Wie im vorangegangenen Kapitel erläutert, kann eine elterliche Alkoholsucht eine starke Auswirkung auf die Entwicklung betroffener Kinder haben (Gleißner, 2006). Diese Verhaltensauffälligkeiten beschränken sich dabei nicht nur auf das Kindesalter, sondern können ohne professionelle Hilfe bis ins Erwachsenenalter hinein bestehen bleiben (Winkelmann, 1990).
Bei einer empirischen Studie von Hinze und Jost (2006) konnte festgestellt werden, dass im Zusammenhang mit einer familiären Alkoholproblematik besonders häufig Schulprobleme (Leistungsversagen), negatives Sozialverhalten (aggressives Verhalten), Psychische Probleme (depressives Verhalten) und eine eigene Suchtproblematik der Kinder auftreten (Abbildungen 2a und 2b).
Abbildung 2a und 2b: Probleme des Kindes, als Folge eines familiären Alkoholproblems (Mehrfachnennungen möglich) (Hinze und Jost, 2006)
Wie in den Abbildungen 2a und 2b zu erkennen ist, wurden in dieser Untersuchung insgesamt 167 Kinder alkoholabhängiger Eltern(teile) befragt. Es waren Mehrfachnennungen möglich. Dabei konnte festgestellt werden, dass besonders betroffene Jungen mit Störungen im Sozialverhalten reagieren (z.B. aggressives Verhalten) und
Mädchen eher zu psychischen Störungen (z.B. Depressionen) neigen (vgl. auch Steinhausen, 1984).
Im Folgenden werden die am häufigsten vorkommenden Auffälligkeiten von Kindern alkoholkranker Eltern(teile), besonders in Bezug auf Körper, Psyche und Verhalten erläutert (Elpers und Lenz, 1994). Die Themen Vernachlässigung und Misshandlung von betroffenen Kindern sind gerade in Bezug auf die Hilfemaßnahmen ausführlicher und daher gesondert, in einem eigenen Kapitel dargestellt.
Schon seit Jahrhunderten ist bekannt, dass Alkoholkonsum während einer Schwangerschaft einen erheblichen negativen Einfluss auf einen Fötus haben kann. Es konnte bewiesen werden, dass keine andere Substanz die Entwicklung eines ungeborenen Kindes so häufig und nachhaltig schädigt, wie der Alkohol (Jones und Bass 2003). Diese massiven Schädigungen des Fötus durch Alkoholkonsum in der Schwangerschaft nennt man Alkoholembryopathie (AE) oder fetales Alkoholsyndrom (FAS). „Alkoholkonsum in der Schwangerschaft ist die häufigste Ursache einer geistigen Entwicklungsverzögerung beim Kind, doppelt so häufig wie das Down-Syndrom und fünfmal häufiger als Spina bifida[4].“ (Zobel 2006, S.61)
Schon in der Bibel wird vor Alkohol in der Schwangerschaft gewarnt. So heißt es im Buch der Richter 13, 3-4: „Und der Engel des Herrn erschien der Frau und sprach zu ihr: Siehe, du bist unfruchtbar und hast keine Kinder, aber du wirst schwanger werden und einen Sohn gebären. So hüte dich nun, Wein oder starkes Getränk zu trinken und unreines zu essen.“
In der Wissenschaft wurde die Alkoholembryopathie erstmals 1899 von Sullivan definiert, der bei alkoholsüchtigen Frauen häufigere Fehlgeburten und bei den betroffenen Kindern vermehrt Epilepsien feststellte. Erst 1973 benannten die amerikanischen Forscher Jones und Smith weitere Diagnosen und machten die Störungen zu ihrer Zeit mit der Bezeichnung -fetales Alkoholsyndrom- international bekannt (Jones et al., 1973). Nach Schätzungen der Universitätsklinik Münster gibt es in Deutschland jährlich ca. 2200 Neugeborene mit einem fetalen Alkoholsyndrom. Treten bei betroffenen Kindern
weniger starke Symptome auf, spricht man von einem Alkoholeffekt. Unter einem solchen Alkoholeffekt leiden ca. 8000 Kinder in Deutschland (Löser, 1995).
Nimmt eine Mutter in der Schwangerschaft Alkohol zu sich, gelangt der konsumierte Alkohol ungehindert durch die Plazenta zum Ungeborenen. Den Fötus erreicht dabei nahezu die gesamte Alkoholkonzentration die die Mutter aufnimmt (Löser, 2001). In der Regel wirkt sich der Alkohol so auf den Fötus aus, dass das Kind bei der Geburt kleinwüchsig, untergewichtig und kleinköpfig sein kann. Zudem kommt es häufig zu spezifischen Fehlbildungen besonders im Gesicht (vgl. Abbildung 3). Das Kind hat auffällig schmale und dünne Lippen, enge Lidspalten, ein kaum ausgeprägtes Filtrum der Oberlippe[5], eine nach vorn gewölbte Stirn und/oder einen verkürzten Nasenrücken (Löser und Hermann, 1987).
Abbildung 3: Links: Kleinkind mit deutlichen Kennzeichen einer AE im Gesicht.
Zu beachten ist die deutlich verschmälerten Lippenwülste, das abgeflachte Mittelgesicht mit eingezogenem Lippenrot und die schmalen Lidspalten.
Rechts: Kleinkind mit deutlichen Zeichen einer AE im Gesicht.
Im seitlichen Blick typisch kovexbogige Formation des Ober- und Unterkiefers bei fliehendem Kinn, schütteres Haarwachstum (Landesstelle gegen Suchtgefahren Baden Württemberg, 1997)
Neben den in Abbildung 3 abgebildeten Merkmalen ist zudem besonders das Gehirn des Fötus und später des Kindes betroffen. „Kinder mit einer ausgeprägten Alkoholembryopathie gelten als geistig retardiert und sind in den meisten Fällen nicht zum Besuch der Regelschule in der Lage“ (Zobel 2006, S. 63)(Vgl. Abschnitt 3.1.2)
Die toxische Wirkung des Alkohols führt zu Schädigungen des zentralen Nervensystems und somit zu Leistungsschwächen am Groß- und Kleinhirn, Störungen der Grob- und Feinmotorik, des Verhaltens und der Wahrnehmung sowie anderer höher geistigen Leistungen (Zobel, 2006).
Viele betroffene Kinder entwickeln Verhaltensauffälligkeiten und benötigen eine ständige Aufsicht. Bei nur leichten Symptomen und einer guten Förderung können sich die Auffälligkeiten in der Phase des Heranwachsens verbessern oder sogar fast völlig verschwinden. Bei einigen Betroffenen bleiben die Schädigungen jedoch ein Leben lang bestehen (Löser et al., 1993).
McGovern (1995) schätzte die damit verbundenen, lebenslangen, volkswirtschaftlichen Kosten für einen Betroffenen mit einer Alkoholembryopathie auf etwa eine Million Dollar.
Die zweite am häufigsten auftretende körperliche Auffälligkeit neben der Alkoholembryopathie ist ein niedriges Intelligenzniveau und eine häufig verminderte sprachliche Fähigkeit (Löser, 2001). In diesen Bereichen wurden vermehrt negative Auffälligkeiten bei Kindern alkoholkranker Eltern(teile) beobachtet. Schon seit dem 20. Jahrhundert wird eine Verbindung zwischen dem Alkoholkonsum der Eltern und den kognitiven Fähigkeiten ihrer Kinder vermutet. Jedoch konnte dies erst in den 90er Jahren in Studien (Beispielsweise von Poon et al., 2000 oder von Putter et al., 1998) belegt werden. In diesen Untersuchungen wurden die IQ-Werte von Jugendlichen aus alkoholbelasteten Familien den Werten unbelasteter Vergleichspersonen gegenübergestellt (Moss et al., 1995; Poon et al., 2000; Putter et al., 1998). Die IQ-Werte der Jugendlichen aus alkoholbelasteten Familien waren dabei signifikant niedriger als die Werte bei den Kontrollgruppen. Es wurden besonders dann verstärkt niedrige IQ- Werte festgestellt, wenn zu der Alkoholabhängigkeit der Eltern noch weitere Faktoren wie eine schlechte wirtschaftliche Lage, eine Scheidung der Eltern oder Ähnliches hinzukamen (Famy et al., 1998; Johnson und Rolf, 1988).
Manche Kinder, deren Mütter in der Schwangerschaft Alkohol zu sich genommen haben, leiden an einer Mikrozephalie. Darunter versteht man eine Entwicklungsstörung des menschlichen Gehirns, bei der der Kopf eine geringe Größe aufweist. Die Mikrozephalie tritt in Deutschland bei 1,6 von 1000 Kindern auf (Jones und Bass, 2003). Der Betroffene weist eine geistige Behinderung auf, deren Intensität vom Ausmaß der Fehlentwicklung abhängt. Kinder mit Mikrozephalie, haben Schwierigkeiten Reize und Informationen von außen aufzunehmen und zu verarbeiten. Dabei sind zudem feinmotorische Fähigkeiten beeinträchtigt. Betroffene Kinder benötigen mehr Zeit zum Lernen, denn die geistige und intellektuelle Hirnleistung ist eingeschränkt. Aufgrund einer meist schwachen Mundmuskulatur bei betroffenen Kindern ist zudem der Spracherwerb erschwert. Diese Faktoren führen dann sehr häufig zu Lernschwierigkeiten und nicht selten später zu Schulproblemen (Elpers und Lenz, 1994).
Die oben genannten Auffälligkeiten bei Kindern sind mögliche körperliche Auffälligkeiten, die durch den Alkoholkonsum eines Elternteils oder beider Elternteile entstehen können. Beeinträchtigungen im sowohl kognitiven als auch im sprachlichen Bereich müssen jedoch nicht ausschließlich auf körperliche Auffälligkeiten zurückgeführt werden, sondern können zum Teil auch aufgrund von Verhaltensproblemen oder psychischen Krankheiten beim Kind entstehen (Gleißner, 2006). Nicht selten liegt es auch an einer mangelnden Förderung, Betreuung und Unterstützung der Kinder aus alkoholbelasteten Familien. Im Folgenden werden einige mögliche Verhaltensauffälligkeiten und psychische Erkrankungen, die aus einer Alkoholsucht der Eltern resultieren können, weiter erläutert.
In der...