Demokratie – Ein Plädoyer für »die schlechteste aller Regierungsformen«
Müssen wirklich immer alle mitreden?
Wann, wie und wo der Bus zur Arbeit fährt, ob ein Windrad direkt vor dem eigenen Garten steht, wie viel vom Gehalt übrig bleibt, ob die eigenen Eltern mit der Rente gut auskommen und die Leute vom Pflegedienst noch fünf Minuten Zeit für einen kleinen Plausch haben, wie oft die Familie in den Urlaub fährt – all das ist in irgendeiner Form Politik. Sie betrifft jeden, ob man will oder nicht.
Bei einer Rede im Unterhaus sagte der englische Staatsmann Winston Churchill am 11. November 1947: »Die Demokratie ist die schlechteste aller Regierungsformen – abgesehen von all den anderen Formen, die von Zeit zu Zeit ausprobiert worden sind.« Natürlich ist es leicht, Demokratie aufwändig und ineffektiv zu finden. Ist sie ja auch. Aber was wären die Alternativen? König, Kaiser, Diktator, Kommunismus, Anarchie. Nichts davon scheint bei näherer Betrachtung sonderlich verlockend. Es gibt offensichtlich gute Gründe, warum immer mehr Länder weltweit auf Demokratie umstellen. Sie ist die attraktivste aller Regierungsformen. Zumindest aber das kleinste Übel. Wählen zu gehen, mag uns oft lästig sein. Auch ich marschiere manchmal eher lustlos in das Wahllokal in der Grundschule nebenan, um meiner Bürgerpflicht bei irgendeiner Kommunalwahl nachzukommen. Aber dann werde ich in unserer Sendung wieder damit konfrontiert, dass anderswo Menschen bereit sind, für ein freies Wahlrecht zu sterben. Grausame Folter und sogar den Tod zu riskieren. Nur um wählen gehen zu dürfen. Das muss man sich vorstellen, in aller Konsequenz – da stellen sich einem die Nackenhaare hoch. Mir geht das jedenfalls so. Und so lange ist es auch noch nicht her, dass hier in Deutschland viele mutige Menschen jeden Montag auf die Straße gingen, weil sie wählen, reisen, frei sein wollten. Man vergisst das schnell, im demokratischen Alltag. Übrigens: Auch die Freiheit, nicht wählen zu gehen und über Politik nur laut zu meckern, ist ja eine kostbare Freiheit und keine Selbstverständlichkeit. Wenn ich dann wieder Bilder sehe, wie Demonstranten niedergeprügelt und verschleppt werden, nur weil sie es wagen, faire und freie Wahlen einzufordern, dann empfinde ich manchmal durchaus Dankbarkeit. So viele Selbstverständlichkeiten, die wir hinnehmen: Vor die Tür gehen zu können, ohne Angst zu haben, dass man abgeführt wird, weil man am Abend vorher in der Kneipe das große Wort geführt hat gegen »die da oben«. Oder tagtäglich über süffige Karikaturen in der Tageszeitung hinwegzublättern. Selbstverständlich? Historisch nicht – und, betrachtet man die Welt als Ganzes, auch heute nicht. So gesehen leben wir auf einer Insel der Seligen in einem Meer der Verdammten. Was uns nicht daran hindert, regelmäßig den Untergang des Abendlandes zu predigen. Gelegentlich wundert man sich ja fast, dass unser Staatswesen nicht längst zusammengebrochen ist angesichts der vielfach angeprangerten, katastrophalen Zustände, in denen wir leben. Persönlich muss ich gestehen: Je mehr ich um die Welt gereist bin, umso angenehmer finde ich meine eigene Heimat. Das sollte man natürlich nicht zu laut sagen. Weil es auch zur Demokratie gehört, die Regierenden und »das System« immer und überall zu kritisieren, auf dass bloß keiner übermütig wird. Denn Dankbarkeit ist in der Demokratie keine politische Kategorie. Unzufriedenheit ist der Motor, der sie am Laufen hält. Was wäre die Republik ohne ihre Wutbürger?
Auch Nichtwählen ist eine Wahl
Außerdem besteht Politik nicht nur aus Wahlkampf oder den Gesetzen, die aus Berlin oder Brüssel kommen. Politik ist auch, wie diese Gesetze gemacht werden und wer darauf Einfluss nimmt. Politik ist, Leserbriefe an die Zeitung zu schreiben, eine E-Mail an den Bürgerschaftsabgeordneten. Mit Freunden oder Kollegen zu diskutieren, eine Petition zu unterschreiben oder sich vielleicht sogar selbst wählen zu lassen.
Nun kann man natürlich sagen: Schön und gut, aber letztlich ist mir das ziemlich egal – ich werde gern regiert! Oder: Ich kann sowieso nichts ändern. Aber Politik beziehungsweise der Staat sind wir alle. Ob man will oder nicht. Denn auch Nichtwählen ist eine Wahl (nämlich die, sich der Mehrheit anzuschließen, egal, wie sie ausfällt).
Was an der Demokratie besonders kritisiert wird, sind zum einen die Parteien und zum anderen, dass alles umso schwieriger wird, je mehr mitreden. Immer diese Konsenssoße, die entsteht, wenn viele Köche im Brei herumrühren! Wäre es nicht manchmal besser für alle, wenn ein »guter Herrscher« regieren würde, der endlich »straight« die richtigen Dinge durchsetzen kann? Das hört man bei Umfragen tatsächlich. Gerade in Zeiten, in denen die politischen Parteien viel streiten und taktieren, kommt bei erstaunlich vielen Leuten gerne mal der Wunsch nach einem »starken Führer« auf. Man könne den ja wieder abwählen, wenn er doch nicht so gut ist wie erhofft. Fragt sich nur, wer entscheidet, was für alle gut ist? Gibt es die eine objektive Wahrheit? Wer glaubt, einen göttlichen Willen auszuführen, wird das zweifellos bejahen. Weshalb es in sogenannten theokratisch regierten Staaten, in denen Staat und Religion nicht getrennt sind, mit Meinungsvielfalt und Minderheitenschutz nicht weit her ist. Der absolute Glaube an eine bestimmte Religion oder eine bestimmte Ideologie senkt logischerweise die Toleranzgrenze gegenüber Andersdenkenden. Wenn sich das mit absoluter politischer Macht paart, wird’s im Staate schnell ziemlich ungemütlich.
Grau, sagt man, ist alle Theorie – muss aber nicht sein. Als ich vor vielen Jahren (so genau wollen wir es jetzt nicht wissen) ein Studienjahr in England absolvierte und dort einen Kurs in Politischer Philosophie besuchte, betrat unser Professor den Seminarraum, setzte sich, lächelte freundlich in die Runde und zündete sich dann eine Zigarre an. Schweigend. Das zog sich hin, während sich die Rauchschwaden ausbreiteten und wir ihn irritiert anstarrten. Irgendwann ergriff er schließlich das Wort und sagte: »Heute wollen wir über John Stuart Mill und sein Buch über die Freiheit reden. Ich fühle mich gerade sehr frei. Und Sie?« Und schon waren wir mittendrin in einer Diskussion über den Liberalismus und seine Grenzen. Grau war das nicht. Es roch nur streng.
Wer auf Anhieb definieren kann, wo die Unterschiede liegen zwischen Sozialismus und Kommunismus, zwischen konstitutioneller und parlamentarischer Monarchie, zwischen autoritärem und totalitärem Regime, und wem auch John Stuart Mill oder Montesquieu aus der Schulzeit noch bestens vertraut sind, der kann jetzt weiterblättern. Für alle anderen kommt ein Schnellkurs zu den wichtigsten politischen Begriffen, die man im Zweifelsfall irgendwie »kennt«, aber so genau vielleicht doch wieder nicht.
Politik ist das Ziel und der Weg dorthin
Zunächst ein Blick auf den Begriff Politik: Das griechische Wort polis bedeutet Stadt oder Gemeinschaft – und mit Politik meint man in der Gegenwart ein überlegtes, gezieltes Verhalten innerhalb einer Gesellschaft. Selbst in einer Familie oder unter Freunden gibt es also politische Vorgänge – zum Beispiel, wenn es darum geht, was man am Wochenende unternimmt, ob man ins Kino geht oder doch lieber ins Freibad. Bei der Frage, ob und wie darüber abgestimmt wird und ob alle das gleiche Stimmrecht haben, ist man schon mittendrin in der Politik.
Politik beschäftigt sich gleichzeitig mit den Inhalten (was will ich), mit dem Weg dorthin (wie setze ich es durch) und mit dem Rahmen, in dem das alles stattfindet. Im Rechtsstaat besteht dieser Rahmen aus Gesetzen, Gerichten und Staatsorganen, auf deren Redlichkeit man sich verlassen können muss. Und hier kommt die Demokratie ins Spiel, die Abstimmungsregeln. Die Bundesverfassungsrichter beispielsweise müssen sich nicht etwa einig sein, sondern nur eine Mehrheitsentscheidung erreichen. Aber Mehrheiten allein reichen im Rechtsstaat nicht. Sonst könnte man ja auch mehrheitlich beschließen, den Rechtsstaat abzuschaffen. Deshalb ist die Verfassung, das Grundgesetz, als höchste Ebene der demokratischen Spielregeln, besonders geschützt. Grundrechte (wie zum Beispiel das Recht auf Meinungsfreiheit) dürfen nicht abgeschafft werden, auch nicht mit großer Mehrheit. Und Gesetze müssen der Verfassung entsprechen. Dass diese Grundkonstellation häufig zu hochkomplizierten Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht führt, mag einem gelegentlich lästig erscheinen. Aber das Komplizierte ist hier eben auch ein Wert an sich, weil sehr viele unterschiedliche Interessen und Aspekte in ein Urteil einfließen. So schön einfach wie bei den alten Griechen ist es in modernen Staaten nun mal nicht mehr.
Das Wort Demokratie kommt ebenfalls aus dem Griechischen: Demos ist das Volk, kratia bedeutet Herrschaft. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, eine Volksherrschaft umzusetzen. Deutschland ist eine repräsentative Demokratie, in der Politiker vom Volk gewählt werden. Sie sollen die Bürger für einige Zeit (meist vier Jahre) vertreten, sprich repräsentieren. Wir stimmen nicht direkt über die einzelnen Gesetze oder Entscheidungen ab, sondern beauftragen andere, das für uns zu tun. Die direkte Demokratie in Form von landesweiten Volksabstimmungen (wie sie zum Beispiel in der Schweiz abgehalten werden) ist im politischen System Deutschlands kaum vorgesehen, jedenfalls für die Bundespolitik (Ausnahme: Bei einer Neugliederung des Bundesgebietes wäre eine Volksabstimmung notwendig). Nur in den einzelnen Bundesländern und Kommunen finden...