|16|2 Diagnostik
2.1 Diagnostische Kriterien
Das DSM-5 (American Psychiatric Association [APA], 2013) gibt als Kritierien an:
Diagnostische Kriterien F60.5
- A.
Ein tiefgreifendes Muster von starker Beschäftigung mit Ordnung, Perfektion und psychischer sowie zwischenmenschlicher Kontrolle auf Kosten von Flexibilität, Aufgeschlossenheit und Effizienz. Der Beginn liegt im frühen Erwachsenenalter, und das Muster zeigt sich in verschiedenen Situationen. Mindestens vier der folgenden Kriterien müssen erfüllt sein:
Beschäftigt sich übermäßig mit Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Plänen, sodass der wesentliche Gesichtspunkt der Aktivität dabei verloren geht.
Zeigt einen Perfektionismus, der die Aufgabenerfüllung behindert (z. B. kann ein Vorhaben nicht beendet werden, da die eigenen überstrengen Normen nicht erfüllt werden).
Verschreibt sich übermäßig der Arbeit und Produktivität unter Ausschluss von Freizeitaktivitäten und Freundschaften (nicht auf offensichtliche finanzielle Notwendigkeit zurückzuführen).
Ist übermäßig gewissenhaft, skrupulös und rigide in Fragen von Moral, Ethik oder Werten (nicht auf kulturelle und religiöse Orientierung zurückzuführen).
Ist nicht in der Lage, verschlissene oder wertlose Dinge wegzuwerfen, selbst wenn sie nicht einmal Gefühlswert besitzen.
Delegiert nur widerwillig Aufgaben an andere oder arbeitet nur ungern mit anderen zusammen, wenn diese nicht genau die eigene Arbeitsweise übernehmen.
Ist geizig sich selbst und anderen gegenüber; Geld muss im Hinblick auf befürchtete künftige Katastrophen gehortet werden.
Zeigt Rigidität und Halsstarrigkeit.
Diagnostische Kriterien für die Zwanghafte Persönlichkeitsstörung nach DSM-5 (Abdruck erfolgt mit Genehmigung aus der deutschen Ausgabe des Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, Fifth Edition © 2013, Dt. Ausgabe: © 2015, American Psychiatric Association. Alle Rechte vorbehalten)
Die Kriterien des ICD-10 (Dilling, Mombour, Schmidt & Schulte-Markwort, 1994) sind:
Gefühle starken Zweifels und verstärkte Vorsicht;
Vorliebe für Details, Regeln, Listen, Ordnung, Organisation oder Schemata;
Perfektionismus, der Aufgabenerfüllung erschwert bzw. unmöglich macht;
|17|Übertriebene Gewissenhaftigkeit, Skrupel und Vorlieben für Produktivität auf Kosten von Genussfähigkeit und zwischenmenschlichen Beziehungen;
Pedanterie und übertriebene Anpassung an soziale Konventionen;
Rigidität und Sturheit;
Übertriebenes Bestehen darauf, dass andere sich völlig der Art und Weise unterwerfen, in der der Betreffende seine Aufgaben verrichtet bzw. übertriebene Zurückhaltung, Aufgaben an andere zu delegieren;
Auftreten von beharrlichen und unerwünschten Gedanken und Impulsen.
2.2 Charakteristika
Die Prävalenz von ZWA wird auf 7,8 % geschätzt, wobei Männer und Frauen gleich häufig betroffen sind (Grant, Mooney & Kushner, 2012). Im DSM-5 (APA, 2013) wird die Häufigkeit in der Bevölkerung auf 2,1 – 7,9 % geschätzt.
ZWA zeigen eine hohe Komorbidität mit paranoider, selbstunsicherer und Borderline-Persönlichkeitsstörung (Pfohl & Blum, 1995).
Personen mit ZWA haben Probleme mit Ertragen von Unsicherheit (Gallagher, South & Oltmanns, 2003); sie zeigen auch gelegentlich aggressive Ausbrüche (Villemarette-Pittman, Houston & Mathias, 2004).
Personen mit einer Zwangsstörung (auf Achse 1) haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, auch Aspekte einer ZWA aufzuweisen (Alpert et al., 1997; Eisen, Coles, Shea, Pagano, Stout, Yen et al., 2006; Garyfallos, Katsigiannopoulos, Adamopoulou, Papazisis, Karastergiou & Bozikas et al., 2010; Lochner et al., 2011; Ruppert, Zoudig & Konermann, 2007).
Dagegen weisen Personen mit ZWA nicht überproportional häufig eine Zwangsstörung auf (Baer, Jenike, Ricciardi & Holland, 1990; Joffe, Swinson & Regan, 1988; Rasmussen & Tsuang, 1986)
Weisen depressive Personen eine komorbide ZWA auf, steigt ihr Suizid-Risiko (Diaconu & Turecki, 2009; Raja & Azzoni, 2007).
Personen mit ZWA weisen eine erhöhte Komorbidität mit Depression auf (Bockian, 2006b).
Es gibt Hinweise auf erhöhte Komorbiditäten mit Depression (Hardy, Barkham, Shapiro, Stiles, Rees & Reynolds, 1995) und Angststörungen (Kasen, Cohen, Skodol, Johnson, Smailes & Brook, 2001).
Die zwanghafte Persönlichkeitsstörung (ZWA) ist vor allem durch eine extrem starke Normorientierung gekennzeichnet (Millon, 1996): Die Personen weisen starke Normen auf, an die sie sich sehr stark halten und die sie (z. T. sehr stark) einschränken. Die Personen leben damit in hohem Maße nach einem „ich muss“ bzw. „ich darf nicht“.
Die Klienten haben dabei die Normen, die für sie verbindlich sind, meist von wichtigen Bezugspersonen in der Biographie übernommen – sie haben sie nicht „frei |18|gewählt“: Sie haben diese Normen, das muss man beachten, nicht weil sie die „Inhalte“ der Normen so überzeugend fänden, sondern weil die Übernahme der Normen vor Angst schützt. Daher geht es nie wirklich um Inhalte: Es geht um psychische Funktionen.
Des Weiteren setzen die Personen starke Regeln: Anders als Narzissten setzen sie dabei aber keine ich-bezogenen, sondern „allgemeingültige“ Regeln der Form: „Man muss …“. Ähnlich wie Narzissten erachten sie sich selbst als „die Wächter der Regeln“ und gehen davon aus, dass sie berechtigt sind, Regelverletzer zu bestrafen.
Personen mit ZWA weisen im Grunde eine hohe Angst auf, „etwas falsch zu machen“, und was sie falsch machen können ist vor allem, die Normen zu verletzen. Und um nichts falsch zu machen, folgen sie übergreifenden Strategien, z. B.:
Der Strategie: Nicht spontan sein!
Denn spontan zu sein könnte leicht dazu führen, Dinge zu tun, die Normen verletzen: Also muss man immer „erst denken, dann handeln“, muss immer überlegen und abwägen, was zu einem hohen Ausmaß an Lageorientierung führt.
Der Strategie: Gefühle kontrollieren!
Gefühle zu haben, Gefühle zu zeigen oder gar nach Gefühlen zu handeln, kann sehr leicht zu einer Verletzung von Normen führen. Daher versucht die Person, alle Gefühle stark zu kontrollieren und kaum zuzulassen: Gefühle sind gefährlich.
Der Strategie: Das, was ich muss, ist wichtiger als das, was ich möchte!
Auch eigene Bedürfnisse können dazu führen, dass man Normen missachtet und verletzt: Also geht man besser davon aus, dass „eigene Bedürfnisse keine Rolle spielen“. Damit muss man sich aber auch gar nicht mit eigenen Bedürfnissen befassen und muss sie nicht kennen. Und diese Haltung führt dann konsequenterweise zu einem extrem hohen Ausmaß an Alienation.
Aufgrund dieser Strategien wirken Personen mit ZWA auf Interaktionspartner oft
steif und hölzern: unentspannt, kontrolliert, unauthentisch;
unspontan: die Person ist...