2. Die Folgen
2.1 Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS)
Dass Angst und Schrecken Auswirkungen auf die Psyche haben, wurde erst in der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrhunderts erkannt. Insbesondere haben Page und Kraepelin (1856–1926) mit Begriffen wie „general nervous shock“ und „Schreckneurose“ maßgeblich dazu beigetragen, dass man diese Zusammenhänge ernst nahm. Im Ersten wie im Zweiten Weltkrieg hat sich gezeigt, dass Soldaten auf Kampf- und Kriegserfahrungen mit verschiedenen Symptomen reagierten, die die Alliierten „Shell-Shock“, Gefechtsneurose oder Kampfesmüdigkeit nannten, die jedoch, so die damalige Ansicht, nur die Minderwertigen und Nutzlosen befiel. Erst der Vietnamkrieg verhalf einer realistischeren und differenzierteren Sichtweise und damit der Psychotraumatologie zum Durchbruch. Langsam musste akzeptiert werden, dass nicht nur die schwachen Naturen auf schreckliche Ereignisse mit psychischen Symptomen reagieren, sondern auch psychisch gesunde und stabile Menschen (vgl. Maercker 2009).
Zudem konnte man nicht mehr übersehen, dass andere Extremerfahrungen wie sexuelle Gewalt, Folter oder Unfälle ähnliche Reaktionen zeitigten. Bereits in den 1970er-Jahren hatten Studien, die sich mit den basalen kognitiven Prozessen der Verarbeitung traumatischen Stresses befassten, auf ein für die Posttraumatische Belastungsstörung typisches Symptommuster verwiesen: Intrusionen, Vermeidung und Schuldgefühle (vgl. Maercker 2009). 1980 wurde die Posttraumatische Belastungsstörung erstmals in das amerikanische Diagnosehandbuch (DSM) aufgenommen. In den Klassifikationssystemen ICD und DSM finden sich in den aktuellen Definitionen immer noch von Horowitz (1974) beobachtete Symptome Intrusionen und Vermeidung. Die Aufzählung wurde noch um Hyperarousal (erhöhtes psychophysiologisches Erregungsniveau, Übererregung) sowie um einen Zeitfaktor (Symptomdauer länger als ein Monat) erweitert.
PTBS-Symptome
Betrachten wir die Symptomtrias der PTBS, Intrusionen, Vermeidung und Hyperarousal, etwas genauer:
Intrusionen zeigen sich durch Bilder, Geräusche oder andere lebhafte Eindrücke des traumatischen Geschehens, die in den Schlaf eindringen und sich in Form von sich wiederholenden Träumen oder Albträumen oder in sehr realistischen, detailgetreuen Flashbacks manifestieren, die den Betroffenen aus der Gegenwart in die Vergangenheit und in das traumatische Geschehen katapultieren.
Zu den intrusiven Wahrnehmungen zählen jedoch nicht nur Bilder oder lebhafte Eindrücke; auch körperliche Empfindungen, die sich in einer Hier-und-Jetzt-Qualität im Körper abspielen, haben intrusiven Charakter. Die Dehnung der Muskeln beim Strecken der Arme über den Kopf kann als wohltuend empfunden werden, für ein Folteropfer jedoch wird sie möglicherweise zum somatosensorischen[3] Trigger, der an die Vergangenheit und die Peiniger erinnert.
Ein Hyperarousal zeigt sich vor allem in körperlichen Reaktionen. Wie aus dem Nichts stockt der Atem und der Körper versteift sich. Das Herz setzt für einen Augenblick aus, um dann umso heftiger zu schlagen. Patienten können unter somatoformen Dissoziationsphänomenen wie unerklärlichen körperlichen Empfindungen oder Körperreaktionen und -symptomen leiden sowie unter somatosensorischen Erinnerungen bzw. flashback-artigen Körpersensationen, die sich bei traumatischen Erinnerungen zeigen. Vielfach sind diese körperlichen Symptome schambesetzt und werden deshalb verschwiegen oder die Patienten haben bereits mannigfache Abklärungsversuche hinter sich, ohne dass ein medizinischer Befund gestellt werden konnte. Überdies kann ein Trauma die Erregungsschwelle des autonomen Nervensystems senken. Das heißt, Belastungen wirken früher, nachhaltiger und schon kleinere Belastungsreize führen zu einer stärkeren Erregung. Das Hyperarousal kann sich in Form von Ein- und Durchschlafstörungen zeigen, ebenso wie in erhöhter Wachsamkeit (Hypervigilanz), der Unfähigkeit, sich zu entspannen, und Schreckhaftigkeit (vgl. Maercker 2009).
Die Betroffenen versuchen mit allen Mitteln Traumatrigger wie Gedanken, Aktivitäten, Orte, Menschen und auch körperliche Sensationen, die sie an das traumatische Geschehen erinnern, zu vermeiden. Patienten berichten, dass sie sich emotional taub und entfremdet fühlen (Numbing). Das Abflachen der Gefühlswelt sowie ein anhaltendes Empfinden allgemeiner Entfremdung beziehen sich nicht nur auf das persönliche und gesellschaftliche Umfeld, es betrifft auch den eigenen Leib, der sich zur Gänze oder in Teilen betäubt anfühlt. Vielen Patienten ist diese Taubheit gar nicht bewusst, denn sie haben sich daran gewöhnt.
2.2 Komplexe Traumafolgestörung, Bindungs- und Entwicklungstrauma
Eine komplexe Traumafolgestörung wird dann diagnostiziert, wenn das klinische Bild über die o.g. klassischen PTBS-Symptomgruppen hinausgeht. Es zeigen sich beispielsweise Störungen der Affektregulation, depressive Symptome, Angststörungen und Panikattacken; Bindungsstörungen mit großem Misstrauen oder mangelndem Selbstschutz, mangelnde Selbstfürsorge und Viktimisierung anderer oder eine Opferhaltung (vgl. Maercker 2009).
Ein Bindungs- und Entwicklungstrauma hinterlässt noch tiefere Spuren im Leben des Menschen. Je jünger der Betroffene zum Zeitpunkt der traumatisierenden Erfahrungen ist, umso einschneidender sind die Folgen. Werden die Empfindungen und Gefühle nicht von einer Bindungsperson von außen beruhigt – vermag diese also nicht angemessen auf die Bedürfnisse des Kindes einzugehen –, wird das noch nicht ausgereifte Gehirn von Stresshormonen überschwemmt, was seiner Entwicklung schadet. „Komplexe posttraumatische Belastungsstörungen sind immer auch Bindungsstörungen“ (Wöller 2006, S. 40).
Nicht allein der Zeitpunkt der seelischen Erschütterung, sondern die Zerstörung des Urvertrauens gegenüber der Person, von denen das Kind Schutz erwartet, ist der gravierendste Moment für die kindliche Entwicklung (Steele 1994). Das bedeutet, dass der Einfluss interaktiver Erfahrungen zwischen dem Kind und seiner primären Bezugsperson eine noch wichtigere Rolle spielt als die traumatischen Ereignisse (Stern 1985). Wollen wir komplex traumatisierte Menschen verstehen, ist die Bindungstheorie von Mary Ainsworth, die sie in den 1970er-Jahren entwickelte, hilfreich. Sie unterteilt das Verhalten von einjährigen Kindern in der „fremden Situation“ (kurze Trennung von der Mutter) in Bindungskategorien von „sicher“, „unsicher-ambivalent“, „unsicher-distanziert“ und „desorganisiert“ (Grossmann 2011).
Bei sicher gebundenen Kindern erfüllt die Bezugsperson die Rolle des „sicheren Hafens“, der immer dann Schutz bietet, wenn das Kind dessen bedarf. Unsicher-ambivalenten wie unsicher-distanzierten Kindern fehlt die Zuversicht bezüglich der Verfügbarkeit ihrer Bindungsperson. Der einzige Ausweg aus der belastenden bedrohlichen Situation ist die Beziehungsvermeidung. Unsicher-ambivalent gebundene Kinder zeigen sich ängstlich und abhängig von ihrer Bindungsperson, da deren Verhalten weder vorhersagbar noch nachvollziehbar ist. Der permanente Wechsel von zugewandtem und abweisendem Verhalten führt dazu, dass das Bindungssystem des Kindes ständig aktiviert sein muss. Diese Kinder können keine positive Erwartungshaltung aufbauen, weil die Bindungsperson, selbst wenn sie in der Nähe ist, keinen zuverlässigen Schutz bietet.
Traumatisierte Kinder weisen häufiger als nicht-traumatisierte Kinder eines der beiden unsicheren Bindungsmuster auf. Ein weiteres Bindungsmuster, das der desorganisierten Bindung, wird vor allem mit Vernachlässigung und Misshandlungen in Zusammenhang gebracht. Diese Kinder leiden darunter, dass der Mensch, der Schutz garantieren soll, selbst eine Bedrohung darstellt oder unter den Folgen eines eigenen Psychotraumas leidet. Weist die traumatisierende Bezugsperson ein ängstigend-erschreckendes oder ein ängstlich-erschrockenes Verhalten auf, kann das Kind keine einheitliche Bindungsstrategie entwickeln, um Schutz und Trost zu erlangen. Es verhält sich vermeidend- oder anklammernd-desorganisiert, was sich darin zeigt, dass es Nähe sucht und sich im selben Atemzug aggressiv verhält oder zurückweicht.
Muss sich ein Kind vor der Person schützen, von der es natürlicherweise Schutz braucht, befindet es sich in einer ausweglosen Situation. Es kann keine erfolgreiche Strategie entwickeln, um mit den engsten Bezugspersonen in Kontakt zu treten, und bleibt demzufolge in einem Annäherungs-Vermeidungs-Konflikt stecken. Auch im Erwachsenenleben zeigt sich dieses Beziehungsverhalten und wird auch in der Therapie sichtbar (vgl. Wöller 2006).
Auswirkungen von Bindungstraumata
Ein Kind, das mit nicht einstimmungsfähigen Bezugspersonen aufwächst, die auch seine emotionalen Zustände weder spiegeln noch regulieren können, ist in einem permanenten Stresszustand. Häufig wird die Beziehung zu diesen Bezugspersonen abgebrochen und lange nicht wieder aufgenommen.
Wird der Bruch nicht gekittet, bleibt das Kind zu lange und zu häufig in seinem dysregulierten Zustand mit seinen intensiven negativen Affekten allein. Der Kortisolspiegel und andere Stresshormone können sich dauerhaft erhöhen, was gravierende und langfristige Auswirkungen auf die Stressregulationsfähigkeit der Betroffenen hat. Da traumatisierende Elternfiguren außerstande sind, die Unterbrechung der Bindungsbeziehung durch beruhigendes und tröstendes Verhalten zu „reparieren“, lösen im Erwachsenenalter eben diese Erfahrungen beim Eingehen enger intimer Beziehungen – bei aller Sehnsucht danach – Angst und Unsicherheit aus. Die Sorge, dass das eigene Fehlverhalten zum irreparablen...