1 Kieferorthopädische Retention
I. Rudzki
1.1 Einführung in die kieferorthopädische Retention
„Βουλεύου δὲ πρὸ ἔργου, ὅπως μὴ μῶρα πέληται. – Quidquid agis, prudenter agas et respice finem“ ▶ [1] – „Ehe du eine Sache beginnst, bedenke, wie sie ausgeht“. Diese Empfehlung gilt als Leitlinie für jede medizinische, so auch kieferorthopädische Behandlung. Vor einem Behandlungsbeginn wird der Behandlungsbedarf hinterfragt und überlegt, wer und was uns die Sicherheit gibt, ein State-of-the-art-Ergebnis zu erreichen und zu bewahren.
Bereits in der Erstberatung sollten daher Patienten und Eltern mit dem Hinweis auf eine „Retention“ nach dem aktivem Behandlungsende vertraut gemacht werden (Kap. ▶ 9). Die meisten Patienten wissen jedoch nicht, was unter dem Begriff „Retention“ zu verstehen ist, und was auf sie zukommt. Zur Beratungsaufgabe gehört deshalb, den Patienten sowohl über seinen kieferorthopädischen Befund, respektive über sein kieferorthopädisches Krankheitsbild zu informieren, soweit es aus klinischen Analysen im Kauorgan bereits ersichtlich ist, sowie über mögliche Behandlungsmaßnahmen mit der Retention von erwünschten Behandlungszielen. Diese Retention ist als notwendige Behandlungsnachsorge zu verstehen, welche auch im Verantwortungsbereich des Patienten liegt.
Fragen zu Art und Umfang von Retentionsmaßnahmen nach sinnvollem Einsatz therapeutischer Maßnahmen beeinflussen deshalb konsequenterweise von Anfang an die kieferorthopädische Behandlungsplanung. Diese beginnt mit der richtigen diagnostischen wie differenzialdiagnostischen Entscheidung bzgl. Funktion und Morphologie im gesamten stomatognathen System (Kap. ▶ 4, Kap. ▶ 5, Kap. ▶ 6, Kap. ▶ 12.1). Funktionell dominieren störende Einflüsse durch Habits und orofaziale Dyskinesien (Kap. ▶ 4.2), morphologisch sind alle Befunde nach dem jeweiligen Stand der Dentitions- und Gesichtsentwicklung (Kap. ▶ 2) differenziert zu bewerten: das extra- und intraorale klinische Erscheinungsbild, die Individualität des Gesichtstyps mit seinem skeletalen Charakter und wachstumsbedingte natürliche Veränderungen im Viszerokranium. Das darauf folgende Ableiten von relevanten Behandlungsaufgaben unterliegt stets dem Diktat der Ätiologie, welche wesentlich zum endgültigen Therapieentscheid mit richtigem Behandlungstiming beiträgt.
In eine realistische prognostische Bewertung aller geplanten Veränderungen im Kauorgan ist der altersbedingt und funktionell immer zu erwartende muskuläre, skeletale, dentobasale und dentoalveoläre Wandel zu berücksichtigen (Kap. ▶ 5.3, Kap. ▶ 6.6.6) sowie alle jeweils bekannten Retentionskriterien (Kap. ▶ 4) und Stabilitätsfaktoren (Kap. ▶ 5.4) zu beachten.
1.2 Definitionen zur Retention und Stabilität
Für den Begriff Retention (abgeleitet von lat. retinere: zurückhalten) legen die verschiedenen Fachbereiche unterschiedliche Detaildefinitionen vor. Im allgemeinen medizinischen Verständnis bezieht sich Retention auf ein „Zurückhalten bestimmter Stoffe oder Flüssigkeiten“, welche zu „Funktionsstörungen“ im Organismus führen können, ebenso wie eine relative „Ruhigstellung“ nach Knochenfraktur, unabhängig davon, wie und wodurch eine Fraktur entstanden ist – sei es durch Unfall oder durch korrektive Operationen.
Im Teilgebiet der Medizin, der Zahnheilkunde, wird Retention neben einer „Zurückhaltung, Verhaltung, Verhinderung und Verzögerung“ auch als „Verankerung“ verstanden ▶ [13], ▶ [27].
Aus Sicht der Kieferorthopädie sind v.a. die Definitionen des Fachgebietes Orthopädie interessant. Hier wird neben „stabilisieren, entlasten, ruhigstellen“ auf ein „Korrigieren“ im Skelettbereich des Körpers verwiesen. Vergleichbar definieren sich Retentionen in der Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie nach Dysgnathieoperationen mithilfe von rigiden oder semirigiden Osteosyntheseplatten ▶ [37].
Innerhalb der Diagnosestellung bezieht sich eine „retentio dentis“ auf Durchbruchsverhinderungen von Zähnen, mit dem Hinweis, dass nicht unbedingt eine Keimverlagerung vorliegen muss – wie sie von Weisheitszähnen und Eckzähnen bekannt ist –, sondern auch eine korrekte Position des Zahnkeimes im alveolären Knochenanteil zu einem Verbleiben des Zahns ▶ [13] nach seiner vollständigen Ausbildung im zahntragenden Kieferabschnitt, der Alveole, führen kann. Für diese Zahnretention zeichnet zumeist ein Platzmangel im Zahnbogen verantwortlich oder ein Syndrom, beispielsweise die Dysostosis cleidocranialis. Im Rahmen von Anomalien des Zahnwechsels sind ebenfalls Zahnretentionen anzutreffen, wenn überzählige Zahnkeime den natürlichen Zahndurchbruch blockieren. Die Prävalenz einer Durchbruchsstörung mit Retention beträgt nach Steffen und van Waes ▶ [50] aktuell 2–6% für die Sechsjahrmolaren im frühen Wechselgebiss, bedingt durch deren unterminierende Resorption im distalen Wurzelbereich der zweiten Milchmolaren. Dieser Befund ist im oberen Zahnbogen häufiger anzutreffen als im unteren.
Im Rahmen der Prävention beschreiben „Retentionsflächen oder Retentionsstellen“ spezielle Bereiche im Gebiss, die für eine natürliche Zahnreinigung durch Speichel und Zunge ebenso schwer zugänglich sind wie für die tägliche manuelle Säuberung des Mundes.
Innerhalb der Therapie wird der Begriff „Retention“ synonym für mechanische Verankerungen von Behandlungsmitteln verwendet, beispielsweise in der Zahnerhaltung in Bezug auf Füllungen, in der Prothetik in Zusammenhang mit Zahnrestaurationen. In der Kieferorthopädie betrifft der Begriff Retention spezielle Halteelemente in orthodontischen und orthopädischen Apparaturen ▶ [46], in der Mund-Kiefer-Gesichtschirurgie Stabilisierungsplatten nach orthognather Chirurgie ▶ [51], ▶ [52] oder Lochschienen zum Fixieren von Zahnluxationen ▶ [29].
In der Kieferorthopädie lässt sich die Retention, neben dem therapeutischen Bezug als Verankerungselement von biomechanisch wirksamen Kräften, als Nachsorge für alle artifiziell erzeugten Veränderungen im Kauorgan definieren mit dem Ziel, ein individuell richtiges Behandlungsergebnis dauerhaft zu erhalten. Diese Retention umschreibt damit vorrangig das Festhalten, Absichern und Bewahren eines kieferorthopädisch erreichten Behandlungsresultates nach Beendigung von aktiven Interventionen.
Unter „relativer Stabilität“ (Kap. ▶ 5.2) wird eine Situation im Gebiss verstanden, welche – entsprechend der Wortdefinition – „von verschiedenen Bedingungen abhängt“. Diese Bedingungen sind verknüpft mit funktionellen wie morphologischen Kriterien, die nach Stöckli ▶ [53] den „täglichen Funktionen im Kauorgan am besten gerecht werden“: einem ungestörten „Abbeißen, Kauen, Schlucken, Atmen und dem zufriedenstellenden Gesichtsausdruck“.
1.3 Retention in Diagnostik und Therapieplanung
Der Erfolg aller Retentionsbemühungen lässt sich mit einer positiven Stabilitätsprognose (Kap. ▶ 5) verbinden, wenn eine umfassende, präzise Diagnose mit differenzialdiagnostischer Abklärung (Kap. ▶ 6) jedem therapeutischen Bemühen zugrunde liegt. Lückenlose Kenntnis über den Beweggrund des Patienten zur kieferorthopädischen Beratung, einschließlich einer gewissenhaft erhobenen klinischen Analyse mit Fokus auf die Familienanamnese, ist immer erforderlich. Im Hinblick auf die Retention fällt ererbten Entwicklungen im Kauorgan, die erst nach Wachstumsende deutlich hervortreten, eine führende Rolle zu – hier sind vornehmlich der tertiäre Engstand ▶ [14], ▶ [15], ▶ [21], ▶ [31], ▶ [45], ▶ [49] (Kap. ▶ 5.7, Kap. ▶ 12.3.3) sowie transversale, vertikale und sagittale Dysgnathien ▶ [16], ▶ [36], ▶ [44], ▶ [51], ▶ [52] (Kap. ▶ 5.6) angesprochen.
Eine vor Behandlungsbeginn korrekt erstellte lückenlose Befunddokumentation erlaubt während der Behandlung den fortlaufenden Vergleich mit dem Anfangsbefund und dem primär aufgestellten Behandlungsplan. So lassen sich erwünschte von unerwünschten Veränderungen während der Behandlung differenzieren und ggf. rechtzeitig Therapieänderungen vornehmen. Darüber hinaus kann ein eigener Erfahrungsschatz aufgebaut werden, womit die Qualität von Behandlungen und Retentionsplanungen laufend verbessert wird ▶ [23].
Als sichere Brücke zwischen Diagnose und Therapie dienen die aus der Differenzialdiagnose abgeleiteten Behandlungsaufgaben ▶ [24] – „treatment objectives“. Ihre erfolgreiche Lösung verlangt für alle lokalen Probleme im Kauorgan ein therapeutisches Vorgehen, das alle Bereiche des stomatognathen Systems berücksichtigt ( ▶ Abb. 1.1). Dabei müssen Funktion und Morphologie über jede Entwicklungsstufe hinweg synchron Beachtung finden und die...