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Kommunikologie weiter denken

Die Bochumer Vorlesungen

AutorVilém Flusser
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783104010304
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Anlässlich seiner ersten Gastprofessur in Deutschland im Jahr 1991 wollte Vilém Flusser seine Kulturkritik im Angesicht der neuen Medien noch einmal grundlegend durchdenken. Eine Neufassung seines Hauptwerks, der Lehre von der menschlichen Kommunikation, sollte daraus hervorgehen. Es musste bei den Vorlesungen bleiben. Wenige Monate später starb er bei einem Verkehrsunfall. Im Vilém-Flusser-Archiv sind die Bochumer Vorlesungen zu einem konzentrierten Text redigiert worden. Er ist das kommunikologische Vermächtnis des Prager Kulturphilosophen.

Vilém Flusser, geboren 1920, gestorben 1991, emigrierte 1939 über London nach Sao Paulo. 1959 wurde er Dozent für Wissenschaftsphilosophie, 1963 Professor für Kommunikationsphilosophie an der Universität Sao Paulo. Im Fischer Taschenbuchverlag sind erschienen »Kommunikologie« (978-3-596-13389-5) sowie »Medienkultur« (978-3-596-13386-4).

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Mythisch: Orale Kultur


Als der Mensch auf der Szene erschien, sagen wir, um der Geschichte einen Punkt und ein Datum zu geben, im Quellgebiet des blauen Nils vor zwei Millionen Jahren, als er begann, erworbene Informationen zu speichern, hatte er im Grunde genommen nur zwei Methoden. Erstens: Der Mensch hat Organe, die ihm erlauben, Luftschwingungen zu Phonemen zu verarbeiten. Er hat Stimmbänder, Lippen, Zunge, Zähne und die dazugehörenden, sie dirigierenden Nervenorganisationen, um Töne auszustoßen, die Phänomene vertreten, Symbole. Er kann zum Beispiel einen Ton ausstoßen, der Gefahr bedeutet. Das ist ihm genetisch vorgeschrieben. Er hat das mit vielen anderen Wirbeltieren, insbesondere in großen Details mit den Schimpansen, gemeinsam. Die Fähigkeit zum Sprechen ist vererbt, aber es ist eine erworbene Information, wie Luftwellen zu Phonemen verarbeitet werden. Jede Sprache muss immer wieder neu erworben werden. Es gibt keine natürliche Sprache. Goethe war sich nicht bewusst, wie radikal sein berühmter Satz ist: »Was Du ererbt von Deinen Vätern hast, erwirb es, um es zu besitzen.«[1] [Kulturkritik I 1a05] So können Bestialität und Zivilisation sehr gut unterschieden werden: Eine Ideologie ist desto bestialischer, je mehr sie auf ererbte, und desto weniger bestialisch, je mehr sie auf erworbene Informationen pocht. Für Menschen sind erworbene Informationen unverhältnismäßig entscheidender als ererbte.

Der kolossale Vorteil der Kommunikationsmethode, die Phoneme erzeugt und sie an einen Empfänger ausrichtet, ist, dass sie stark genetisch unterbaut ist. Zwar ist keine Sprache natürlich, aber Sprechen ist doing what comes naturally. Ein Nachteil der sogenannten oralen Kultur ist, dass während der Transmission Geräusche eindringen und infolgedessen schon bei der Transmission ein Großteil der Information verloren geht. Der zweite Nachteil ist, dass der Speicher das Zentralnervensystem des Anderen ist. Zwar wird, wie bei jeder Kommunikation, etwas Privates veröffentlicht. Jede Kommunikation ist politisches Engagement senso stricto. Sie publiziert etwas Privates. Aber gespeichert wird diese publizierte Information in einem Privatraum.

Magisch: Materielle Kultur


Angenommen, nachdem wir von den Bäumen heruntergekommen sind, können wir uns nicht mehr von Nüssen und Beeren und Eiern ernähren, sondern in der Savanne sind wir gezwungen, Eingeweide von großen Grasessern zu essen. Da wir kein Feuer haben, müssen wir den Tieren, sobald sie verendet sind, den Bauch aufreißen, hineinkriechen und die Nieren, Mägen und Herzen noch warm essen. Diese Fähigkeit, Bäuche zu zerreißen, haben wir aber nicht. Unsere Nägel sind nicht eigentlich Reißnägel, unser Gebiss ist nicht zum Zerreißen von Fleisch gemacht. Sehr bald beginnt man also die Information »Wie reiße ich?« zu erwerben. Mein Freund Baudrillard würde sagen: Ich simuliere den Reißzahn. Ich nehme zum Beispiel einen spitzen Stein und benutze ihn als Messer. Dieses Messer ist ein Gedächtnis. In diesem Stein bewahre ich die Information schneiden oder reißen auf. Wer diesen Stein nach mir in die Hand nimmt, kann diese Information aus dem Stein abrufen. Die Information ist im Stein zugleich publiziert, nämlich intersubjektiviert, und festgehalten. Diese diskursive Geste ist strukturell vergleichbar mit dem Fernsehen, dem Radio oder der Zeitung. Die Summe dieser Gedächtnisstützen heißt materielle Kultur. Gegenüber der oralen Kultur hat sie den Vorteil, dass die Informationen außerordentlich lang aufbewahrt werden können. Aus den Faustkeilen können Sie die Information nach einer Million Jahren noch immer ziemlich gut abrufen.

Historisch: Schriftkultur


[Kulturkritik I 1b01] Es ist gelungen, die Vorteile der oralen und der materiellen Kultur zu verbinden und die Nachteile beider zu minimieren. Es ist nämlich gelungen, Phoneme zu visualisieren. Man kann Zeichen machen, dank deren man Töne aus dem Visuellen abrufen kann. Diese Zeichen heißen Buchstaben. Und man kann sich das Eingraben der Buchstaben dadurch bequem machen, dass man die Buchstaben in weichen Lehm hineinritzt, daher das Wort to write, ritzen, obwohl es ja ein Graben ist, daher das Wort Grafie. Danach kann man diesen Lehm härten. Alle Vorteile der oralen und alle Vorteile der materiellen Kultur können dank der Erfindung des Alphabets herumgereicht werden. Damit entsteht eine neue Gedächtnisstütze, nennen wir sie einmal Bibliothek. Die Bibliothek ist ein Ort, der zugleich materiell und oral ist. Es entsteht eine synthetische Kultur, die wir die literarische oder historische nennen können. Die Bibliothek ist während mindestens tausendfünfhundert Jahren die Gedächtnisstütze par excellence.

Das Phänomen der Kommunikation birgt eine innere Dialektik. Im Fall der Bibliothek wird das deutlich. Ursprünglich meint Bibliothek einen Ort, wo ich erworbene Information hineintrage. Dort lagere ich erworbene Informationen ab, die dann prozessiert werden können. Es kann Bibliothekare geben. Dann kommen die Künftigen, rufen die Information ab, tragen sie nach Hause, bearbeiten sie und liefern sie wieder in der Bibliothek ab. Die Bibliothek funktioniert als Zentralstelle der Kultur, als Zentralstelle jenes Engagements gegen den Tod, von dem wir gesprochen haben. Aber sehr bald schlägt die Funktion der Bibliothek um. Anstatt als Stütze des Gedächtnisses zu dienen, wird sie zum Lebenszweck der Kultur. Zwei Beispiele:

Wenn Sie sich die platonische Philosophie überlegen, so sieht die Sache kurz gesagt so aus: Wir sind vom Himmel gefallene Wesen. Beim Sturz aus dem Himmel in die Welt der Erscheinungen haben wir den Fluss des Vergessens durchquert, dessen Fluten zwar alle Informationen des Himmels in uns zugedeckt, aber nicht ausgelöscht haben. Lethe, vergessen, heißt decken. Unsere Aufgabe ist es, uns wieder an die Informationen, die wir im Himmel, im τόπος oὐρανός (topos ouranßs), ersehen haben, zu erinnern. Lernen ist nichts anderes als wiederentdecken, Vergessenes zurückrufen. Bedenken Sie, die Bibliothek ist kein Ort mehr, in den ich erworbene Informationen hineintrage, sondern jetzt schwebt die Bibliothek über uns im Himmel. Dort stehen die ewigen Informationen in logischer Ordnung, und die Aufgabe des Lebens ist, den Weg in diese himmlische Bibliothek wiederzufinden.

Die zweite, noch gewaltigere Umkehrung der Funktion der Bibliothek ist die jüdische. Danach steht über uns die Schrift, und hinter der Schrift steht das ganz Andere. Der Zweck der Schrift, der Lehre, der Zweck der Thora ist, dass wir im Anderen das ganz Andere wiedererkennen, oder besser, dass wir im Antlitz des Nächsten die Gottheit ersehen. Umgekehrt gesagt: Ich darf mir keine Bilder machen, weil es nur ein einziges gültiges Bild gibt. Dieses Bild ist das Antlitz des Nächsten. Dank dem ...

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