2. Unterschiedliche Problembereiche werden in der kognitiven Therapie durch spezifische kognitive Themen abgegrenzt
„Ein herausragendes Merkmal der breit gefächerten Anwendung der kognitiven Therapie war die Bedeutsamkeit der kognitiven Spezifität. Jede Störung hat ihre eigene, spezifische Konzeptualisierung[7] und ihre eigene Gruppe von relevanten Strategien, die unter den allgemeinen Prinzipien der kognitiven Therapie zusammengefasst sind.“
(Beck, 1991, S. 368)
Der Prozess der Identifikation spezifischer Problembereiche in der kognitiven Therapie begann eines Tages in den späten 1950er-Jahren, als Beck, der damals noch die Psychoanalyse praktizierte, sich anhörte, wie eine Klientin ihre sexuellen Erlebnisse schilderte (Beck, 1976). Die Klientin hatte dies zuvor getan, ohne aufgewühlt zu sein, aber nun zeigte sie plötzlich große Anzeichen von Leid und weinte. Aus orthodox-psychoanalytischer Sicht wäre das Leid die Folge des Zutagetretens vormals unterdrückter Gefühle oder Erinnerungen, jedoch enthüllte die Klientin keine neuen Informationen. Hierdurch neugierig geworden, begann Beck, sie hinsichtlich ihrer Erfahrungen zu befragen, wobei er herausfand, dass neben den Gedanken über die sexuellen Erlebnisse ein „zweiter Gedankenstrom“ bei seiner Klientin existierte, der Gedanken wie „Er wird schlecht von mir denken“ und „Ich langweile ihn“ beinhaltete. Später definierte Beck diese Arten von Gedanken als „negative automatische Gedanken“ (NAGs) und entdeckte, dass sie ein allgegenwärtiges Element in den Beschreibungen des inneren Prozesses beim Erleben psychischen Leids darstellten, die seine Klienten auf Nachfrage hin abgaben. Das Konzept eines zweiten Gedankenstroms ähnelt Albert Ellis’ Sichtweise, der zufolge oft „irrationale Sätze“ neben den „rationalen Sätzen“ der Klienten existieren (Ellis, 1962). In manchen Fällen können diese unterschiedlichen Gedankenströme das Resultat unterschiedlicher Verarbeitungssysteme sein, die bis zu einem gewissen Grad unabhängig voneinander arbeiten. Epstein (1998) beispielsweise bezieht sich auf die „rationalen“ und die „erlebnisbezogenen“ Verarbeitungssysteme, und Teasdale (1996) spricht von „propositionalen“ und „implikationalen“ Bedeutungssystemen. Die Existenz unterschiedlicher Verarbeitungssysteme kann uns dabei helfen, Konflikte zwischen „Kopf und Herz“ zu verstehen – etwa dann, wenn ein Klient sagt „Ich weiß, dass ich aufhören sollte, aber ich fühle, dass ich weitermachen muss.“
Während Beck ein immer breiteres Spektrum an NAGs identifizierte, bemerkte er bestimmte Themen, die je nach dem sich darstellenden Problembereich variierten. So berichteten beispielsweise depressive Klienten von NAGs mit den charakteristischen Themen Verlust (wie „Niemand schätzt mich mehr.“) und Niederlage („Ich war einfach nicht gut genug, um den Test zu bestehen.“). Ängstliche Klienten hingegen schilderten NAGs, die eine gedankliche Beschäftigung mit wahrgenommenen Gefahren oder Bedrohungen offenbarten („Ich werde davon überwältigt werden“ und „Damit werde ich nicht fertig“). Feindselige und zornige Klienten berichteten von Gedanken, die von einer Auseinandersetzung mit Grenzverletzungen und Ungerechtigkeiten zeugten. Die Grenzverletzungen konnten dabei sowohl in Tatsünden („Er hat mich wie Dreck behandelt“) als auch in Unterlassungssünden („Sie scheint zu vergessen, dass ich auch Bedürfnisse habe“) bestehen.
Der Leser wird hier die häufige Gegenwart interpersoneller Themen in diesen Gedanken bemerken (siehe Kapitel 17), er sollte jedoch bedenken, dass die Themen auch intrapersonaler Natur sein können, insbesondere im Hinblick auf Selbstkritik – etwa „Ich hasse mich dafür, dass ich so schwach bin“ und „Ich bin bloß ein Versager“. Allerdings ist auch in derartigen Gedanken ein implizites interpersonelles Thema erkennbar, da sie sich oft auf der Existenz anderer Menschen begründen, die „stark“ und „Gewinner“ sind und mit denen der Klient sich möglicherweise vergleicht.
Die Vorlage der „kognitiven Spezifität“ wurde von Beck und seiner Gruppe und später auch von anderen Autoren erweitert. Eine große Zahl von Forschungsbefunden verifizierte, dass kognitive Themen zwischen unterschiedlichen Gruppen von Klientenproblemen klar voneinander abgrenzbar sind (Clark & Steer, 1996). Dabei beinhaltet die Liste spezifischer Themen unter anderem die folgenden (siehe Tabelle 1.1):
Problembereich | Kognitives Thema | Forscher / Autoren |
Depressionen | Verlust, Niederlage | Beck et al. (1979b) |
Angststörungen | Gefahr, Bedrohung | Beck & Emery (1985) |
Panikstörung | Physische oder mentale Katastrophe | Clark (1996) |
Zwangsstörung | Übersteigertes Verantwortungsgefühl | Salkovskis (1991) |
Substanzmissbrauch | Permissive Überzeugungen | Beck et al. (1991) |
Essstörungen | Selbstkritik | Vitousek (1996) |
Soziale Phobie | Furcht vor Werturteilen anderer | Wells (1997) |
PTBS | Drohende Gefahr | Ehlers & Clark (2000) |
Tabelle 2.1: Spezifische, vom Problembereich abhängende Themen der Klienten
Diese einfache Tabelle wird der Reichhaltigkeit der „kognitiven Architektur“ dieser Problembereiche nicht gerecht, weshalb dem Leser an dieser Stelle nachdrücklich angeraten sei, hierfür die Schriften der zitierten Autoren zu lesen. Beschreibungen des Innenbereichs der Denkprozesse von Klienten mit diesen spezifischen Problemen stellen eine unglaublich wertvolle Fundgrube für Praktizierende dar, die deswegen keine Mühe scheuen sollten, um sich umfassend mit ihnen vertraut zu machen.
Die starke Betonung der Spezifität kognitiver Inhalte ist ein einzigartiges Merkmal von Becks kognitiver Therapie. Demgegenüber hat sich die Rational-Emotive Verhaltenstherapie (REVT) mehr auf generelle irrationale Überzeugungen konzentriert, auch wenn einige Autoren innerhalb dieser therapeutischen Tradition störungsspezifische Inhalte mit Bezug zu den Überzeugungen identifizierten (Dryden & Hill, 1992).
Clark und Steer (1996) argumentieren, dass die Hypothese der Spezifität kognitiver Inhalte eine entscheidende Position innerhalb der Theorie und Praxis der kognitiven Therapie einnimmt, da sie zentrale Elemente der therapeutischen Interventionen leitet. Studien haben zwar starke Korrelationen zwischen kognitiven Inhalten und Psychopathologie gezeigt, Bemühungen um die Prüfung kausaler Beziehungen waren jedoch von geringerem Erfolg gekrönt. Natürlich ist Kausalität ein komplexes Gebilde, und wie auch an anderer Stelle in diesem Buch noch ausgeführt werden wird, hat die Theorie der kognitiven Therapie sich in zunehmendem Maße ein „Diathese-Stress-Modell“ der Kausalität zu eigen gemacht. In diesem Modell wird davon ausgegangen, dass die Ätiologie beispielsweise von einer Depression viele Faktoren beinhaltet, kognitive wie nicht kognitive, und dass nicht alle dieser Faktoren in allen depressiven Klienten operieren. Die Themen der kognitiven Spezifität etwa werden in der Regel evidenter, je stärker die Symptome ausgeprägt sind.
Die Bedeutsamkeit der Hypothese kognitiver Spezifität im Kontext von Ansätzen zur Ätiologie besteht darin, dass sie Therapeuten hilfreiche Anhaltspunkte dafür liefern kann, wo es sich lohnt, nach Interventionspunkten Ausschau zu halten. Wells (1997) beispielsweise zeigt, dass Klienten mit sozialer Phobie spezifische Verzerrungen in der Verarbeitung aufweisen. Diese Verzerrungen spiegeln übermäßig selbstfokussierte Sorgen wider, die sich auf die Beurteilung der eigenen Person in sozialen und leistungsbezogenen Situationen durch andere Menschen beziehen. Sobald die soziale Phobie beim Klienten zutage tritt, kann der Therapeut mit der Frage, wie der Klient seine Wahrnehmung von anderen Menschen und von deren möglichen Reaktionen auf ihn verarbeitet, oft sehr fruchtbare Ergebnisse erzielen. Das Modell kognitiver Spezifität legt außerdem nahe, dass die Unterstützung sozial phobischer Klienten bei der Überprüfung ihrer...