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Kindheitsspuren

Theodor Storm und das Ende der Romantik

AutorHeinrich Detering
VerlagBoyens Buchverlag
Erscheinungsjahr2014
Seitenanzahl100 Seiten
ISBN9783804230149
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Kein anderer Dichter des Poetischen Realismus hat sich so intensiv mit dem Erbe der Romantik beschäftigt wie Theodor Storm. Lebenslang hat er die Spannung zwischen ihren Sehnsuchtsbildern und den Desillusionierungen des Realismus immer von neuem auszutragen versucht. Das geschieht vor allem in den vielfältigen Verwandlungen einer zentralen romantischen Idee: der Verklärung des Kindes zum Ideal eines reinen, unschuldigen und ursprünglich-paradiesischen Daseins. 'Wo Kinder sind, da ist Goldenes Zeitalter', hatte Novalis 1798 verkündet. 'Die Spur von meinen Kinderfüßen sucht' ich', heißt es in einem von Storms programmatischen Gedichten, 'Doch konnt' ich sie nicht finden.' Immer wieder kann man in Storms Werk diesem Leitbild begegnen, in dem sich die epochalen Verwerfungen zwischen Romantik und Realismus mit sehr persönlichen Phantasien, Ängsten und Obsessionen berühren. Von Beginn an begibt sich das Werk dieses großen Realisten auf die romantische Suche nach der verlorenen Kindheit. In Heinrich Deterings faszinierender Studie geht es um die unterschiedlichen Perspektiven, in denen diese Suche Storms Werk bestimmt, und um die Erschütterungen, in denen sie literarisch produktiv wird: im Schreiben über Poetik und Psychologie, Politik und Religion, Autobiographie und Kunst.

Prof. Dr. Heinrich Detering, geb. 1959 in Neumünster, ist Professor für deutsche und vergleichende Literaturwissenschaft an der Universität Göttingen, Mitglied mehrerer wissenschaftlicher Akademien und Präsident der Theodor-Storm-Gesellschaft. Für seine Bücher, Essays und Gedichte erhielt er zahlreiche Auszeichnungen, unter anderem den 'Preis der Kritik' 2003 und den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft 2009.

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Leseprobe

Einleitung:
Kindheitstrauma, Kindheitstraum


Auf meinem Schoße sitzet nun

Und ruht der kleine Mann;

Mich schauen aus der Dämmerung

Die zarten Augen an.


Er spielt nicht mehr, er ist bei mir,

Will nirgends anders sein;

Die kleine Seele tritt heraus

Und will zu mir herein.1

I

Schriftsteller, die eine besonders glückliche oder besonders unglückliche Kindheit erlebt haben, deren lebenslange Sehnsucht nach kindlicher Sicherheit, Liebe und Geborgenheit womöglich zu einer Obsession geworden ist, die sich um die eigene Kindheit betrogen gefühlt und in literarischen Phantasien das vermeintlich oder tatsächlich Entgangene zu kompensieren versuchten: solche Schriftsteller hat es vermutlich zu allen Zeiten gegeben. Diejenige literarhistorische Epoche aber, die bestimmt ist vom Übergang aus der späten Romantik in einen sich selbstbewusst dagegen absetzenden „Realismus“, gibt einem solchen Schriftsteller historisch einmalige Artikulationsmöglichkeiten: Was er als individuelle biographische Erfahrung zu formulieren (oder auszugeben) versucht, das trifft nun zusammen mit einer kollektiven philosophischen, psychologischen und literarischen Denkfigur. Die individuelle Kindheit, die eben erst, im 18. Jahrhundert, als sozialer und psychischer Erfahrungsraum entdeckt worden ist und deren Prophet Jean-Jacques Rousseau war:2 In Deutschland wird sie mit der Frühromantik zum Traumbild und, eben als Traumbild, zur geschichts- und kulturphilosophischen Leitmetapher. Und sie bleibt es in allen Ausläufern romantischen Denkens, bis in unsere Zeit.

Seine klassische und unüberbietbar knappe Formulierung hat dieses Bild bei Novalis gefunden. In dessen berühmtem 97. Blüthenstaub-Fragment von 1798 ist so lakonisch wie rätselhaft zu lesen:

Wo Kinder sind, da ist ein goldenes Zeitalter.3

Ausführlicher und anschaulicher lautet derselbe Gedanke bei Wilhelm Grimm, in der Vorrede zu den Kinder- und Hausmärchen 1819, so:

Darum geht innerlich durch diese Dichtungen jene Reinheit, um derentwillen uns Kinder so wunderbar und selig erscheinen: sie haben gleichsam dieselben blaulichweißen makellosen glänzenden Augen, die nicht mehr wachsen können, während die andern Glieder noch zart, schwach und zum Dienste der Erde ungeschickt sind.4

Kindheit und Goldenes Zeitalter: Entwurf von Philipp Otto Runge zu „Der Morgen“ (Ausschnitt). [1]

Diese beiden programmatischen Äußerungen umspannen zwei Jahrzehnte einer geschichtsphilosophischen Ideologisierung der Kindheit, für die sich eine Fülle weiterer Belege anführen ließe und die alle Wandlungen von Früh-, Hoch- und Spätromantik bemerkenswert überdauert. Das Kind ist danach der wahre, nämlich ursprünglich-unschuldige Mensch. Es repräsentiert deshalb das erste, ursprünglich-unschuldige Zeitalter der Menschheitsgeschichte; in der Lebensgeschichte jedes einzelnen Menschen wiederholt sich die große Geschichte der Menschheit, samt Paradies und Sündenfall. (Am Ende des 19. Jahrhunderts wird dieser Gedanke naturwissenschaftlich neu formuliert werden: in der Ontogenese wiederholt sich die Phylogenese.)

Was immer der Prozess der gesellschaftlichen Modernisierung an Dezentrierungs- und Fragmentierungserfahrungen mit sich bringt, von der arbeitsteiligen Gesellschaft über das Auseinandertreten von Mythos und Geschichte, Glaube und Wissenschaft bis zu den technischen, ökologischen, industriellen Umwälzungen der kapitalistischen Globalisierung: dem zum Idealbild erhobenen „Kind“ wird die Vereinigung des Entzweiten zugetraut, zugemutet. Was immer an Heils- und Erlösungsbedürftigkeit in der Welt der Erwachsenen erwacht, das Kind soll es heilen – wobei oft in der Schwebe bleibt, wie weit dabei von den jetzt lebenden Kindern und wie weit von jenem Kind die Rede ist, das die Erwachsenen einmal waren, wie weit von einem Idealbild und wie weit von kleinen Menschen aus Fleisch und Blut und mit „blaulichweißen Augen“. Gegen die gleichzeitig entdeckte Triebwelt der Geschlechtlichkeit soll das Kind eine unverdorbene Unschuld und Reinheit repräsentieren. Gegen die politischen Machtansprüche und Gewalten soll es die Flötentöne anstimmen, mit denen in Goethes Novelle der kindliche Knabe die ausgebrochenen Löwen und Tiger bezwingt. Gegen die sich immer weiter in Fachdisziplinen ausdifferenzierende Bildungskultur soll die Naivität der Volkskunst nicht aus irgendeinem wunderbaren Instrument ertönen, sondern aus dem kindlichen, also aus „Des Knaben Wunderhorn“.5

Weil für die Phantasie des Kindes noch „alles in der Natur belebt und beseelt“ ist, wie es Friedrich Schlegel in der Lucinde als „ein Ideal“ wahrer Kindlichkeit darstellt, 6 weil es in die Welt der Erwachsenen folglich „so neugierig und doch so bange“ hineinblickt, 7 deshalb soll das Kind gegen die Entzauberung der Welt die Geltung einer mythischen Weltsicht garantieren, die im Märchen ihre Spielform gefunden hat. So heißen denn auch die Geschichten, die gegen die napoleonische Besatzung eine vorgeblich unverfälschte deutsche Volkstradition mobilisieren sollen, nicht etwa in Analogie zu den weiteren Werken der Brüder Grimm ‚Deutsche Märchen‘, sondern unbedingt, mit einem zu diesem Zweck neu erfundenen Doppelbegriff, Kinder- und Hausmärchen.

Der beliebteste imaginäre Erlebnis- und Entfaltungsraum des solchermaßen romantisierten Kindes, sein deutsch-romantischer Paradiesgarten, ist der Wald. So sehr er in Volksmärchen und in der Kunstdichtung der Frühromantik als Inbegriff des Fremden, Unheimlichen und Bedrohenden figurieren kann, so deutlich erscheint er doch auch als räumliche Entsprechung heimatlicher Kindheit, als ein paradiesisch-zeitenthobener Naturraum. Das schlechthin vollkommene Bild romantischer Kindheit, ihr ikonographisches Grundmuster, ist deshalb das Bild der Kinder im wilden, aber im Hinblick auf sie und um ihretwillen traulichen Wald. Dem ersten Band der Kinder- und Hausmärchen haben die Brüder Grimm genau dieses Bild vorangestellt, als Illustration zu dem Märchen von Brüderchen und Schwesterchen.

Schlechterdings keine Sünde können solche per definitionem sündlos-unschuldigen Wesen begehen – außer der einzigen, die nicht vergeben werden kann: erwachsen zu werden. „Mir gegenüber das schöne Kind“, beginnt Achim von Arnims Gedicht Die arme Schönheit, und es erzählt vom Verlust der Unschuld in seiner anschaulichsten und drastischsten Erscheinungsform, der sexuellen. Seit das „schöne Kind“ angefangen hat, sich seiner Reize bewusst zu werden, sich zu schminken und kokett zu benehmen, seitdem ist es für den Sprecher dieser Verse zum Inbegriff der Verdorbenheit geworden. Wer das Gedicht nachlesen will, findet es leicht in einer der ambitioniertesten Gedichtanthologien des späteren 19. Jahrhunderts: in Theodor Storms Hausbuch aus deutschen Dichtern seit Claudius. Eine kritische Anthologie.8

Ludwig Emil Grimms Entwurf und Titelillustration für die „Kinder- und Hausmärchen“ der Brüder Grimm.

II

Storms Beschäftigung mit der deutschen Literatur setzte, das hat er selbst immer wieder betont, erst mit Verspätung ein. 1835 aus der deutsch-dänisch geprägten Husumer Gelehrtenschule (von deren Ausbildungsprinzipien hier im fünften Teil noch die Rede sein wird) ans Lübecker Katharineum gewechselt, an die nachmalige Schule Thomas Manns und Tonio Krögers, hat der achtzehn-, neunzehnjährige Storm in der Lektüre der deutschen Literatur seiner Zeit viel nachzuholen gehabt. In Lübeck habe er, so erinnert er sich später, zum ersten Mal gehört von dem, „was eben lebendig aufgetreten war, von den Romantikern“.9

Die erhaltenen Teile seiner Bibliothek bestätigen diese Erinnerung nachdrücklich. Die Werke von Novalis besaß bereits der junge Storm in der Ausgabe von Ludwig Tieck und Friedrich Schlegel (noch 1871 und 1872 werden sie in Briefen an Emil Kuh und Paul Heyse erwähnt).10 Schlegels Lucinde erwarb er bereits in der zweiten Auflage von 1835, 11 Clemens Brentano’s Frühlingskranz, herausgegeben von Bettine von Arnim, in der Ausgabe von 1844. Des Knaben Wunderhorn besaß er in der Erstausgabe (und kaufte es 1851 in der von Bettine und Wilhelm Grimm herausgegebenen Sammlung der Gesamtausgabe der Werke von Achim von Arnim gleich noch einmal).12 Die Schriften Ludwig Tiecks haben sich in seinem Nachlass immerhin in der achtundzwanzig Bände umfassenden Ausgabe erhalten, die von 1828 bis 1854 erschien. Auch Heines Gedichte, an denen er lebenslang mit großer Selbstverständlichkeit „fast ausschließlich die romantisch-liedhaften“ Züge wahrgenommen hat, 13 gehören zu den prägenden Leseeindrücken dieser frühen Zeit; das Buch der Lieder besaß Storm bereits in der Erstausgabe von 1827. Auf dem letzten Blatt hat er handschriftlich Heines Gedicht Frühlingsbotschaft von 1831 eingetragen: „Leise zieht durch mein Gemüth …“ Von der Bedeutung, die der Student den Dichtungen Eduard Mörikes beimaß, zeugt das Liederbuch dreier Freunde (später hat Storm von seiner Beziehung zu Mörike in dem Essay Meine Erinnerungen an Eduard Mörike berichtet);14 in nachgeordneter Position gehört schließlich auch Ludwig Uhland zu denen, deren lyrische Dichtungen sein Bild der Romantik bestimmten.

Vor allem mit Eichendorffs Werken aber habe er, so erinnert er sich später, seit 1836...

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