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E-Book

Kematen in Tirol in der NS-Zeit

Vom Bauerndorf zur Industriegemeinde

AutorSabine Pitscheider
VerlagStudienverlag
Erscheinungsjahr2015
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783706558075
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis19,99 EUR
Kematen in Tirol und der Anschluss an das Deutsche Reich Die überwältigende Mehrheit der Ortsansässigen in Kematen in Tirol begrüßte im März 1938 den 'Anschluss' an das Deutsche Reich und die Ablösung der ständestaatlichen durch die nationalsozialistische Diktatur. Durch den Anschluss veränderte sich zunächst nicht viel. Die dörflichen Machtverhältnisse blieben bis auf eine kurze Phase dieselben, mächtige Bauernfamilien bestimmten weiterhin das Leben im Ort - nun allerdings auch gemeinsam mit der NSDAP. Was veränderte sich in der dörflichen Gemeinde? Doch der Zweite Weltkrieg veränderte Kematen nachhaltig. In die dörfliche Gemeinde hielt erstmals die Industrie Einzug. Die Messerschmittwerke produzierten hier Flugzeugteile, eine Südtirolersiedlung nahm die zugezogene Arbeiterschaft auf, im Zwangsarbeiterlager lebten Tausende Gefangene. Befreiung 1945 und die Folgen Auf die Befreiung im Mai 1945 folgte die langwierige Demokratisierung der Gemeindevertretung, die Registrierung der NationalsozialistInnen und deren Versuche, ihre Vergangenheit schönzureden. Das Zwangsarbeiterlager löste sich auf, Flüchtlinge kamen und lebten jahrelang in Kematen. Rückstellungsprozesse - Burghof, Messerschmitt, 'arisiertes' Sägewerk - beschäftigten die Gerichte viele Jahre. Die Messerschmittwerke, die mittlerweile Nähmaschinen herstellten, schlitterten schließlich in den Konkurs. Die Autorin Sabine Pitscheider schildert in dieser quellenreichen Publikation die wichtigsten Ereignisse der Gemeinde Kematen in Tirol von 1935 bis in die 1950er Jahre und ihre (fast) vergessene Geschichte.

Sabine Pitscheider, Univ.-Ass. Mag. Dr., ist seit März 2008 am Institut für Zeitgeschichte der Universität Innsbruck tätig. Sie beschäftigt sich vor allem mit der Österreichischen Geschichte nach 1945 mit dem Schwerpunkt Tirol und Parteiengeschichte, Soziale Disziplinierung und der Entnazifizierung in Tirol.

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Leseprobe

1. Die Gemeindevertretung 1935 bis März 1938


Ab 1933 höhlten Bundes- und Landesregierungen Mitbestimmungsrechte bis hin­unter auf Gemeindeebene aus. Mit der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler Ende Jänner 1933 erfuhr die österreichische NSDAP einen ungeheuren Aufschwung. Aus Angst vor deren möglichen Wahlerfolgen widerrief die Tiroler Landesregierung im März 1933 die für den 9. April vorgesehenen Landtagswahlen, verlängerte die Landtagsperiode und verschob Neuwahlen auf den Tag der Neuwahl des Parlaments, wozu es aber vor dem „Anschluss“ nicht mehr kam. 1 Schließlich verbot die Bundesregierung mit 19. Juni 1933 die Betätigung der und für die NSDAP, für die nun die nach dem „Anschluss“ heroisierte „Verbotszeit“ begann. Die Tiroler Landesregierung legte formalrechtlich nach und erklärte mit Gesetz vom 26. Juli 1933 die NSDAP-Mandate in den Gemeinderäten von Hötting, Innsbruck und Landeck für verlustig. 2 Bis zur Bestellung der neuen Gemeindevertretungen blieben in diesen Gemeinden die nun um die NS-Mandate geschrumpften Gemeinderäte bestehen. 3 Am selben Tag, dem 26. Juli 1933, verordnete die Tiroler Landesregierung, dass Bürgermeister und ihre Stellvertreter einen neuen Amtseid leisten mussten, wonach sie zu geloben hatten, „im vaterländischen österreichischen Sinn zu wirken, sich weder staatsfeindlich zu betätigen, noch solche Bestrebungen zu fördern“. 4

Auf das politische Leben in der Gemeinde Kematen wirkten sich diese Ereignisse nicht aus. Die letzten freien Gemeinderatswahlen hatten hier am 21. Oktober 1928 stattgefunden, wobei angesichts der schon vorab akkordierten Gemeindevertreter von einer Wahl im eigentlichen Sinne nicht gesprochen werden kann, denn die elf Mandate wurden nach ständischen Gesichtspunkten verteilt. Acht Mandate entfielen auf den Bauernbund, eines auf einen Vertreter aus der Fraktion Afling, eines auf einen der Arbeiterschaft und eines auf einen Gewerbetreibenden. „Jede Gruppe wählte sich ihren Vertreter durch Vorwahl, die Wahl der 8 Bauernvertreter erfolgte in einer öffentlichen Versammlung im alten Schulhause“, ist dazu in der Pfarrchronik zu lesen. 5 Bürgermeister war der schon seit 1922 amtierende einflussreiche Bauer Josef Hörtnagl. Nach den Bestimmungen der Gemeindewahlordnung war nach der Hälfte der Amtszeit ein neuer Gemeindevorstand – Bürgermeister und Stellvertreter – zu wählen. 1931 folgte auf Hörtnagl der Bauer und Müller Anton Reitmayr 6 (Hofname Tusch, früher Oberlotter), Hörtnagl trat in die zweite Reihe und übernahm die Funktion des ersten Stellvertreters. 7

Die politischen Ereignisse des Jahres 1933 – Verlust der Mandate, Aufhebung der Landtagswahlen, Verbot der NSDAP – veränderten die personelle Zusammensetzung im Kemater Gemeinderat nicht. Dem Verbot der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei (SDAP) im Feber 1934 folgte der Verlust ihrer Mandate, was in Kematen ebenfalls wirkungslos blieb, da alle Mandatare dem konservativen Lager zuzurechnen waren.

Mit 1. Mai 1934 trat die neue Verfassung „im Namen Gottes“ per Verordnung durch die Regierung Dollfuß in Kraft. 8 Sie hebelte die bis dahin formal noch gültige Gemeindewahlordnung aus, hob das allgemeine, gleiche und direkte Wahlrecht auf und legte als Prinzip fest, dass Bestellungen bzw. Ernennungen von oben nach unten – Bund, Land, Gemeinden – das bisherige Wahlprozedere ersetzten. Bis zur Erlassung einer neuen Gemeindeordnung amtierten die bisherigen Bürgermeister und Gemeinderäte weiter, so sie ihr Mandat nicht aufgrund einer nun verbotenen politischen Betätigung verloren hatten. 9 Der Landeshauptmann konnte bei Bedarf Gemeinderäte, die zu viele Mandatare verloren hatten, „durch vaterlandstreue Mitglieder“ ergänzen. 10

Die Verfassung von 1934 sah als Idealbild eine Bevölkerung, die sich auf die beruflichen Stände bzw. die wirtschaftliche Zugehörigkeit 11 verteilte, und ihre nach ihrer Stärke gewichtete Vertretung in allen Institutionen vor. Als Grundlage dieser Verteilung bzw. Zuteilung galten die jeweils letzte Volkszählung und die dort erhobenen Daten zu den berufsständischen Hauptgruppen. Von den 26 Mitgliedern des Tiroler Landtages entfielen demnach zehn Sitze auf Vertreter der Land- und Forstwirtschaft, drei auf die Industrie und den Bergbau, drei auf das Gewerbe, zwei auf den Handel/Verkehr, einer auf das Geld-, Kredit- und Versicherungswesen, zwei auf den öffentlichen Dienst, einer auf die Wissenschaft/Kunst, zwei auf Schule und Erziehungswesen, einer auf Kirchen- und Religionsgemeinschaften, einer auf die Freien Berufe. 12

Vorerst änderte sich in Kematen bis auf den Namen – es hieß nicht mehr Gemeinderat, sondern Gemeindetag – nichts, denn die Ausarbeitung einer neuen Gemeindeordnung zog sich bis in den Sommer 1935. 13 Noch bevor die Bundesregierung dieser Gemeindeordnung zugestimmt hatte, wies die Landeshauptmannschaft Ende April 1935 die Bezirkshauptmannschaften an, Vorbereitungen zu treffen. 14 Für Kematen als relativ kleine Gemeinde – nach der Volkszählung 1934 lebten hier 649 Menschen (347 Männer, 302 Frauen; 75 Menschen lebten in der Fraktion Afling) 15 – bedeuteten diese Anweisungen, dass die Zahl der Gemeindetagsmitglieder auf zehn beschränkt war. Ein Sitz entfiel per Gesetz auf einen Vertreter der „gesetzlich anerkannten Kirche- oder Religionsgemeinschaft, zu der sich mindestens 80 % der Bevölkerung in der Gemeinde bekennen“. In Kematen war dies wenig verwunderlich der Katholizismus. Die übrigen Sitze fielen auf Vertreter der in der Gemeinde vertretenen Berufsstände, wobei auf je zwei selbständige Vertreter einer Berufsgruppe mindestens ein unselbständiger fallen musste. Die Verteilung der Sitze übernahm der Landeshauptmann „nach Anhörung der übrigen Mitglieder der Landesregierung, der Vaterländischen Front und der Berufsstände unter Bedachtnahme auf die Zahl ihrer selbständigen und unselbständigen Berufsangehörige“. 16

Maßgeblich bei der Bestellung der Gemeindetagsmitglieder war die Vaterländische Front (VF), die als einzig zugelassene Staatspartei 17 politische Gutachten abgab und Personen empfahl oder ablehnte. Die Landesleitung der Vaterländischen Front wies am 6. Mai 1935 ihre Bezirksleitungen an, die jeweiligen Ortsleitungen zu kontaktieren und ihre Vorschläge für die berufsständischen Vertreter einzuholen. Wichtig war die Überprüfung der Vorgeschlagenen, „[d]enn es ist selbstverständlich, dass nur solche Personen in die neuen Gemeindetage entsandt werden dürfen, deren vaterlandstreue Gesinnung ausser jedem Zweifel steht und die der V. F. angehören“. Zu überprüfen war auch, ob „das Einvernehmen mit den lokal in Betracht kommenden Berufsorganisationen und Wehrverbänden“ hergestellt und ob „die Zusammensetzung der Bevölkerung nach Berufsständen sowie das zahlenmässige Verhältnis von Arbeitgebern und Arbeitnehmern“ entsprechend berücksichtigt waren. 18 Gesondert wies die Bezirkshauptmannschaft die jeweiligen Gendarmerieposten an, über die politische Zuverlässigkeit der Vorgeschlagenen zu berichten. 19 Vorschläge für den kirchlichen Vertreter erstellte die Apostolische Administratur, wobei diese zumeist nicht Priester entsandte, sondern aus ihrer Sicht besonders vertrauenswürdige weltliche Vertreter.

Mit Wirksamkeit vom 30. September 1935 löste die Landeshauptmannschaft die noch bestehenden Gemeindetage auf und ernannte die Bürgermeister zu Amtsverwaltern. 20 In Kematen war dies Anton Reitmayr. Am 23. Oktober 1935 teilte die Landeshauptmannschaft der Bezirkshauptmannschaft schließlich die Bestellung des neuen Gemeindetages in Kematen mit. Als Vertreter der Kirche war der langjährige Bürgermeister und zuletzt als Stellvertreter amtierende, einflussreiche Bauer Josef Hörtnagl nominiert, der zugleich Ortsleiter der Vaterländischen Front war. Als Vertreter selbständiger Bauern des Berufsstandes Land- und Forstwirtschaft war der Amtsverwalter und Bauer Anton Reitmayr genannt, weiters die Bauern Karl Lang, Alois Partl, Viktor Rainer und Josef Schweninger. Karl Lang war nicht nur Schützenhauptmann, sondern auch Führer der örtlichen Heimwehrgruppe. Als Vertreter der Arbeitnehmer der Land- und Forstwirtschaft waren der Sekretär des Tiroler Bauernbundes Josef Gabl und der landwirtschaftliche Dienstbote Josef Kössler als Mitglieder bestellt. Als selbständiger Vertreter des Gewerbes kam der Gastwirt Engelbert Höllriegl in den Gemeindetag, als selbständiger Vertreter des Berufsstandes Handel und Verkehr der Kaufmann und Bauer Josef Abfalterer. 21

Obwohl nach der Volkszählung vom März 1934 nur mehr 54,24 % der Kemater wirtschaftlich der Land- und Forstwirtschaft angehörten, 22 sind acht, mit Abfalterer sogar neun der zehn Bestellten diesem Bereich zuzuordnen, womit dieser deutlich überrepräsentiert war. Dass es in Kematen nicht wie anderen Tiroler Orten zu Protesten kam, ist auf den ersten Blick verwunderlich. Auf den zweiten Blick hingegen zeigt die Ruhe in der Kemater Gemeindepolitik, wie sehr die politischen Verhältnisse auf den Bauernbund konzentriert waren und wie wenig die Vertreter anderer Berufsgruppen vernetzt gewesen sein dürften, so dass sie nicht als Gruppe wahrnehmbar waren und gar nicht in den Fokus der vorschlagenden Institutionen gerieten. Ergänzt werden muss noch, dass nur die zwei unselbständigen Vertreter – Gabl und Kössler – neu waren, alle anderen waren schon seit Anfang der 1930er Jahre in der...

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