mädchen gegenüber 45 % der Jungen. Jungen erhalten bis zur Pubertät mehr Förderungen, Nachhilfe, Hilfen und Behandlungen als Mädchen. Auch für den weiteren Entwicklungsverlauf zeigen sie ungünstige Perspektiven: Viele haben sich nicht im Griff, sind unkonzentriert und zappeln, sind laut und bockig, Angeber, Störenfriede, manchmal Versager und im schlimmsten Fall gewalttätig. Eltern wissen häufig nicht weiter, Lehrer resignieren, Ärzte verschreiben Medikamente, viele werden mit Tabletten ruhig gestellt.

Jungen neigen zu Drogenkonsum und Computerabhängigkeit und verfügen wahrscheinlich über eine geringere Empathiefähigkeit. Mädchen sind ihnen mit ihren psychischen Ausstattungen, Durchhaltevermögen, Empathie und Symbolisierungsfähigkeit meist überlegen. Sind Jungen durchweg ein Problem?

Aber jetzt mal Halt! Die meisten Jungen sind besser als ihr Ruf. Sie sind liebenswert und beglücken uns durch ihre Kreativität, ihren Ideenreichtum, Forscherdrang und ihre Technikbegeisterung. Der Soziologe Dornes hat über statistische Vergleiche nachgewiesen, dass psychische Störungen nicht zugenommen haben. Er hat wahrscheinlich Recht, vor allem wenn man jene 558 000 Jungen nicht dazu rechnet, die bereits – gemäß einer Untersuchung der BARMER EK – die Diagnose »ADHS« (Aufmerksamkeits-Defizit-Syndrom mit Hyperaktivität) erhalten haben. Verändert hat sich jedoch die Qualität der Störungsbilder mit den genannten Problemfeldern: Die Störungen der Jungen weisen heute, anders als noch in den 50er-Jahren, sehr lärmende, sehr beunruhigende Symptome auf. Die Mehrzahl der Kinder und Jugendlichen profitiert erkennbar von den positiven Wandlungen in den Erziehungshaltungen ihrer Eltern. Doch liegen bei manchen Jungen Risikofaktoren vor, und bei einer kleinen Gruppe verdichten sie sich in besonderer Weise. Bedauerlicherweise werden die Probleme einiger Jungen auf das gesamte Geschlecht übertragen, so wie das auch bei den Männern geschehen ist.

Weshalb Jungen problematische Zuschreibungen bekommen konnten und um welche Schwierigkeiten es sich handelt, darüber will ich in diesem Buch berichten. Dabei berücksichtige ich verschiedene Fragestellungen: Sind es biologische Probleme? Sind es psychische und psychosoziale? Ist es eine veränderte Gesellschaft, die zur Anpassung an neue Verhältnisse zwingt?

Die Weisheit des Philosophen Platon

Ich lausche in einem ICE unbeabsichtigt dem Gespräch zweier junger Frauen über die Geburt eines männlichen Nachkommen. Eine der beiden ist hochschwanger. »Was wird es denn?«, fragt die gegenübersitzende Frau neugierig. Ein Ausdruck von Enttäuschung wandert über das Gesicht der Schwangeren, gepaart mit leichtem Kummer: »Ach«, sagt sie, »es wird ein Junge«. Mitfühlend meint die andere: »Na, da werden Sie es aber nicht leicht haben«. Dass eine werdende Mutter das Verhalten ihres ungeborenen Sohnes bereits als prekär einschätzt, hat mich berührt. Müssen sich Mütter schon vor der Geburt vor ihren Söhnen fürchten? Wir wissen, wie fatal sich unbewusste Motive von Eltern auf ihre Kinder auswirken können. Wie wird erst eine solche bewusste Rollenzuschreibung auf die Entwicklung dieses Jungen Einfluss nehmen?

Dass vielleicht doch nicht alles ganz schlimm ist, und das meiste schon immer so war, hat mir der Philosoph Platon verdeutlicht. Kurz vor seinem Tod, im Jahr 348/347 v. Chr., verfasste er seine Bücher Nomoi über Gesetze innerhalb einer Staatstheorie. Darin heißt es:

»Der Knabe ist aber unter allen Geschöpfen das am schwierigsten zu behandelnde; denn je mehr er eine Quelle des Nachdenkens besitzt, die noch nicht die rechte Richtung erhielt, wird er hinterhältig und verschlagen und das übermütigste der Geschöpfe. Darum gilt es, durch mannigfache Zügel ihn zu bändigen.« (Nomoi, 808 de)

Platon beschreibt anarchische Jungen, grandios agierend und sozial gestört, wie es sie auch heute in vielen Schulen gibt. Wir können uns die »mannigfachen Zügel« vorstellen, die damals zur Verhinderung solcher Verläufe eingesetzt wurden. Nach dem Gesetzeslehrer Drakon heißen sie auch heute noch drakonisch, was mit nachdrücklich und unerbittlich gleichgesetzt werden kann. Gewalt- und Prügelpädagogik fand bis in die 60er-Jahre des 20. Jahrhunderts statt. Kinder wurden dadurch unterwürfig und »verschlagen« und gaben vor allem die erfahrene Gewalt weiter, wenn sie selbst die Macht besaßen. Es ist ein großes Glück, dass die meisten Eltern und Pädagogen heute anders denken und handeln.

Der weise Platon zeigt uns auf, woran das Ausufern und Grenzüberschreiten von Jungen liegen könnte. Er stellt fest: Jungen können schwierig werden, wenn sie nicht angemessen erzogen und begrenzt werden. Ist womöglich unsere Gesellschaft heute nicht ausreichend in der Lage, den Jungen Halt zu geben und ihnen Grenzen zu setzen? Sind wir eine erregte Gesellschaft, die Kinder nicht zur Ruhe kommen lässt? Fehlt es an strukturierender Väterlichkeit? Leben wir in einer grenzenlosen und verwöhnenden Gesellschaft?

Warum die notwendige ›Eingrenzung‹ nicht mit drakonischen Maßnahmen geschehen sollte, sondern mit Verständnis, Beziehung und Erziehung und ohne Medikation, darüber schreibe ich in diesem Buch. Meine Erkenntnisse beziehe ich vor allem aus praktischer Anschauung und Erleben. Seit mehr als fünfzig Jahren befasse ich mich mit Kindern als Vater, Großvater, als Pädagoge und Kinderpsychoanalytiker. Ich habe viele problematische Kinder behandelt und war therapeutischer Leiter in einem psychotherapeutischen Heim. Mit diesem Buch will ich aufzeigen, warum es Jungen heutzutage so schwer haben, anders als früher und schwerer als Mädchen, eine sichere Identität zu entwickeln und unbeschädigt durch das Leben zu kommen. Und ich möchte herausarbeiten, was dagegen, vor allem aber was unterstützend dafür getan werden kann.

Zu Beginn will ich über die Ursprünge nachdenken, die jene offensichtlichen Risikofaktoren beim männlichen Geschlecht bewirken. Der erste Bereich wird sich mit den biologischen, physiologischen und hormonellen Auswirkungen befassen, denn Geschlecht wird nicht nur durch Beziehung »konstruiert« und erschaffen, wie es oft unterstellt wird.

Es können auch Verursacher aus der Stammesgeschichte angenommen werden, die weit in die Vergangenheit des Menschen zurückreichen. Und wir kennen auch die Auswirkungen eines kollektiven Unbewussten. In ihm sind alle Menschheitserfahrungen angesiedelt, und es wird von den so genannten Archetypen strukturiert; Archetypen des Mannes werden in Märchen und Mythen beschrieben. Da gibt es etwa den Trickser, im Mythos ist es der Loki, in der Literatur der Eulenspiegel. Solche Archetypen deuten das Verhalten des Jungen aus einer besonderen Perspektive. Die entscheidenden Faktoren, die männliche Identität entstehen lassen, sind jedoch...

Blick ins Buch

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