2. Warum es schwer sein kann, Verantwortung zu teilen
Verantwortung zu übernehmen ist für viele Menschen eine große Herausforderung. Wir schauen mit Respekt, zum Teil mit Neid auf Menschen mit viel Verantwortung. Verantwortungsvolle Menschen werden in der Regel gelobt, ihnen wird Anerkennung zuteil, und man redet »in höchsten Tönen« von ihnen. »Auf den kann man sich hundertprozentig verlassen« oder »Wenn die es in die Hand nimmt, läuft es wie am Schnürchen« heißt es dann. Schon Kindern wird die Übernahme von Verantwortung schmackhaft gemacht: Haben sie ein Amt, wie das des Klassensprechers, dann steht ihr Name vorne im Klassenbuch, oder sie werden öfter aufgerufen. Später locken uns Geld oder Macht und auch immer Anerkennung und Wertschätzung, verantwortungsvollere Aufgaben zu übernehmen, privat wie beruflich. Werden wir Vorsitzender im Segelverein, ist uns Aufmerksamkeit sicher, haben wir ein Team von Mitarbeitern unter uns, klingt das beim Jahrestreffen gleich viel bedeutsamer und spannender als bei dem Schulfreund, der ›nur‹ als Sachbearbeiter tätig ist.
Obwohl man so bewundert werden könnte, überlegen sich viele von uns gut und gründlich, ob sie (mehr) Verantwortung übernehmen sollen. Denn zunächst mal ist der Schritt dazu mit mehr Anstrengung verbunden. Schon im Kindesalter wird schnell klar, dass Klassensprecher nicht nur cool ist, weil man von der Mehrheit gewählt wurde, sondern dass man in manchen Situationen nun auch Dinge tun muss, die man eigentlich nicht mag. Man muss versuchen, einen Streit zu schlichten, der einfach nicht zu schlichten ist. Man muss Dingen hinterher sein, die man ohne diesen Posten einfach liegen gelassen hätte. Das alles macht Arbeit und bringt manchmal trotzdem keine Anerkennung. Als Erwachsener überlegt man sich dann: Organisiere ich die Feier oder komme ich nur und bringe einen Kasten Bier mit? Bin ich wirklich schon bereit, Vater zu werden, oder muss ich erst noch ein bisschen erwachsener werden, mehr Sicherheiten haben? Möchte ich wirklich den beruflichen Aufstieg zum Teamleiter, wenn damit zwar ein bisschen mehr Geld auf dem Konto ist, aber gleichzeitig Zuständigkeit für mehrere Kolleginnen und Kollegen? Eigentlich immer, so merken wir im Laufe des Lebens, ist Verantwortung mit Arbeit verbunden.
Es gibt eine ganze Menge Leute, die nach dem Trägheitsprinzip für sich entscheiden: Ich übernehme nur eine kleine Menge Verantwortung. Vielleicht so viel, wie nötig ist, um ein ruhiges und angenehmes Leben zu haben. Wenig Arbeit – viel Spaß! Verantwortung übernehmen ist viel zu mühsam, ich mach’s mir lieber leicht im Leben. Da kann es manchem merkwürdig erscheinen, dass es für bestimmte Menschen viel schwerer ist, Verantwortung nicht anzunehmen, abzugeben oder zu teilen. Kann doch nicht so schwierig sein! Muss man doch nur einfach damit aufhören. Oder gar nicht erst anfangen! Übernehmen von Verantwortung ist schwer, abgeben kann doch nicht schwer sein. Oder?
Meine Erfahrung mit Patienten, Seminarteilnehmern und Coachees ist, dass es oft andersherum ist: Verantwortung abgeben, mit anderen teilen fällt vielen enorm schwer.
Ursachen dafür sind (bei jedem Menschen in unterschiedlichen Gewichtungen):
eine persönliche (sozusagen angeborene) Veranlagung, mehr Verantwortung zu übernehmen als andere
die eigene Geschichte, also Erlebnisse und Erfahrungen aus der eigenen Biographie
die Familiengeschichte, also Erlebnisse und Erfahrungen vorangegangener Generationen, sowie
gesellschaftliche Erwartungen.
Natürlich tragen auch der Beruf und die berufliche Position dazu bei, wie viel Verantwortung wir tragen. Und das wirkt sich mitunter darauf aus, wie wir auch im Privaten mit diesem Thema umgehen. So hat ein Jurist oder eine Krankenschwester ein völlig anderes berufliches Korsett, in dem er oder sie verantwortlich tätig ist, als zum Beispiel jemand mit einem hauptsächlich kreativen Beruf. Doch ist ein bestimmter Beruf, eine Position oder Hierarchiestufe nicht unbedingt die Ursache dafür, in welcher Art und Menge man Verantwortung übernimmt. Vielmehr richtet sich die Wahl des Berufes und der beruflichen Position nach den Erfahrungen, die man mit der Übernahme von Verantwortung in früheren Jahren gemacht hat oder die in der Familie üblich waren. So gibt es »Verantwortungs-Traditionen« in Familien, zum Beispiel Ärzte- oder Unternehmerfamilien, in denen sehr klar (zum Teil glasklar!) vorgelebt und erwartet wird, was man zu tun hat, wo man Verantwortung zu übernehmen hat. Nicht selten gegen ein inneres Gefühl und zum Teil unter Aufopferung / Hintanstellung von persönlichen Freiheiten und Bedürfnissen.
Verantwortung abgeben zu können bedeutet außerdem, dass wir Vertrauen haben müssen. Vertrauen, dass ein anderer (oder etwas anderes) die Verantwortung (mit) übernehmen wird – und trotzdem alles gut wird. Diese Art von Grundvertrauen haben viele Menschen, die ich berate, nicht oder nur wenig. Alle sind kluge Menschen, die viel wissen, sich engagieren, die Dinge gut verstehen und Überblick haben. Sie glauben, Verantwortung übernehmen zu müssen, weil sie sich auskennen, weil sie das Gefühl haben, gebraucht zu werden, weil sie meinen, helfen zu müssen. Und sie übernehmen sich gleichzeitig damit und muten sich zu viel zu, weil sie nicht genug Vertrauen in sich selbst haben. Verantwortung in gutem Maß mit anderen teilen können Menschen am besten, wenn sie zunächst sich selbst vertrauen. Das Vertrauen in die eigene Persönlichkeit, in die eigenen Emotionen und das eigene Tun, ist eine der wichtigsten Voraussetzungen, um anderen zu vertrauen und Verantwortung teilen zu können.
Was sind die Gründe, dass Menschen zu viel Verantwortung übernehmen und sich damit überfordern? Eigene Erfahrungen, aber auch die Erfahrungen früherer Generationen sowie gesellschaftliche Erwartungen spielen dabei eine Rolle.
2.1 Eigene Geschichte
»Luis Ziegler hat schon viel erlebt. Er war der Älteste von drei Geschwistern. In der Familie war das Geld meist knapp, aber alle strengten sich an und kamen durch. Die Ehe der Eltern war nicht unbelastet, aber meist lief es so einigermaßen. Der Vater war beruflich viel unterwegs, die Mutter war nicht mehr ins Arbeitsleben zurückgekehrt. Vor allem als die Kinder größer wurden und in die Pubertät kamen, fühlte sich die Mutter zunehmend unglücklich. Sie hatte ihren Beruf aufgegeben. Nun waren die Kinder nicht mehr zu versorgen und wurden zunehmend flügge – und frech. Die Mutter fühlte sich nutzlos und ungeliebt. Als sie dann noch ihren Mann beim Fremdgehen erwischte, verfiel sie in eine schwere Depression. Die jugendlichen Töchter und Söhne bekamen zwar etwas davon mit, konnten es aber nicht einordnen – die Mutter war einfach noch ein bisschen uncooler und nerviger als sonst. Als die Mutter eines Tages abends nicht zu Hause war, wunderte sich die Familie, denn das hatte es bislang selten gegeben – Mutter war eigentlich immer zu Hause! Die anfängliche Verwunderung wich im Laufe des Abends immer mehr der Sorge. Bis ein Anruf der Polizei eintraf: Ein Spaziergänger hatte die Mutter am Ufer eines Sees gefunden – sie hatte sich erhängt.
Die gesamte Familie stand unter Schock. Alle waren mit der Situation völlig überfordert – leider auch Luis Vater. Nachdem die nötigsten Dinge für die Beerdigung organisiert waren, war er nicht mehr in der Lage, seinen Kindern in die Augen zu schauen. Er zog aus der gemeinsamen Wohnung aus und zu seiner Freundin. Luis war 17 und ab dem Zeitpunkt für seine Geschwister verantwortlich. Er organisierte alles, sodass zumindest das Jugendamt fernblieb.
Zu mir kam Herr Ziegler, nachdem er in einem mittelständischen Unternehmen Karriere gemacht, geheiratet hatte und Vater von zwei Töchtern geworden war. In allen Bereichen war er es, der unglaublich viel Verantwortung übernahm. Als Projektmanager und Ingenieur hatte er etliche Großaufträge verantwortet und Dutzende kritische Situationen gemeistert. Er war auf der Hut, für Meetings stets bestens und genauestens vorbereitet zu sein. Im Kindergarten der Töchter übernahm er natürlich Aufgaben in der Elternvertretung, organisierte Eltern-Kind-Treffen und war als stets hilfreicher Ansprechpartner beliebt. Bei gemeinsamen Urlauben mit Freunden übernahm er die Organisation. Doch obwohl er einen großen Freundeskreis hatte, überall dabei und sicher beliebt war, fühlte er ...