EINLEITUNG:
DAS EXPERIMENTIERFELD DER GESCHICHTE
Unter dem Eindruck des Zusammenbruchs der sozialistischen Systeme Ende der 80er-Jahre war für viele Menschen weltweit die Überlegenheit der Marktwirtschaft offensichtlich. Dennoch haben sich latent oder offen antikapitalistische Ressentiments gehalten, die seit dem Ausbruch der Finanzkrise 2008 wieder erheblich an Zustimmung gewonnen haben. Politik, Medien und Intellektuelle sind sich in der Deutung dieser Krise weitgehend einig: Der Markt oder der Kapitalismus habe versagt, wir bräuchten deshalb mehr Staat.
Dieses Buch entstand aus Sorge darüber, dass wir vergessen, was die Basis unseres wirtschaftlichen Wohlstandes ist. Das Wort »Kapitalismus« weckt bei den meisten Menschen negative Assoziationen. Dies war auch schon vor der Finanzkrise so, aber inzwischen sind Verfechter einer konsequent marktwirtschaftlichen Orientierung immer mehr in die Defensive geraten und werden als »Marktradikale« denunziert.
Es gibt in der modernen Zeit grundsätzlich zwei Möglichkeiten, eine Wirtschaft zu organisieren: Im ersten Fall gibt es kein Privateigentum an Produktionsmitteln sowie Grund und Boden, sondern nur Staatseigentum. In Planungsbehörden wird festgelegt, was in welcher Menge produziert wird. Im zweiten Fall ist das Privateigentum garantiert und die Unternehmer produzieren im Rahmen einer rechtlichen Ordnung jene Güter, von denen sie glauben, dass die Konsumenten sie brauchen. Die Preise geben ihnen die Informationen darüber, ob sie mit ihrer Annahme richtiglagen, also ob sie das Richtige in der richtigen Menge produziert haben. Das erste System nennt man Sozialismus, das zweite Marktwirtschaft oder Kapitalismus. Ich verwende beide Begriffe synonym, spreche aber vom »Kapitalismus«, weil sich heute auch Gegner der Marktwirtschaft verbal zu ihr bekennen, in Wahrheit aber Mischsysteme meinen, die sie als »soziale« oder »ökologische« Marktwirtschaft bezeichnen.
Tatsächlich existiert in der Realität keines dieser Systeme – Kapitalismus oder Sozialismus – in Reinkultur. Selbst in sozialistischen Staaten wie der DDR oder sogar in Nordkorea gab oder gibt es neben dem Staatsauch Privateigentum und neben dem alles dominierenden Plan Elemente von Marktwirtschaft, legal oder illegal. Ohne diese Marktelemente hätte die Wirtschaft in diesen Ländern noch schlechter oder gar nicht mehr funktioniert. Zwar gibt es in sozialistischen Staaten dem Namen nach auch »Preise«, doch diese haben eine ganz andere Funktion als in einer Marktwirtschaft. Letztlich haben diese Pseudopreise mehr Ähnlichkeit mit Steuern, wie der Ökonom Zhang Weiying bemerkt.1
In den kapitalistischen Ländern existiert neben dem Privat- auch Staatseigentum und der Staat greift regulierend in die Wirtschaft ein oder verteilt durch Steuern die erzielten Erträge um, indem er den Reichen Geld wegnimmt und dies an die Mittelschicht oder die Ärmeren verteilt. Das kann sehr starke Ausmaße annehmen, wie etwa in den 70er- und 80er-Jahren in Schweden. Am Beispiel von Großbritannien werden wir sehen, wie schlecht eine Wirtschaft funktioniert, wenn der staatliche Anteil zu groß wird, und dass eine Voraussetzung für mehr Wohlstand ist, den Staat wieder in seine Schranken zu verweisen.
Der »reine Kapitalismus« existiert in keinem der Länder, die in diesem Buch dargestellt werden. Entscheidend ist das Mischungsverhältnis, also die Frage, wie stark die Rolle des Staates ist und wie viel Freiheit dem Unternehmer eingeräumt wird. Die These des Buches: Wird der Kapitalismus-Anteil in einer Wirtschaft erhöht, so wie das etwa in den letzten Jahrzehnten in China geschah, dann führt das in der Regel zu mehr Wachstum und der Mehrheit der Menschen geht es damit besser.
Es gibt viele Bücher, die theoretisch die Überlegenheit der einen oder der anderen Wirtschaftsordnung beweisen wollen. Dieses Buch ist kein theoretisches Werk, sondern ein anschauliches Buch zur Wirtschaftsgeschichte. Der Kapitalismus ist, anders als der Sozialismus, kein von Intellektuellen erdachtes System, sondern eine Wirtschaftsordnung, die sich evolutionär entwickelt hat, so wie sich Tiere und Pflanzen in der Natur entwickelt haben und weiterentwickeln, ohne dass es dafür eines zentralen, lenkenden Planes oder einer Theorie bedürfte. Eine der wichtigsten Erkenntnisse, die der Ökonom und Philosoph Friedrich August von Hayek hervorgehoben hat, lautet, der Ursprung von funktionierenden Institutionen liege »nicht in Erfindung oder Planung, sondern im Überleben der Erfolgreichen«2, wobei »die Auswahl durch Nachahmung der erfolgreichen Institutionen und Bräuche«3 erfolge.
Der größte Irrtum, der Sozialisten jeglicher Spielart mit den führenden Männern und Frauen der Zentralbanken vereint, ist die Überzeugung, dass einige dazu berufene Meisterdenker und -lenker (regelmäßig solche, die im Staatsdienst stehen) klüger seien und besser wüssten, was für die Menschen gut sei, als die Millionen Unternehmer, Investoren und Konsumenten, deren Einzelentscheidungen in der Summe denen einer Planbehörde, einer Zentralbank oder einer anderen staatlichen Lenkungsstelle überlegen sind.
Daher ist es nur von beschränktem Erfolg, wenn versucht wird, ein solches Marktsystem »von oben« zu verordnen, obwohl es ohne Impulse von Politikern naturgemäß auch nicht geht. Am Beispiel Chinas werden wir sehen, dass der Kapitalismus seine Kraft dort gerade deshalb entfaltete, weil er »von unten« wuchs und sich durchsetzte – was freilich ohne die Duldung von »oben«, also durch Politiker wie Deng Xiaoping, nicht möglich gewesen wäre. Deng und die anderen Reformer waren so klug, sich nicht ein neues, ideales System auszudenken, sondern erstens spontanen Entwicklungen in den Weiten dieses großen Landes ihren Lauf zu lassen, statt sie zu verbieten oder zu behindern, und sich zweitens in vielen Ländern umzuschauen, um in Augenschein zu nehmen, was dort funktioniert und was nicht – und dies dann im eigenen Land auszuprobieren.
Mein Ansatz in diesem Buch ist ebenfalls, einfach zu schauen, was funktioniert hat und was nicht. Ich vergleiche Länder, die man ganz gut vergleichen kann, weil sie die gleiche oder eine in vielen Punkten ähnliche Geschichte und Kultur haben: Nord- und Südkorea, die DDR und die Bundesrepublik Deutschland, Venezuela und Chile. Dieses Buch zeigt darüber hinaus, wie der Vormarsch des Kapitalismus und der Rückzug des Sozialismus in China aus einem bettelarmen Land, in dem noch vor 60 Jahren Dutzende Millionen verhungerten, die größte Exportnation der Welt machten, in der niemand mehr hungern muss.
Linke Kapitalismus- und Globalisierungsgegner glauben, der Kapitalismus sei das Problem, das zu Hunger und Armut auf der Welt führe. Am Beispiel Afrikas wird gezeigt, dass das Gegenteil richtig ist: Der Kapitalismus ist nicht das Problem, sondern die Lösung. Mehr Kapitalismus hilft Afrika wirksamer als mehr Entwicklungshilfe. Untersuchungen belegen, dass die Armut in jenen Entwicklungsländern, die stärker marktwirtschaftlich orientiert sind, nur 2,7 Prozent beträgt, in wirtschaftlich unfreien Entwicklungsländern dagegen 41,5 Prozent.4
In der Regel bedeutet mehr Staat weniger Zunahme an Wohlstand und manchmal sogar einen absoluten Rückgang des Wohlstandes für eine Gesellschaft. Mehr Kapitalismus führt zu einer schnelleren Zunahme des Wohlstandes für die meisten Menschen. Das wird unter anderem am Beispiel der kapitalistischen Länder England und USA belegt, wo in den 80er-Jahren die überzeugten Marktwirtschaftler Margaret Thatcher und Ronald Reagan den Staat aus der Wirtschaft zurückgedrängt und mehr Kapitalismus gewagt haben. Nach diesen Reformen ging es beiden Ländern wesentlich besser als davor. Manchmal ist es wichtig, einen ausufernden Wohlfahrtsstaat wieder deutlich zu stutzen, wie am Beispiel Schwedens in Kapitel 7 gezeigt wird.
All dies sind praktische Experimente aus den vergangenen 70 Jahren. Obwohl der Ausgang der Experimente immer wieder in die gleiche Richtung gewiesen hat – mehr Kapitalismus bedeutet mehr Wohlstand –, scheint die Lernfähigkeit der Menschen begrenzt. Der deutsche Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel meinte in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte: »Was die Erfahrung aber und die Geschichte lehren, ist dies, dass Völker und Regierungen niemals etwas aus der Geschichte gelernt und nach Lehren, die aus derselben zu ziehen gewesen wären, gehandelt haben.«5
Vielleicht ist dieses Urteil zu streng. Aber in der Tat sind die meisten Menschen nicht in der Lage, bestimmte historische Erfahrungen zu verallgemeinern. Aus den mannigfachen Beispielen, wo mehr Kapitalismus zu mehr Wohlstand führte (neben den in diesem Buch aufgeführten gäbe es etliche weitere, so etwa das Beispiel Indiens), wollen viele Menschen nicht die naheliegenden Lehren ziehen, ebenso wenig wie aus dem Scheitern aller jemals auf der Welt probierten Varianten des Sozialismus.
Auch nach dem Zusammenbruch der meisten sozialistischen Systeme Anfang der 90er-Jahre wird regelmäßig erneut irgendwo auf der Welt versucht, die sozialistischen Ideale umzusetzen. »Dieses Mal« soll es besser gemacht werden. Zuletzt geschah das in Venezuela und wieder einmal waren viele Intellektuelle in den westlichen Ländern wie den USA oder Deutschland verzückt von dem Experiment, den »Sozialismus im 21. Jahrhundert« zu verwirklichen.6 Die Folgen des Experiments waren – so wie bei anderen vorangegangenen sozialistischen Großversuchen – katastrophal.
Sogar in den USA träumen...