Einführung: Warum Die Stärken
der Stillen, und warum jetzt?
Arbeiten Sie in einer Firma? Oder vielleicht in einer gemeinnützigen Organisation, die Spendengelder einwirbt?
Arbeiten Sie in einer Behörde, die Aufträge an Firmen vergibt?
Sind Sie Unternehmer oder Freiberufler, der Güter oder Leistungen anbietet?
Arbeiten Sie im Technologiesektor, in einem Ingenieurbüro oder in der Wissenschaft?
Arbeiten Sie im Vertrieb, Marketing, Projektmanagement, in der Lehre, im Gesundheitswesen, im Rechtssystem oder in der öffentlichen Verwaltung?
Tatsächlich muss jeder, der in einem anspruchsvollen Beruf arbeitet, andere überzeugen. Von Seoul bis Seattle verlangt die konkurrenzorientierte Arbeitswelt, auf vielerlei Situationen und Menschen Einfluss auszuüben – nicht nur hin und wieder, sondern mehrmals jeden Tag. Obwohl es bei Einflussnahme manchmal um wirklich große Probleme und Chancen geht, dient sie häufig eher dem Zweck, Veränderungen in kleinen Schritten voranzutreiben.
Renommierte Forscher wie Jay Conger (Autor des Buches The Necessary Art of Persuasion [„Die notwendige Kunst der Überzeugung“]) sind zu dem Ergebnis gekommen, dass es ein Prozess ist und kein Ereignis, Ideen zu verkaufen und Menschen zu gewinnen.[2] Einfluss kann man nicht ausüben, indem man Menschen dazu drängt, die Dinge ebenso zu sehen wie man selbst, sondern vielmehr, indem man von anderen lernt und sich mit ihnen auf eine gemeinsame Lösung einigt. Dieser Ansatz passt sehr gut zum Temperament eines introvertierten Menschen – er erfordert Geduld, Planung und Beharrlichkeit. Wenn wir alle denken, die einzige Art, Dinge zu erledigen, bestehe darin, immer lauter zu reden und sich immer mehr in den Vordergrund zu drängen, werden wir die Chance verpassen, zuzuhören, zu lernen und rücksichtsvoll zu reagieren.
Es scheint so, als ob unsere Gesellschaft allmählich anfängt, diese Botschaft zu verstehen. Extrovertierte kommen langsam (sehr langsam, sagen manche) zu der Erkenntnis, dass wir auf die Weisheit und die Leistungen von über der Hälfte der Bevölkerung verzichten müssen, wenn wir nicht auf die Introvertierten in unserer Welt hören. Seit 2009 mein vorheriges Buch The Introverted Leader: Building on Your Quiet Strength („Die introvertierte Führungspersönlichkeit: So bauen Sie auf Ihre stillen Stärken“) erschien – das erste Buch über introvertierte Führungspersönlichkeiten –, haben zahlreiche andere Bücher (darunter Susan Cains 2012 erschienener New-York-Times-Bestseller Still: Die Kraft der Introvertierten), viele Fachartikel und die sozialen Medien für die Sache der Introvertierten unter uns geworben. Für mich war es sehr befriedigend, überall solche Diskussionen zu erleben.
Darüber hinaus scheinen die Extrovertierten zu beginnen, die Unterschiede auch auf einer persönlichen Ebene zu verstehen – obwohl sie es nie wirklich erleben werden, wie ein Introvertierter sich tatsächlich fühlt. Sie drücken mir ihre Kugelschreiber in die Hand, damit ich Exemplare des Buches The Introverted Leader signiere, für ihre Söhne, Ehepartner und Geschwister, die sie nie wirklich verstanden haben. Aus solchen persönlichen Verbindungen erwächst die Hoffnung auf einen breit angelegten gesellschaftlichen Wandel.
Aber die vielleicht stärkste Motivation, dieses Buch zu schreiben, liegt darin, dass es dazu beitragen kann, in der heutigen, im steten Wandel begriffenen Arbeitswelt erfolgreich zu sein. Die folgenden vier Trends zeigen, dass die Zeit für Die Stärken der Stillen gekommen ist:
1. Flache Hierarchien und komplexe Interaktionen mit Anbietern, Lieferanten und Kunden bedeuten, dass Sie Ihren Ideen effektiv Gehör verschaffen müssen, und zwar ganz unabhängig von Ihrer beruflichen Stellung oder Ihrem Persönlichkeitstyp. Die Tage, als Sie sich auf Ihren Chef – oder den Chef Ihres Chefs – verlassen konnten, um Ihre Sache zu vertreten, sind passé. Heutzutage müssen Sie selbst die entscheidenden Beziehungen knüpfen und wichtige Botschaften vermitteln.
2. Globalisierung bedeutet, dass Sie verschiedene Wege finden müssen, um einen immer vielfältigeren Kreis von Kollegen und Kunden zu überzeugen. So wird zum Beispiel Ihr nachdenklicher und ruhiger Stil bei Ihren Kollegen in Asien wesentlich bessere Wirkungen erzielen als ein traditionell extrovertierter Ansatz. Sie können Ihre stille Überzeugungskraft dazu nutzen, in solchen Kulturen Einfluss zu nehmen, die ein ruhigeres Vorgehen schätzen.
3. Die virtuelle Welt entwickelt sich rapide und ist allgegenwärtig. In der heutigen Gesellschaft wird es Ihnen wahrscheinlich kaum gelingen, ohne den gezielten Einsatz digitaler Medien eine größere Gruppe von Menschen zu überzeugen. Dabei könnten Introvertierte als besonders überlegte Nutzer von sozialen Medien die Nase vorn haben. Für sie sind die sozialen Medien attraktiv, weil sie es ihnen ermöglichen, ihre Stärken zur Geltung zu bringen und besser zu managen, was sie kommunizieren. Sie und andere stille Überzeuger, die bereits darin investiert haben zu lernen, mit den sozialen Medien umzugehen und sie zu nutzen, sind besser darauf vorbereitet, den Wandel von morgen herbeizuführen als andere Überzeuger, die diese Technologien ignoriert haben.
4. Stärkerer Wettbewerb um Aufträge und Arbeitsplätze bedeutet, dass die Unternehmen Zulieferer und Mitarbeiter suchen, die frische, innovative Ansätze mitbringen. Tatsächlich sind extrovertierte Selbstanpreisungen und lautes Beeinflussen passé – heute werden Sie sich von der Masse abheben, wenn Sie die Begabung haben, andere aufzubauen, und gut zuhören können, statt immer nur selbst zu reden.
Da stiller Einfluss Ihnen ohnehin von Natur aus liegt, können diese Trends Ihnen den Impuls geben, diese Fertigkeiten auszubauen. Ihre Zeit ist gekommen. Dieses Buch wurde geschrieben, um Ihnen und den Millionen anderen Introvertierten zu helfen, sich Ihrer angeborenen Überzeugungskraft bewusst zu werden, sie weiterzuentwickeln und in den Vordergrund zu rücken. Zusammen stellen Sie etwa 50 Prozent der Weltbevölkerung, und Sie können in Organisationen und Gemeinschaften in aller Welt einen großen Unterschied bewirken. Ich möchte Sie dazu ermutigen, den Erfolg Ihrer Qualitäten zu feiern und die Kunst des Überzeugens zu üben, ohne viel Aufhebens davon zu machen.
Ich bin davon überzeugt, dass in dem Maße, wie sich diese Trends verstärken, das gesellschaftliche Bewusstsein sich wandeln wird und die Extrovertierten sich immer stärker darum bemühen werden, von den Introvertierten in ihrem Umfeld und ihrer stillen Überzeugungskraft zu lernen. Viele Extrovertierte erkennen, dass sie wirkungsvoller, flexibler und anpassungsfähiger überzeugen können, wenn sie eine größere Vielfalt von Ansätzen in ihr Überzeugungsrepertoire aufnehmen.
Ich gebe es zu: Auch ich bin ein solcher extrovertierter Mensch. Auch ich musste erst lernen, wie ich etwas bewirken kann, ohne viel Aufhebens davon zu machen. Im Laufe meines Berufslebens habe ich lange die fragwürdige Überzeugung hochgehalten, dass der Typ-A-Ansatz, der darauf aufbaut, viel zu reden und das Rampenlicht zu suchen, die besten Ergebnisse produziert. Ich bin Rednerin, Führungskräftecoach und Autorin, deren Aufgabe darin besteht, andere davon zu überzeugen, neue Ansätze in ihrem Leben auszuprobieren. Natürlich bedeutet das, so dachte ich zumindest, „ganz vorn mitzumischen“ und „den Laden zu schmeißen“. Ich war hektisch, improvisierte viel und suchte häufig die Aufmerksamkeit der anderen. Während ich meine berufliche Karriere vorantrieb, verkörperte ich den Stereotyp der lauten, dominanten New Yorkerin, die ich ja auch tatsächlich war.
Dennoch hatte ich in meiner Jugend häufig Gelegenheit, andere Menschen still zu beobachten. Mein Vater Alvin Boretz war ein Autor, der Drehbücher für Film und Fernsehen verfasste, und häufig drehten sich unsere Gespräche beim Abendessen um andere Menschen, ihre Motive und ihr Verhalten. Da es bei der Arbeit meines Vaters darauf ankam, auch die feinsten Nuancen von Dialogen zu erspüren, waren die Bedeutungen von Gesprächen stets von großem Interesse für unsere Familie. Es war keineswegs ungewöhnlich, dass meine extrovertierte vierköpfige Familie bei Cairo’s, unserem Lieblingsitaliener, saß und den verschiedenen Gesprächen an den Nachbartischen zuhörte. Auf dem Heimweg unterhielten wir uns dann über Dialoge, die wir mitgehört hatten, und spekulierten über die Lebenswege und Beziehungen der anderen Restaurantgäste. Die introvertierten unter ihnen lieferten kaum verbale Hinweise, sodass wir uns einen Spaß daraus machten zu raten, was sich wohl gerade in ihrem Leben abspielen mochte. Jene stilleren, zurückhaltenden Familien, die so anders waren als unsere eigene, faszinierten mich ganz besonders. Wie war ihr Leben?
Ich startete meine berufliche Karriere und beobachtete auch weiterhin introvertierte Menschen, die mich nach wie vor faszinierten – jene Menschen, die manchmal in führenden Positionen große Schwierigkeiten hatten, obwohl sie all die Kraft, die sie brauchten, tief in ihrem Inneren hatten. Ich schrieb The Introverted Leader, um diesen begabten Menschen einen Leitfaden an die Hand zu geben, wie sie sich durchsetzen können, ohne sich selbst verleugnen zu müssen.
Während der Recherchen für jenes Buch und bei unzähligen Interaktionen seit seinem Erscheinen habe ich festgestellt, dass ich mich immer mehr zu den Lebensgeschichten und Erfahrungen von Introvertierten hingezogen fühle. Je mehr ich Introvertierten zuhöre, mit ihnen...