Theodor Storm – ein langer Nordfriese?
Als „lange Friesengestalt mit klugen grauen Augen“, hoch „aufgeschossen“, wortkarg, aber mit kräftiger Stimme, so stellen sich viele Theodor Storm vor und denken dabei unbewußt an den Deichgrafen Hauke Haien aus der „Schimmelreiter“-Novelle (III, 643, 685). Aber dieses Bild von dem Husumer Dichter ist als ganzes und in allen Details falsch.
Storm war von „kleiner Mittelgröße“, und den Oberkörper hielt er „etwas gebeugt“: Das bezeugt der Würzburger Professor Erich Schmidt, der sich unmittelbar nach seiner Begegnung mit dem Dichter im Jahre 1877 entsprechende Notizen gemacht hat1. Diesen Eindruck bestätigt Franziska von Reventlow, die Storm als junges Mädchen in ihrem Vaterhaus, im Husumer Schloß, erlebt hat; sie nennt ihn in ihren Erinnerungen einen „kleinen, etwas gebeugten Mann“2. Auch nach dem Zeugnis seines Dichterkollegen Wilhelm Jensen war Storm von „mittlerer Größe“3. Und von seiner ersten Begegnung im Jahre 1855 ist der Dichter dem Berliner Illustrator Ludwig Pietsch als ein „schlank gebauter, sich etwas gebückt haltender Herr“ im Gedächtnis geblieben4.
Also als „lang“ und „aufgeschossen“ darf man sich Theodor Storm nicht vorstellen.
Den „scharfen“ Blick und die „klugen grauen Augen“ Hauke Haiens (III, 644, 685) hatte Storm ebenfalls nicht. Gerade die Augen des Dichters sind den Zeitgenossen aufgefallen, und so gibt es zahlreiche Zeugnisse: Sie sprechen durchweg von „leuchtenden“ und „schönen glänzenden blauen Augen“5. Als z.B. die 23jährige Münchener Malerin Hermione von Preuschen den Dichter im Jahre 1877 besuchte, war sie zunächst zwar etwas enttäuscht (sie hatte sich ihn „jugendfrischer und männlicher“ vorgestellt); aber von seinen „seelenvollen Augen, in deren Tiefe es noch immer wetterleuchten konnte“, war sie tief beeindruckt6.
Wenn Wilhelm Jensen die Auffassung geäußert hat, daß den bekannten Bildern von Storm „das Eigentlichste an ihm“, das „seelische Gepräge, … die Freundlichkeit des Blickes“ fehle (S. 504), so kennen wir heute doch eine ganze Reihe von Beschreibungen, von Bildern, auch Fotos, die uns eine gute, wirklichkeitsgetreue Vorstellung von Storms Persönlichkeit geben.
Abb. 2: Theodor Storm 1857 in Heiligenstadt. Ölgemälde von N. Sunde (StA Husum).
Abb. 3: Storm um 1865 in Husum, Foto Ström (StA Husum).
Ludwig Pietsch z.B erinnert sich bei dem 37jährigen an ein „leicht gerötetes Antlitz“, das ein „koketter und gepflegter Schnurrbart schmückte“, von einem „dünnen, blonden Bart auf den Wangen und unter dem Kinn“ umgeben war und aus dem „ein paar blaue Augen“ mit einem „ganz seltsamem, schwärmerischem Glanz leuchteten“7. Die Ähnlichkeit mit dem 1857 in Heiligenstadt gemalten Porträt ist unverkennbar (vgl. Abb. 2). Storm selbst hat es als „sprechend ähnlich“ bezeichnet (an die Eltern, 31. 5. 57).
Natürlich hat sich das Antlitz des Dichters im Laufe der Zeit verändert. „Volles graues Haar und Bart“ attestiert ihm Erich Schmidt in seinen „Aufzeichnungen“ aus dem Jahre 1877, und die Fotos aus diesen Jahren bestätigen das (Abb. 3). Im Jahre 1886 war ein junger Pastor aus Mitau einige Tage im Hause des Dichters zu Besuch. In seinem „Juni-Reisetagebuch“ hat er uns seine Eindrücke geschildert und ein ausführliches Bild von Storm gezeichnet8:
„Ein freundliches, mild blickendes Gesicht, das schon den Siebziger verrät und doch vom Reize edlen Wohlwollens jugendlich verschönt erscheint, tritt (…) aus dem dunklen Hintergrunde der Stube mir grüßend entgegen – es ist der Dichter des , Immensee‘. Das Haar ist bereits schneeweiß, der geistvoll-gemütvolleKopf mit feinen Runenzügen einer reichen Geschichte des Herzens verrät bereits die Spuren des herannahenden Alters, aber das schöne, warme, sinnende Auge beweist auch hier wieder die Wahrheit, daß der echte Dichter nicht zu altern vermag und die ewige Jugend besitzt (…). Ganz besonders schön und leuchtend sah ich diesen unvergeßlich schönen Zug noch beim Abschied aus seinen Augen brechen.“
Aus dieser Beschreibung ergibt sich eine deutliche Verlebendigung des bekannten Altersfotos von 1886 (vgl. Abb. 4).
Die „lange Friesengestalt“ des Hauke Haien mit den „grauen Augen“ ist also ein Phantasieprodukt und hat mit Theodor Storm selbst keine Ähnlichkeit. Und auch ein „Friese“ war Storm seiner Herkunft nach nicht. Denn obwohl die Woldsen-Familie, der er mütterlicherseits angehörte, sich auf einen sagenhaften Stammvater aus dem südwestlich von Husum gelegenen, in der Sturmflut von 1634 untergegangenen Marschendorf Padelack zurückführt, gehört sie doch eher zum niederdeutschen als zum friesischen Kulturkreis; auch der Name „Wold“ (= platt- bzw. niederdeutsch: Wald) spricht dafür. Und von Vaterseite her stammte der Dichter bekanntlich von Geestbauern aus dem Raume Rendsburg ab (Storms Vater zu Eduard Mörike „ick bün man en Westermöhlner Burjung!“9).
Die Sprache des Dichters allerdings war hochdeutsch (also weder friesisch noch niederdeutsch):In der „Hohlen Gasse“, im Elternhaus, wurde – obwohl man natürlich des Plattdeutschen mächtig war und es auch gebrauchte – Hochdeutsch gesprochen. Charakteristisch z. B. ist die Bitte Storms an seine Braut, mit dem Hausmädchen „hochdeutsch“ zu sprechen (18. 7. 46).
Auch als Dichter hat Storm bewußt das Hochdeutsche benutzt und größten Wert darauf gelegt, daß die Erstdrucke seiner Novellen möglichst in „hochdeutschen“ Zeitschriften, bei Westermann in Braunschweig oder bei Paetel in Berlin, erschienen. Die drei plattdeutschen Gedichte, die er Groth widmete, wertete er als „Versuche“ und „Bagatellen“10. In den Novellen war das Plattdeutsche für ihn das Mittel, das es ihm ermöglichte, Angehörige bestimmter Berufe oder einer bestimmten Gesellschaftsschicht zu charakterisieren und seiner Dichtung plastische Wirklichkeitsnähe zu geben (z.B. in der Novelle „Bötjer Basch“, aber auch im „Schimmelreiter“).
Abb. 4: Storm im Jahre 1886 in Hademarschen. Foto Constabel (StA Husum).
Trotzdem war Storms Hochdeutsch vom Niederdeutschen beeinflußt11. Storms „etwas dünne, gemütvoll-schwerfällige Sprechweise“, sein „Timbre und Tonfall“, das war – nach Thomas Mann12 – „typisches Platt-Deutschland“. Aber auch eine gewisse Nähe zum Dänischen ist spürbar. Besonders das dänisch beeinflußte stimmlose „S“ im Anlaut ist den Zeitgenossen aufgefallen. Der Literaturhistoriker Erich Schmidt konstatiert nach seiner Begegnung mit Storm dessen „scharfe schleswigsche s (so sanft)“, und der Berliner Ludwig Pietsch erinnert sich noch nach Jahren bei ihm an „jene schleswigsche Aussprache des S-Lautes, welches dem Klange etwas eigentümlich Zartes, Lispelndes“ gibt13. Storm selbst bestätigt diese Aussagen indirekt, wenn der Erzähler in der Novelle „Ein Doppelgänger“ die Frau des Oberförsters an dem „scharfen S“ der Aussprache als aus seiner Heimatstadt gebürtig erkennt (III, 523).
Außenstehenden gegenüber hat Storm im allgemeinen den Eindruck eines ausgeglichenen, in sich ruhenden Mannes gemacht. Ferdinand Tönnies rühmt an ihm die „Harmonie“, die „selbständige Kraft“ und die „Wahrhaftigkeit“ (Gedenkblätter, S. 5); und dem Verleger Hermann Heiberg fiel das „außerordentliche Gelassene seines Wesens“ auf, die „große Ruhe“, die er ausstrahlte14.
Diese Gelassenheit aber war das Ergebnis innerer und äußerer Disziplinierung, mit der Storm Unsicherheiten und Depressionen in Schranken zu halten wußte. Nicht selten wurde er von Schwermutszuständen geplagt. Sie wurden vornehmlich verursacht von dem Gefühl der Vergänglichkeit. Die Vorstellung, daß der Einzelne nur „ein kleines Sandkörnlein der großen Welt“ ist, das „verweht und vergeht und vergessen wird“ (an die Braut, 13. 6. 46), hat ihn sein ganzes Leben hindurch immer von neuem beunruhigt.
Gegen diese Ängste hat Storm sich tapfer verteidigt und sich einen Raum geschaffen, in dem er „leben“ konnte. Da ist zunächst einmal die Familie (zu der er auch die engsten Freunde zählte), die ihm Trost und Kraft gab. In ihr fand er die Geborgenheit, die er zum Leben brauchte. Deshalb ist für ihn mit der „Familie in der Zerstörung“15, wie er sie besonders in den Novellen „Der Herr Etatsrat“, „Carsten Curator“ und „Hans und Heinz Kirch“ dargestellt hat, höchste menschliche Tragik verbunden, und deshalb empfindet er das traurige Schicksal seines alkoholsüchtigen Sohnes als „lebenszerstörend“ (an Hans, 22. 5. 71 u. 22. 12. 78). Dagegen ist die Liebe „für den sterblichen Menschen“ und insbesondere für ihn „das Höchste“ (u. a. an die Braut, S. 203). Mit dem Tod seiner Frau Constanze war daher die Geborgenheit zerstört, lebte er „in dem <ihn> nicht mehr loslassenden Gefühl der unaufhaltsamen, alles fortwehenden Vergänglichkeit“ (an Pietsch, 28. 8. 68). Erst mit der Wiederherstellung der Familie, nach der Wiederverheiratung, gewann bei Storm die Lebens- und Schaffensfreude wieder die Oberhand.
Der zweite Schutzwall, den Storm gegen die Vergänglichkeitsängste aufrichtete, war die Arbeit, das Dichten. Gegen das „quälende Räthsel des Todes“, so bekannte er seinem Dichterkollegen Eduard Mörike (3. 6. 65), – habe er den „stillen, unablässigen Kampf“ aufgenommen; vor ihm liege „Arbeit, Arbeit, Arbeit“. Deshalb konnten ihn Zeiten, die durch poetische Produktivität gekennzeichnet waren, in Hochstimmung versetzen; aber wenn seine Muse schlief, wenn sie...