Der Krampf
Frauen, die für immer verschwinden,
Gretchenfragen statt Hänschenfragen,
große deutsche Sorgen und etliche Tretminen
Ständig finden Forscher neue Dinge über berufstätige Mütter heraus. Mal sind sie glücklicher, mal unglücklicher, mal schlauer, mal doofer, mal dünner, mal dicker, mal haben sie mehr Sex, mal mehr Migräne, nur eins sind sie garantiert nie: normal.
In Deutschland gehen zwei Drittel aller berufstätigen Frauen nach der Geburt ihres ersten Kindes in Elternzeit. Nicht mal die Hälfte davon kommt zurück. Und drei Viertel von dieser Hälfte arbeitet dann in Teilzeitjobs, Minijobs und mit dem bloßen Auge kaum zu erkennenden Jobs. Obwohl wir fast die wenigsten Kinder weltweit haben und bessere Ausbildungen als jeder Mann, sind erfolgreich und zufrieden arbeitende Mütter in Deutschland ungefähr so selten wie ein Wiedehopf, der, so viel sei Nicht-Ornithologen gesagt, hierzulande unter Artenschutz steht.
Dieses rätselhafte Missverhältnis hat viele Gründe. Zum einen reichen sich ein aberwitzig rückständiges Kinderbetreuungs-Angebot, ein bemerkenswert antiquiertes Schulsystem und eine widersprüchliche staatliche Unterstützung nirgends so schön die Hand wie hierzulande. Zum anderen sorgt ein Mutterbild von anno dazumal, dass alles so bleibt, wie es ist. Natürlich sind wir neidisch darauf, wie locker Mütter in manchen anderen Ländern das Muttersein nehmen. Und darauf, dass wir uns hier beim Spagat zwischen Job und Kind so verrenken, dass wir eigentlich permanente chiropraktische Behandlung brauchten, während französische, englische, schwedische, norwegische oder finnische Mütter anscheinend nicht mal einen kleinen Ausfallschritt machen müssen. Hat das zur Folge, dass wir uns was von denen abgucken? Pfft! Jeder weiß, dass deren Erziehungsmethoden zu nichts Rechtem führen. Muss man sich ja nur mal anschauen, wie gedrillt die fremd betreuten Nicks und Amelies sind! Wie blass und ungesund die armen Ganztagsschul-Tommys! Und die bedauernswerten kleinen Schweden, Norweger und Finnen, die mögen ja im Lesen und Schreiben Granaten sein, aber haben die je ein von Mutterhand zubereitetes Tofuschnitzel bekommen?
German Angst nennt man im Ausland die einzigartige deutsche Fähigkeit, Probleme zu finden, wo keine sind, und durchzudrehen, wenn irgendwas nicht perfekt sein könnte. Selbst an Tagen, an denen alles wie am Schnürchen läuft, schwant uns Furchtbares. Deutet das friedliche Nuckeln des Säuglings vielleicht auf ein Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom hin? Spricht die Eins in Mathe dafür, dass das Kind ein Autist ist? Ist der Zahnstein des Teenagers ein Hinweis auf Crystal-Meth-Konsum? Wer die elterliche Sorgepflicht hierzulande wörtlich nimmt, darf nichts, aber auch gar nichts auf die leichte Schulter nehmen!
Eine zweite unnachahmlich deutsche Eigenschaft ist die German Gründlichkeit – auch in Sachen Kind. Unter perfekter Kinderpflege mögen manche ausländischen Mütter schon den Umstand feiern, dass das Kind abends noch lebt. Wir wissen, dass Kinder rund um die Uhr pädagogisch wertvoll, lückenlos konsequent und biologisch einwandfrei bespielt, erzogen und ernährt werden müssen. Unter professioneller Aufsicht natürlich, was nur heißen kann: von uns aufopferungswilligen Müttern selbst.
Damit kommen wir flugs zur dritten Eigenschaft, die wenige so vorbildlich beherrschen wie Deutsche: Jammern. Um der öffentlichen Steinigung vorzubeugen: Viele berufstätige Mütter haben gute Gründe zu jammern. Dazu später. Das Dumme: Viele jammern lieber, als was zu ändern. Oder jammern an die falsche Adresse hin. Einmal bekam ich ein Telefonat mit, in dem eine Freiberuflerin einem Auftraggeber gegenüber aufzählte, zu welchen Zeiten sie keinesfalls arbeiten könne, und haarklein alle dem Auftrag im Weg stehenden mütterlichen Lasten erläuterte. Schon beim beiläufigen Zuhören hyperventilierte ich. Der Auftraggeber musste nach dem Telefonat vermutlich künstlich beatmet werden. Den Job bekam die Freiberuflerin jedenfalls nicht. Den nächsten wahrscheinlich auch nicht. Macht nichts, dafür wäre ja auch gar keine Zeit!
Die deutsche Mutti ist einfach die beste! Wir bringen unsere Männer dazu, zwei Monate Elternzeit zu nehmen, und stehen dann mit Türsteher-Blick hinter ihnen am Wickeltisch. Wir treffen Ex-Kollegen zum Lunch und plaudern mit ihnen über Einschlafrituale und grüngelben Stuhl. Wir fahnden nach der perfekten Tagesmutter und weinen bittere Tränen, wenn auch das Kind sie mag. Wir lästern über mütterliche Überfunktionen und backen nächtens designpreisverdächtige Schulfest-Muffins. Wir heuern eine Putzkraft an und fühlen uns deswegen so schlecht, dass wir die Wohnung vorputzen und nachputzen. Wir geben Gas, bremsen gleichzeitig und wundern uns, wenn außer viel Schall und Rauch nichts dabei herumkommt.
Natürlich darf man nicht alle berufstätigen Mütter in einen Topf werfen, wenn man nicht will, dass dieser einem mit Hochdruck um die Ohren fliegt. Manche Mütter müssen arbeiten, weil das Gehalt ihres Mannes nicht reicht oder sie keinen Mann haben oder einen, der kein Gehalt hat. Manche Mütter wollen arbeiten, obwohl das Gehalt ihres Mannes reicht. Manche Mütter müssen arbeiten, obwohl das Gehalt ihres Mannes reicht, weil sie selbst einen wichtigen Posten oder ein eigenes Unternehmen haben. Solche Feinheiten darf man in Deutschland keinesfalls unterbewerten. »Musst du arbeiten? Oder willst du?«, ist die Gretchenfrage, die jede deutsche Mutter gestellt bekommt, wenn sie arbeitet. Kein Mann muss Hänschenfragen beantworten. Und auch meine englische Schwägerin fiel neulich aus allen Wolken, als sie bei einem Deutschlandbesuch gefragt wurde, ob sie nach sechs Monaten Elternzeit aus freien Stücken in ihre eigene Anwaltskanzlei zurückkehrt.
Manche Mütter müssen oder wollen arbeiten, können aber nicht, weil der Kitaplatz so teuer ist, dass sie graue Haare bekommen. Oder erst frei wird, wenn ihre Kinder graue Haare bekommen. Manche Mütter arbeiten von neun bis fünf, um die Miete zusammenzukratzen, manche halbtags, um sich den neuen Cardigan von Marc Jacobs zu geben. Manche Mütter haben eine tolle oder wenigstens mitteltolle Oma vor Ort. Manche drei Montessori-Waldkindergärten mit Ganztagsbetreuung, manche eine Babysitterin, die zwischen 10 und 14 Uhr kann und nach kaltem Rauch und 4711 riecht. Manche haben zwei zickige Söhne, manche eine maulfaule Tochter. Oder umgekehrt. Manche leben in fröhlicher Scheidung, manche in wirrem Patchwork, manche in einer Ehe, die härter als eine sibirische Kleinstadt ist. Manche Mütter wuppen sieben Kinder, einen Ministerposten und zig Ehrenämter, andere gehen keuchend zu Boden, wenn sie ein Oberstufenkind, einen Achteltagsjob und die Fußnagelpflege vereinbaren sollen.
Alle diese unterschiedlichen Mütter vereint nicht nur ein zartes Band gegenseitiger Missgunst und Rivalität, sondern auch das Gefühl, sich ständig rechtfertigen zu müssen. Denn nirgendwo klingen die Worte Bei Muttern so süß wie in Deutschland. Und nirgendwo wiegen Erziehungs-Experten das Haupt gramvoller, wenn Muttern die Kinder, die Küche oder die Cupcakes im Stich lässt und an jemand Fremden delegiert.
Mütter und Arbeit ist ein Reizthema, über das Mütter hierzulande in etwa so locker reden wie strenggläubige Hindus über Kalbsschnitzel oder Islamisten über Karikaturen: Schon ein paar Arbeitsstunden mehr oder weniger führen zu erbitterten Glaubenskriegen. Ja, allein das Wort »Arbeit« kann mittelschwere Gefechte provozieren, wenn man nicht schleunigst hinterherschiebt, dass damit auch all die unbezahlten Tätigkeiten im Haushalt gemeint sind. Kein Wunder, dass viele Mütter die Frage »Job oder Kind?« so lange und gewissenhaft wälzen, bis sie sich nicht mehr stellt, weil die Jahre, schwupps, vergangen sind und sie zu Darmspiegelung, Anpassung der Lesebrille und Altersvorsorge-Beratung müssen und sowieso keine Zeit mehr für einen Job haben. Deshalb ist auch der Begriff Karriere-Knick so irreführend. Er klingt niedlich, als bekäme die Karriere von Frauen einen kleinen Knick, wenn sie Mutter werden. In den meisten Fällen bedeutet er aber schlicht, dass sie ihre Karriere komplett knicken können.
Als Mutter, die arbeiten muss und will und glücklicherweise auch kann (jedenfalls wenn mein älterer Sohn nicht gerade neben meinem Arbeitszimmer Dubstep übt oder mein jüngerer Sohn Funny Pizza auf meinem Rechner spielt), kenne ich nur wenige überzeugende Gründe, dem Berufsleben den Rücken zu kehren. Ein Sechser im Lotto wäre vielleicht einer. Oder ein reicher Onkel in Übersee, den es soeben überraschend dahingerafft hat. Auch wenn Sie bei Wer wird Millionär? den Hauptgewinn einsacken, wird jeder verstehen, wenn Sie Ihren Steuerfachgehilfinnen- oder Toilettenreinigungs-Job frohgemut in die Tonne treten. Sein Amt unter stinknormalen Umständen nur wegen eines Kindes niederzulegen ist jedoch so empfehlenswert wie russisches Roulette spielen. In Deutschland endet jede zweite Ehe vor dem Scheidungsrichter, die Chancen, dass man als Zuhausebleibmutter irgendwann nicht nur mann-, sondern auch mittellos dasteht, sind hoch. In Anbetracht der Tatsache, dass Kinder Kosten in Höhe des Bruttosozialprodukts von Liechtenstein mit sich bringen, ist das eine eher mittelgute Aussicht.
Diese Erkenntnis setzt sich sogar in Deutschland allmählich durch. Und auch in der Praxis hat sich in den letzten Jahrzehnten was getan. Es ist nicht mehr zwingend vorgeschrieben, dass berufstätige Mütter sich Zuhausebleibmüttern in gebückter Demutshaltung...