„Die Spaltung Deutschlands ist unnatürlich“ – Zur Einführung
Bernhard Vogel, damals Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, absolvierte im November 1985 seinen vielleicht ungewöhnlichsten Fernsehauftritt: Er nahm an einer ZDF-Sendung mit dem Titel „China auf dem Weg in das Jahr 2000“ teil, die live aus der Pekinger Beida-Universität in die Bundesrepublik Deutschland ausgestrahlt wurde – zu diesem Zeitpunkt eine echte Sensation. Vogel stellte sich einer von ZDF-Chefredakteur Reinhard Appel moderierten Diskussion mit 18 fließend deutschsprechenden Studenten und vier Professoren der Hochschule.
Auch die deutsche Teilung und die Frage einer möglichen Wiedervereinigung wurden thematisiert. Hierzu äußerte Vogel: „Die Spaltung Deutschlands ist unnatürlich. Stellen Sie sich bitte vor, mitten durch Peking ginge eine Mauer. Wir haben zwar keine Illusionen, und die Wiederherstellung der Einheit mag jenseits der Jahrhundertgrenze liegen, aber die Hoffnung geben wir nicht auf; und wir sehen darin auch für alle deutschen Nachbarn, im Sinne der Aufhebung der Spaltung, eine Chance.“1
Zum Zeitpunkt dieser Äußerung hätte Vogel es sich sicherlich nicht träumen lassen, dass nur vier Jahre später „die Öffnung der innerdeutschen Grenze die deutsche Frage wieder auf die Tagesordnung der Weltpolitik“2 setzen würde. Und vollends absurd wäre ihm wohl der Gedanke erschienen, dass er kurz danach zum Ministerpräsidenten von Thüringen gewählt werden könnte. Es ist dieses „Alleinstellungsmerkmal“ der zweimaligen Ministerpräsidentschaft, das wohl den meisten politisch interessierten Zeitgenossen in den Sinn kommt, wenn sie den Namen Bernhard Vogel hören. Sein Nachfolger im Amt des Vorsitzenden der Konrad-Adenauer-Stiftung, Hans-Gert Pöttering, drückte es zum 80. Geburtstag Vogels im Dezember 2012 pointiert so aus: „Er war nicht nur Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, sondern später auch von Thüringen – das ist fast so viel wie Bundeskanzler.“3
Dennoch ist Bernhard Vogel den meisten politisch Interessierten heute wohl nicht in erster Linie in Zusammenhang mit dem Feld der Deutschland- und Ostpolitik ein Begriff. Ähnliches gilt für die geschichts- und politikwissenschaftliche Literatur.
Seine Amtsführung und sein Politikstil als Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz sind Gegenstand einer kürzlich erschienenen politikwissenschaftlichen Untersuchung. Darin wird er angesichts seines auf Ausgleich und Moderation hin angelegten Führungsstils resümierend als „‚Bundespräsident‘ im Amt des Ministerpräsidenten“ charakterisiert.4
Daneben wird Vogel in der wissenschaftlichen Literatur als ungewöhnlich guter Kommunikator beschrieben, als „Mann der politischen Rede“, der sich eines diskursiven Politikstils befleißige.5 Die Zahl der Reden Vogels in seinen verschiedenen Funktionen und die Breite der darin behandelten Themen sind in der Tat durchaus ungewöhnlich.6
Mustert man die bisher vier Festschriften, die aus Anlass von „runden“ Geburtstagen Vogels erschienen sind,7 sowie zusammenfassende Würdigungen von Wissenschaftlern,8 so werden darin eine Reihe von Politikfeldern genannt, die man als zentrale Elemente von Vogels politischem Wirken betrachtet und auf denen man ihm deutlichen Einfluss zuspricht.
Es sind dies in der Regel die Bildungs- und Hochschulpolitik, die das zentrale Arbeitsgebiet als Kultusminister von Rheinland-Pfalz in den Jahren 1967 bis 1976 war. Ferner die Medienpolitik, die Vogel als Vorsitzender der Rundfunkkommission der Ministerpräsidenten (1976 –1988) und als Vorsitzender (1979 –1992) beziehungsweise stellvertretender Vorsitzender (1992–2007) des Verwaltungsrates des Zweiten Deutschen Fernsehens mitgestaltete. Hier spielte Rheinland-Pfalz eine Vorreiterrolle bei der Einführung des dualen Rundfunksystems aus öffentlich-rechtlichen und privaten Sendeanstalten in Deutschland. Genannt werden darüber hinaus seine Rolle als beliebter und in allen Regionen präsenter „Landesvater“ und die Tatsache, dass kein deutscher Politiker mehr Dienstjahre als Ministerpräsident aufweist und keiner länger dem Bundesrat angehörte. Hinzu kommt sein leidenschaftliches Eintreten für das föderale Prinzip, nicht zuletzt als zweimaliger Präsident des Bundesrates (1976/1977 und 1987/1988) und als Vorsitzender der Ministerpräsidentenkonferenz (1981/ 1982 und 1996/1997).
Mit der Gestaltung der bundesdeutschen Außenpolitik wird Vogel eher selten in Verbindung gebracht. Er selbst hat dezidiert die Auffassung vertreten, dass es zwar außenpolitisches Engagement, aber keine eigenständige Außenpolitik der Länder geben sollte.9 Er habe sich zwar stets sehr für Außenpolitik interessiert und diese auch aufmerksam verfolgt, seine politischen Schwerpunkte hätten aber auf anderen Gebieten gelegen. Auch sei es zu Beginn seiner Amtszeit als Ministerpräsident „noch nicht üblich“ gewesen, „sich so intensiv außenpolitisch zu engagieren“.10 An derartigen Aktivitäten genannt werden in der Literatur,11 aber auch durch ihn selbst,12 das Bemühen um Versöhnung mit dem polnischen Volk und mit Israel. Hinzu kamen die Pflege der Beziehungen zum Nachbarland Frankreich, unter anderem als Bevollmächtigter der Bundesrepublik Deutschland für kulturelle Angelegenheiten im Rahmen des deutsch-französischen Vertrages (1979 –1982) sowie einer Partnerschaft zwischen Rheinland-Pfalz und der Region Burgund. Ebenfalls in seine Zeit als Ministerpräsident fiel seine Initiative für eine 1982 vereinbarte Partnerschaft mit Ruanda – der ersten zwischen einem Land der Bundesrepublik Deutschland und einem damals so genannten Dritte-Welt-Staat – sowie das Knüpfen von Wirtschaftsbeziehungen zur Volksrepublik China auf Länderebene. Als Ministerpräsident von Thüringen zeichnete Vogel verantwortlich für den Aufbau und die Institutionalisierung von Partnerschaften mit Ungarn und der polnischen Region Klein-Polen.
Was die Deutschlandpolitik angeht, so sind die Aussagen über Vogel in der einschlägigen Literatur bisher spärlich. In Bezug auf seine Amtszeit als rheinland-pfälzischer Ministerpräsident etwa findet sich allenfalls der Hinweis, dass er nach dem Bundestagswahlkampf 1987, in dem eine sehr pointierte Äußerung von Helmut Kohl über „KZs“ in der DDR für deutsch-deutsche Verstimmungen gesorgt hatte, im Auftrag des Bundeskanzlers bei einem Gespräch mit Honecker die Wogen geglättet und den Gesprächsfaden wieder aufgenommen habe.13 Erhebliches Aufsehen und Missklänge hatte schon im Sommer 1982 die Weigerung der DDR-Behörden gesorgt, Vogel zu einem privaten Besuch einreisen zu lassen.
Anders als mancher seiner Kollegen hat Bernhard Vogel der Versuchung widerstanden, sich öffentlich deutschlandpolitisch zu profilieren oder gar eine eigene (Neben-) Deutschlandpolitik von Mainz aus zu betreiben. Dennoch hat er der deutschen Frage und der Deutschlandpolitik Zeit seines gesamten politischen Lebens große Aufmerksamkeit gewidmet, sich dabei aber lange offizieller Kontakte zum Staats- und Parteiapparat der DDR enthalten und in erster Linie im Rahmen von jährlichen Privatreisen den Kontakt zu den Menschen im anderen Teil Deutschlands gesucht.
Im Jahre 2012 veröffentlichte der Mitteldeutsche Rundfunk ein Feature, in dem – ausführlich aus Unterlagen aus dem Archiv des Bundesbeauftragten für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes der ehemaligen DDR (BStU) zitierend – die Überwachung dieser Besuche durch Mitarbeiter des Mielke-Imperiums geschildert wurde.14 Der Verfasser nahm dies zum Anlass, auf der Grundlage der MfS-Unterlagen einen wissenschaftlichen Beitrag zum Vorgehen der Staatssicherheit gegenüber Bernhard Vogel zu verfassen.15 In diesem Kontext entstand die Überlegung, angesichts von Vogels Interesse an der Problematik dessen deutschland- und ostpolitische Positionen und Aktivitäten breiter zu untersuchen und darzustellen. Bei genauerem Hinsehen zeigte sich nämlich, dass es Phasen und Ereignisse gab, in denen sein Einfluss, trotz der beschriebenen Zurückhaltung, keineswegs unbedeutend, ja sogar erheblich war. Das gilt besonders für ein Tätigkeitsfeld, das zentraler Bestandteil seiner Biographie ist: Dem über Jahrzehnte hinweg andauernden Engagement im deutschen Laienkatholizismus, vor allem im Zentralkomitee der deutschen Katholiken, dem er von 1967 bis 2008 angehörte und dessen Präsident er von 1972 bis 1976 war.
In dieser Funktion sah er sich, wie auch viele Repräsentanten der bundesdeutschen Politik, der deutsche Episkopat und zahlreiche katholische Laien in Deutschland mit der Strategie des Vatikans konfrontiert, den Regierungen des Ostblocks durch Entgegenkommen in organisatorischen und personellen sowie Statusfragen Freiräume für die Seelsorge abzuhandeln und den Bestand der Kirchenorganisation zu sichern. Dies betraf nicht zuletzt die Neucircumscription der Bistümer in Deutschland und den nach dem Potsdamer Abkommen unter polnische Verwaltung gestellten Gebieten östlich von Oder und Neiße. Hinzu kam die Frage einer Verselbständigung der katholischen Kirche in der DDR durch die Einrichtung einer eigenständigen Bischofskonferenz sowie die zeitweise geplante Entsendung eines Apostolischen Nuntius nach Ost-Berlin und damit die diplomatische Anerkennung der DDR durch den Heiligen Stuhl. In all diesen Punkten signalisierte die vatikanische Diplomatie gegenüber dem SED-Regime seit Anfang der 1970er Jahre Gesprächsbereitschaft.16
In seiner Zeit als ZdK-Präsident verwandte Vogel als wichtiger Akteur in der Ablehnungsfront des deutschen Katholizismus gegenüber den römischen...