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Das Kind im Blick elementarpädagogischer Ansätze – der erziehungswissenschaftliche Diskurs
Die Landschaft des Kinderbetreuungssystems in Deutschland ist aufgrund ihrer historischen Entstehungsgeschichte von einer unüberschaubaren Heterogenität geprägt (vgl. Kasüschke, 2010b), die sich nicht nur in einer Vielfalt an pädagogischen Ansätzen, sondern auch auf der Gesetzesebene im Rahmen der Bundesländer- und Trägerhoheit wiederspiegelt.
Neben traditionellen Ansätzen der Frühpädagogik wie Fröbel, Montessori oder Situationsansatz, die Gegenstand erziehungswissenschaftlicher Diskurse sind, existiert eine Vielzahl pädagogischer Konzepte wie Waldkindergärten, Bewegungskindergarten oder Spielzeugfreier Kindergarten, die sich in der KiTa-Praxis etabliert haben. Trotz zahlreicher Veröffentlichungen fehlt es bisher an einer systematischen Bestandsaufnahme der pädagogischen Profile von Kindertageseinrichtungen und würde auch den Rahmen dieses Bandes sprengen.
Überlegungen zur Vereinheitlichung von Qualitätsstandards für Kindertageseinrichtungen wie sie in jüngster Zeit im Rahmen der Diskussion zu nationalen Bildungsstandards im Elementarbereich geäußert wurden, müssen zwei unterschiedliche Herausforderungen berücksichtigen. Auf der einen Seite müssen sich Einrichtungen mit Profil mit Fragen der Vergleichbarkeit und Anschlussfähigkeit auseinandersetzen wie beispielsweise, ob eine Schwerpunktsetzung eine ganzheitliche Bildung und Förderung der Kinder oder einen gelungenen Übergang in die Bildungseinrichtung Grundschule gewährleisten kann. Auf der anderen Seite muss eine Gesellschaft sich mit der Frage auseinandersetzen, ob nicht sogar Profilbildungen in einer heterogenen, transnationalen und -kulturellen Gesellschaft nicht nur notwendig, sondern wünschenswert sind. Gleichwohl ist es an der Zeit, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen, denn mit den Schwerpunktsetzungen in der pädagogischen Arbeit wird jeweils ein bestimmtes Menschen- und Kindbild vermittelt und die Vermutung, dass dies Auswirkungen auf den pädagogischen und didaktischen Umgang mit Kindern haben könnte, liegt nahe.
Im folgenden Kapitel werden ausgewählte pädagogische Ansätze für Kindertageseinrichtungen hinsichtlich ihrer Relevanz für eine erziehungswissenschaftlich fundierte Praxis vorgestellt. Von besonderem Interesse sind dabei Aussagen zur Anthropologie des Kindes, zu Bildung und Lernen im frühen Kindesalter, zu Erziehungsfragen und zu didaktisch-methodischen Transformationen in die KiTa-Praxis. Dabei geht es nicht um einen historischen Rückblick, sondern um eine Fokussierung auf zentrale pädagogische Problemstellungen, die heute ebenso relevant sind wie vor hundert Jahren.
2.1 »Lasst uns unseren Kindern leben!« Zur Aktualität der Spielpädagogik Friedrich Fröbels
Friedrich Fröbel (1782–1852) gilt als der Begründer des deutschen Kindergartens. Seine Pädagogik gehört nach Prange »zu den bedeutenden Zeugnissen des Nachdenkens über Erziehung« (ebd., 2009, S. 16) und sein unvollendet gebliebenes Buch Die Menschenerziehung (1826) zu den Schlüsselwerken der Pädagogik. Seine Überlegungen zu Kindererziehung, zum Kindergarten und das Erbe seines didaktischen Materials kann nur mit Kenntnis seiner Erziehungsphilosophie verstanden werden, zu der es zahlreiche Sekundärliteratur gibt.
Zunächst war es gar nicht Fröbels Absicht, einen Kindergarten als außerfamiliale Betreuungseinrichtung zu gründen, sondern er sah, von Johann Heinrich Pestalozzis pädagogischem Wirken beeindruckt, die Mutter als Schlüsselfigur pädagogischer Vermittlung. Zwischen 1836 und 1838 brachte er die Mutter- und Koselieder, eine Sammlung von Sing- und Fingerspielen der damaligen Zeit, und die ersten von ihm entwickelten Spiel- und Beschäftigungsgaben heraus, um die häuslichen Beschäftigung der Mütter mit ihren Kindern anzuregen. Der Kindergarten sollte der Schulung der Mütter im Umgang mit diesen Materialien und als Ort für Spielkreise dienen, in denen er junge Frauen ausbildete. Während viele junge Frauen des Bürgertums den Kindergarten als ehrenamtliches Betätigungsfeld sahen, blieben die Mütter den Kursen eher fern, schickten aber ihre Kinder. So gründete er 1840 den ersten »Allgemeinen deutschen Kindergarten« in Blankenburg, dem zwei Jahre später die Errichtung einer Musteranstalt als Beratungs- und Belehrungsstätte für junge Mädchen und Mütter folgte, wo die ersten Kindergärtnerinnenkurse abgehalten wurden. So entstand neben den bereits existierenden konfessionellen Kleinkinderschulen und privat-wohltätigen Bewahranstalten der Fröbel’sche Kindergarten als Anstalt der Kleinkindererziehung. Es wurden immer mehr Einrichtungen gegründet, und insbesondere seine Schülerinnen Henriette Schrader-Breymann und Bertha von Marenholtz-Bülow führten seine Methode fort. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Fröbel’sche Methode in die Fachschulausbildung integriert und transformiert, so dass man mit Fug und Recht behaupten kann, dass die Kindergärten ihre Wurzeln größtenteils im Fröbel-Kindergarten haben (vgl. Kasüschke & Fröhlich-Gildhoff, 2008).
Friedrich Fröbels Erziehungsphilosophie basiert auf der Vorstellung, dass allem Leben ein einheitlicher göttlicher Plan zugrunde liegt, den er das Sphärische Gesetz nennt. Dieser göttliche Plan offenbart sich sowohl in der Einzigartigkeit jedes einzelnen Wesens (Individualität) als auch in der Mannigfaltigkeit aller Lebewesen (Vielfalt). Einzigartigkeit und Mannigfaltigkeit stellen für die menschliche Wahrnehmung zunächst Gegensätze dar, die jedoch nach Fröbel gerade im Grundgesetz allen Lebens eine Einheit (einen göttlichen Grund) haben. Mit diesem Denken steht Fröbel in der Tradition des wissenschaftlichen metaphysischen Denkens des 18. Jahrhunderts, in dem gefragt wird, »was ist das Wesen Gottes, was das Wesen der Welt, das heißt alles dessen, was wir uns gegenüber haben, und was sind wir selbst, unsere Seele« (Prange, 2009, S. 21).
Ziel und Aufgabe von Erziehung ist die Lebenseinigung der Natur, des Menschen und Gott, denn das sphärische Gesetz wirkt nicht durch seine bloße Existenz, sondern erst durch den Menschen. Der Mensch handelt frei und selbstbestimmt und kann das Ziel der Lebenseinigung verfehlen. In diesem Kontext ist sein Satz »Laßt uns unseren Kindern leben!« zu verstehen. Aufgabe von Erziehung ist es, das Göttliche in der Natur, im Gegenüber und sich selbst zu erkennen und durch Erziehung zur Freiheit und Selbstbestimmung zu einen. Erziehung hat hier eine Doppeldeutigkeit. »Wer erzieht, wird erzogen, erzieht zugleich auch sich selbst« (ebd., S. 23). Nach Fröbel offenbart sich das göttliche Gesetz im Kind. Erziehung begründet sich aus diesem einenden Gesetz und Erziehung des Kindes und Selbsterziehung des Erwachsenen gehen Hand in Hand.
Fröbel verknüpfte diese erziehungsphilosophischen Grundgedanken mit seinen Beobachtungen und Erfahrungen mit Kindern zu einem entwicklungspsychologischen Modell, von dem einzelne Aussagen auch heute noch Gültigkeit haben.
Zunächst sieht er das Baby im ersten Lebensjahr, das die Welt als unbewusste Ganzheit wahrnimmt und nicht zwischen sich und Welt im Erleben trennt. Fröbel bezeichnet diese noch ungerichtete Wahrnehmung des Säuglings als dunkle Ahnung. Bereits im ersten Lebensjahr differenziert sich seine Wahrnehmung, es bilden sich erste Anschauungen und es nimmt die Mutter und die gegenständlichen Dinge seiner Welt als etwas Anderes wahr (Das ist ein Ball. Das ist Mutter. Das ist die Hand). Bis zum sechsten Lebensjahr entwickelt das Kind klare Vorstellungen von sich und der Welt, und seine Welterfahrungen differenzieren sich durch die Entwicklung der Sprache (Zahlen, Töne, Farben, Rhythmus, Melodie) aus. Nach Fröbel veräußerlicht das Kind seine inneren unbewussten geistigen Vorgänge in dieser Phase und verinnerlicht alles von ihm äußerlich Wahrgenommene im Spiel.
In der mittleren Kindheit (6 bis 10 Jahre) setzt sich das Kind mithilfe von Unterricht mit diesen inneren Vorgängen bewusst auseinander und erkennt erste Regelmäßigkeiten in der äußeren Welt. Im Knabenalter (10 bis 14 Jahre) beginnt das Kind die dingliche Welt und sein Wesen zu erforschen. Der junge Erwachsene ist zunehmend in der Lage, die Gesetzmäßigkeit, die hinter den Dingen steht, zu erkennen. Er beginnt zu abstrahieren und sich selbst und die Welt im...