1 Entwicklungspsychologische Grundlagen
Eva Maria Krentz
1.1 Einleitung
Das Gebiet der Entwicklungspsychologie befasst sich mit der
Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung
von menschlichem Erleben und Verhalten
unter dem Aspekt der Veränderung über die gesamte Lebensspanne.
Während die Beschreibung, Erklärung, Vorhersage und Beeinflussung von Sachverhalten ganz allgemein Wissenschaft und Forschung ausmachen und das menschliche Erleben und Verhalten Themen der Psychologie sind, bezieht sich der Aspekt der Veränderung über die gesamte Lebensspanne spezifisch auf die Entwicklungspsychologie. Die fundierte Kenntnis über normgerechte Entwicklungsabläufe bei Kindern und Jugendlichen ist eine wichtige Grundlage, um Störungen und Abweichungen erkennen und behandeln zu können.
Es existieren verschiedene Annahmen über den Ablauf von Entwicklungsprozessen. Klassische Modelle sind häufig Phasen- oder Stufenmodelle. Phasenmodelle postulieren ein bestimmtes, in diesem Lebensabschnitt vorherrschendes Thema. Ein typisches Phasenmodell ist das Modell der psychosozialen Entwicklung von Erik Erikson ▶ [493], das in ▶ Tab. 1.1 dargestellt wird. In Stufenmodellen gibt es aufeinander aufbauende Entwicklungsschritte, die auf einen Endzustand hinauslaufen. Auf jeder Stufe wird ein qualitativ neuer Schritt erlernt, es findet also nicht nur kontinuierliches Wachstum statt. Ein typisches Stufenmodell stammt von Piaget ▶ [1439], auf das im Kapitel zur kognitiven Entwicklung näher eingegangen wird.
Tab. 1.1 Die 8 Phasen der Entwicklung des Menschen nach Erik Erikson
▶ [493].
Altersbereich | Krise | Bedeutung |
1. Lebensjahr | Vertrauen vs. Misstrauen | Vertrauen durch verlässliche Bezugspersonen |
2. und 3. Lebensjahr | Autonomie vs. Scham und Zweifel | Ein gewisses Maß an Autonomie erlangen (auch in Bezug auf die Kontrolle der Ausscheidungen); Scham und Zweifel bei überkontrollierenden Bezugspersonen |
4. und 5. Lebensjahr | Initiative vs. Schuldgefühl | Identifikation mit Bezugspersonen; Herausbildung von Gewissen |
mittlere Kindheit | Leistung vs. Minderwertigkeitsgefühl | Erfolge erzielen (auch schulisch); Minderwertigkeitsgefühle durch Über- oder Unterschätzung |
Jugendalter | Identität vs. Rollenkonfusion | pubertäre Veränderungen; Frage nach dem „Wer bin ich“; Selbstkonzept mit verschiedenen Facetten |
Beginn des Erwachsenenalters | Intimität vs. Isolierung | Eingehen von Liebesbeziehungen; Vertiefung von Freundschafen |
mittleres Erwachsenenalter | Generativität vs. Stagnation | produktive Wirkung für andere Menschen oder die Gemeinschaft; Interesse an der Erzeugung und Erziehung der nächsten Generation |
spätes Erwachsenenalter | Ich-Integrität vs. Verzweiflung | Reflexion über das eigene Leben; Gefühl, Teil einer umfassenden Geschichte zu sein; Akzeptieren der Begrenztheit des menschlichen Lebens |
Klassische Phasen- und Stufenmodelle werden der Komplexität der menschlichen Entwicklung nicht gerecht. Moderne interaktive multifaktorielle Ansätze verwenden daher oft einen weiteren Entwicklungsbegriff, der auch Verluste in der Entwicklung berücksichtigt und eine lebenslange Entwicklung postuliert. Zudem werden differenzierte Entwicklungsverläufe betrachtet, die in unterschiedlichen Bereichen stattfinden. Es wird somit Abstand genommen von einem universell gültigen, übergreifenden Entwicklungsmodell.
Bei der Betrachtung von Entwicklungsverläufen ist von besonderem Interesse, wo die Entwicklung kontinuierlich verläuft und wann sprunghafte Veränderungen zu verzeichnen sind. Beim Kontinuitätsbegriff kann zwischen absoluter und relativer Stabilität unterschieden werden. Absolute Stabilität bedeutet Stillstand, beispielsweise wenn kein Körperwachstum stattfindet. Bei relativer Stabilität hingegen behält ein Individuum seine Stellung in der Gruppe in Bezug auf ein bestimmtes Merkmal. So wächst z.B. ein Kind in dem Ausmaß, in dem andere gleichaltrige Kinder in dem Zeitraum durchschnittlich ebenfalls wachsen.
Eine Gliederung der Inhalte der Entwicklungspsychologie kann nach Lebensalter oder nach Funktionsbereichen erfolgen. Die Einteilung in Altersbereiche ist hilfreich, wenn bei einem Kind oder Jugendlichen der Entwicklungsstand zu einem bestimmten Zeitpunkt beurteilt werden soll. Allerdings ist Lebensalter für sich genommen kein Hauptfaktor der Entwicklung, wie diese Einteilung suggerieren könnte. Forschungsansätze konzentrieren sich häufig auf ausgewählte Funktionsbereiche (z.B. Kognition oder Motorik), wobei jedoch nicht vernachlässigt werden sollte, dass die verschiedenen Bereiche gerade im Kindesalter zusammenhängen. Im Folgenden werden daher zunächst ausgewählte Funktionsbereiche vertieft. Zur Übersicht wird abschließend für jedes Lebensalter zusammenfassend dargelegt, welche Meilensteine der Entwicklung zu verzeichnen sind.
1.2 Entwicklung ausgewählter Funktionsbereiche
Die Entwicklungspsychologie ist ein weites Forschungsgebiet, aus dem einzelne Bereiche hier herausgegriffen und im Überblick dargestellt werden. Eine ausführliche Darstellung findet sich z.B. bei Schneider und Lindenberger ▶ [1662] oder Hasselhorn und Schneider ▶ [790].
1.2.1 Motorische Entwicklung
Die Entwicklung der Grobmotorik verläuft in den ersten beiden Lebensjahren – vereinfacht ausgedrückt – vom Kopf (Kopfkontrolle) zu den Füßen (Laufenlernen). Das Kind ist durch die zunehmenden motorischen Fähigkeiten immer besser in der Lage, seine Umwelt zu explorieren und sich in ihr fortzubewegen. In den ersten Lebensmonaten lernt ein Säugling, seinen Kopf zu heben und ihn frei zu bewegen. So kann er sich Objekten zu- oder von ihnen abwenden. Das freie Sitzen ist ein weiterer bedeutender Schritt, der im Durchschnitt mit 6...