1 Die Tür zum Inferno – mein Zusammenbruch in Norwegen 2006
Ich habe Todesangst. Ich fühle mich wie eine Hülle kurz vor dem Zerbersten. Es ist der 3. August 2006, ein später Donnerstagnachmittag, ich bin auf dem Weg zum Hamburger Flughafen, um einen Flieger nach Norwegen zu besteigen. Mit einer Gruppe von Journalisten aus England, Dänemark, Portugal und Russland werde ich in den nächsten Tagen auf einem Forschungsschiff von Bergen aus, der Hafenstadt am Inneren Byfjord, Richtung Norden fahren, genauer gesagt nach Trondheim. Man möchte uns über den hiesigen Fischfang informieren. Unterwegs rufe ich vom Handy meine Freundin Birgit an. Wir kennen uns seit dem gemeinsamen Skandinavistik-Studium, also seit fast zehn Jahren. Birgit stammt aus Franken, ist dreißig, hat eine makellose Haut und auch sonst alles, was ich nicht habe: eine heile Familie, einen loyalen Freund, eine Größe-36-Figur und viel Charme. Erst rauscht es in der Leitung, dann höre ich sie.
»Jesses, wieso bist du denn noch im Bus g’sessen, dein Flieger geht doch gleich?«, fragt sie.
»Ich weiß«, antworte ich, »es ging nicht schneller. Ich pack diesen Trip nicht. Aber ich kann doch jetzt nicht umdrehen?«
Sie spricht mir Mut zu: »Du schaffst das, Heide, ganz bestimmt.«
Wir beenden das Gespräch, weil ich am Flughafen Fuhlsbüttel angekommen bin. Wie in Trance bewege ich mich zum Check-in-Schalter, gehe mit meinem Rucksack durch die Pass- und Sicherheitskontrollen. Durch den vorgegebenen Ablauf komme ich nicht dazu, weiter darüber nachzudenken, ob ich umkehren soll oder nicht. Als ich dann endlich angeschnallt im Flugzeug sitze, bin ich vollkommen erschöpft, obwohl die Reise gerade erst begonnen hat. Doch das hat Gründe. Hinter mir liegt das schlimmste halbe Jahr meines Lebens. Mein Freund Philipp hat sich im Februar von mir getrennt, und seitdem gehe ich durch die Hölle. Das Schreckliche ist, dass es jetzt, gut sechs Monate später, jeden Tag noch genauso schmerzt wie am ersten Tag. Es fühlt sich an, als hätte man einen Teil von mir herausgerissen. Ich heule permanent: nach dem Aufwachen, auf der Toilette im Büro, beim Einkaufen im Supermarkt, auf dem Weg zum Sport und vor dem Einschlafen. Jeden Morgen schreibe ich in mein Tagebuch: »Ich kann nicht mehr«, und jeden Abend: »Ich will nicht mehr.« Philipp liebt mich nicht mehr, ich kann das einfach nicht begreifen, und ich vermisse ihn so sehr, dass es mich körperlich zerreißt.
Seit April gehe ich einmal in der Woche zur Psychotherapie bei Dr. Levi, einem ausgewiesenen Experten für Depressionen, der gleichzeitig Psychiater ist. Ich nehme Beruhigungs- und Schlafmittel sowie Antidepressiva – doch der Trennungsschmerz quält mich weiterhin. Ständig. Nie wieder werde ich mit Philipp schlafen, nie wieder werden wir spazieren gehen, nie wieder werden wir zusammen essen. Das »Nie mehr« kann ich nicht ertragen. Immer noch bin ich davon überzeugt, dass er der Mann meines Lebens ist und ich ohne ihn nicht leben kann.
In den ersten Wochen lag ich nur zu Hause im Schlafzimmer und weinte. In dem Versuch, etwas an meiner Situation zu ändern, besorgte ich mir ein neues Bett, ein schmales – ich hielt »unser« breites Bett nicht mehr aus. Es nützte nichts. Ich starrte weiterhin durch die Türöffnung auf den hellblau gestrichenen Flur mit dem dunklen Holzfußboden. Stundenlang. In den letzten Wochen habe ich alles versucht, was Trennungsratgeber empfehlen und Antidepressiva möglich machen: Ich stürzte mich in die Arbeit, verabredete mich mit Freunden, ging viel zum Sport und kaufte mir neue Stiefel. Auch all das hat nicht geholfen. Im Gegenteil: Es wurde immer schlimmer. So schlimm, dass ich inzwischen jeden Tag überlege, wie ich mich umbringen kann. Ich fing an, im Internet zu recherchieren, wie ein Selbstmord am schmerzfreiesten zu realisieren ist. Für mich ist klar: Selbst wenn die Qualen in drei Monaten weniger werden sollten, bis dahin würde ich es nicht überleben.
Wir landen. Ich fühle mich gefangen wie in einem düsteren Albtraum, dabei ist draußen strahlendes Wetter. Das ist nicht selbstverständlich. Bergen gilt mit rund 250 Tagen Niederschlag im Jahr als die regenreichste Stadt Europas. Jetzt, am frühen Abend, sind es immer noch dreißig Grad Celsius. Ich steige in ein Taxi, und wir kommen am Hafen vorbei, die alten Holzkontore der Hansezeit am Bryggen leuchten in der Sonne in Rot, Gelb und Weiß. Ich registriere es, kann mich aber nicht an diesem schönen Bild erfreuen.
Im Hotel angelangt, checke ich ein, nehme meinen Zimmerschlüssel in Empfang und will nur noch meine Ruhe. Meinen Rucksack packe ich nicht aus, sondern werfe mich sofort weinend aufs Bett. Es tut so weh, dass ich Philipp nicht mehr anrufen kann, um ihm zu sagen, dass ich gut an Norwegens Westküste gelandet bin.
Wie üblich schlafe ich schlecht, und am nächsten Morgen wache ich ganz zerschlagen auf. Da wir uns erst mittags an dem Forschungsschiff treffen, reicht die Zeit noch, um über den Markt im Zentrum der Stadt zu laufen. Dort höre ich sehr viel Deutsch und beobachte einen Hund meiner Lieblingsrasse, einen schwarz-weißen Landseer. Ich versuche mich abzulenken, doch es gelingt mir nicht. Auch wie immer.
Nach dem kurzen Stadtrundgang mache ich mich mit meinem Rucksack auf den Weg zum Boot. Der Horror trifft mich mit voller Wucht, als wir uns um zwölf Uhr vor der Johan Hjort treffen, die Pressefrau vom Institut für Meeresforschung, der leitende Wissenschaftler dieser Einrichtung, der Leiter des staatlichen Direktorats für Fischerei, die Journalisten aus den anderen Ländern und ich. Gedanken wie: Keiner darf merken, dass ich total neben mir stehe und auf der Stelle in Tränen ausbrechen könnte, hämmern auf mich ein. O Gott, ich bin hier, um zu arbeiten. Wie soll ich das nur bewältigen? Um meiner Hilflosigkeit zu entkommen, leihe ich mir einen Stift und einen Zettel und notiere einiges, etwa dass der russische Kollege aussieht wie der Böse in einem James-Bond-Film. Natürlich soll ich nicht über die anderen Journalisten, sondern über den Fischfang vor Norwegen schreiben. Aber wer weiß, so ermutige ich mich selbst, nebensächlichste Eindrücke können beim Verfassen eines Artikels auf einmal wichtig werden.
Danach gebe ich reihum allen die Hand und stelle mich etwas verspätet vor, auf Englisch und auf Schwedisch: »Hello, my name is Heide Fuhljahn, I’m coming from Germany – hej, jag heter Heide, jag kommer från Tyskland.« Die Norweger antworten sehr herzlich: »Hei Heide, velkommen.« Dass ich sie auf Schwedisch begrüße, wird von ihnen begeistert registriert. Die skandinavischen Sprachen ähneln sich, und jeder Ausländer, der eine der Sprachen kann, wird interessiert aufgenommen. Daher komme ich schnell mit allen in Kontakt. Scheinbar ein guter Start. Doch nur nach außen hin ist alles in Ordnung – innerlich plagt mich weiterhin das Gefühl, gleich sterben zu müssen. Das verstärkt sich sogar noch, als wir nach der Begrüßung an Bord gehen, unsere Kajüten beziehen, das Schiff den Hafen von Bergen verlässt und der erste Vortrag auf unserem Zeitplan steht. Denn da wird alles auf Englisch erklärt. Ich verstehe kaum ein Wort, obwohl mein Englisch ganz gut ist. Aber nicht, wenn es um Fischfang geht, um seine wissenschaftlichen, sozialen und politischen Dimensionen. Noch heute weiß ich, dass immer wieder drei Buchstaben genannt wurden: IUU. Damals war mir diese Abkürzung fremd, sie steht für »illegal, unreported and unregulated fishing«, was so viel heißt wie »illegales, nicht reguliertes, nicht gemeldetes Fischen«.
Mit steigender Panik höre ich zu. Da ich nach meiner Ausbildung erst seit einem Jahr als Journalistin arbeite, bin ich längst nicht so routiniert wie die anderen. Ich will alles richtig machen und schreibe deshalb hektisch in einem lautschriftlichen Englisch mit. Zum Glück habe ich in einer Pause in einem kleinen Nebenraum einen Computer mit Internetzugang entdeckt, den wir benutzen dürfen. Meine Rettung. Unter www.leo.org suche ich die passenden Übersetzungen für die Lautschriften. Cod ist also Kabeljau (auf meinem Block steht »kodd«), und der ist, so erfahre ich, dramatisch überfischt.
Trotz dieser Hilfe habe ich jede Sekunde Angst, das Entscheidende zu verpassen. Ich versuche interessiert auszuschauen, fühle mich in meinem Innern aber wie eine Blenderin. Ich kann nicht sehen, dass ich mit meinen zweiunddreißig Jahren deutlich die Jüngste in der Gruppe bin. Das hätte mich beruhigen können, auch dass ich keine Expertin bin, was das Thema Fischfang betrifft. Doch in meinem Kopf trommelt wie eine Pauke nur die eine Erkenntnis: Zweifellos bist du die Falsche für einen fundierten Artikel über die Fangsituation vor Norwegen! Doch genau den soll ich liefern, und zwar schon in der nächsten Woche.
Endlich sind die Vorträge beendet, wir haben frei. Die Gruppe zerstreut sich, einige gehen zurück in ihre Kajüte, andere schauen sich die Brücke an oder rauchen draußen an der Reling eine Zigarette. Ich stehe ebenfalls dort, rauche aber nicht, sondern weine um meine verlorene Beziehung. Von einem Elend gerate ich ins nächste. Auch wenn ich es abstellen möchte, es gelingt mir nicht. Die zerstörerischen Bilder tauchen unweigerlich in meinem Kopf auf und lassen sich nicht verdrängen: Philipp hat eine neue Freundin. Es fühlt sich an, als würde mir jemand ein Messer im Bauch umdrehen. Trotzdem funktioniere ich noch irgendwie. Ich ermahne mich: Reiß dich zusammen! Dann wische ich meine Tränen weg und erkunde das Schiff. Es ist fünfundsechzig Meter lang, recht neu, von 1990, und hat mehrere...